Helene Hanff: 84, Charing Cross Road

1970 gibt die bibliophile Amerikanerin Helene Hanff ihren Briefwechsel mit einem Londoner Antiquar als Buch heraus. Und landet damit einen weltweiten Erfolg.

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„AUFGEPASST!
Ich will IHNEN, Frank Doel, nur eines sagen: Wir leben in verkommenen, zerstörerischen und degenerierten Zeiten, wenn eine Buchhandlung - eine BUCHHANDLUNG - damit anfängt, schöne alte Bücher auseinander zu reißen, um sie als Einpackpapier zu verwenden. Ich sagte zu John Henry, als er ausgewickelt war: `Hätten Sie das für möglich gehalten, Eminenz?´, und er verneinte. Sie haben das Buch mitten in einer großen Schlachtszene auseinander gerissen, und ich weiß nicht einmal, um welchen Krieg es sich handelt.“
15. Oktober 1950

„DAS NENNEN SIE PEPYS´ TAGEBUCH?
Das ist nicht Pepys´ Tagebuch, das ist die elende Zusammenstellung von EXZERPTEN aus Pepys´ Tagebuch, herausgegeben von irgendeinem übereifrigen Kerl, der in der Hölle verfaulen möge! Ich könnte ausspucken davor! Wo ist der 12. Januar 1668, als ihn seine Frau aus dem Bett jagt und mit einem glühend heißen Feuerhaken quer durchs Schlafzimmer verfolgt?“ „
15. Oktober 1951

Helene Hanff, „84, Charing Cross Road“, btb Taschenbuch, 160 Seiten, 7,99 Euro

Holla, die Waldfee. Die Dame pflegt eine deutliche Sprache. Aber sie ist eben auch Amerikanerin, genauer noch: wohnhaft in New York. Neue Welt trifft alte Welt - der so angesprochene (beziehungsweise „angeschriebene“) Londoner Buchhändler Frank Doel reagiert auf die direkte Art seiner neuen Kundin zunächst noch mit gebotener britischer Zurückhaltung und Kühle. Doch langsam taut er auf und wird von „Geschäftsbrief“ zu „Geschäftsbrief“ zutraulicher - wer kann dem herben Charme von Helene Hanff schon widerstehen? Auch dem Leser dieses Buches wird das kaum gelingen: Helene Hanff wickelt zwar nicht gerne Bücher aus den Seiten anderer Bücher aus, dafür umso besser Menschen um den kleinen Finger. Mit viel Humor, zuweilen spitzer Feder und spitzer Zunge, und vor allem mit viel Anteilnahme lockt sie den Antiquar aus der Reserve.

So wird aus einer Fachkorrespondenz über den Atlantik und zwei Jahrzehnte hinweg eine intensive Brieffreundschaft. Helene Hanff nimmt erstmals 1949 zu der Londoner Buchhandlung in der Charing Cross Road Kontakt auf. Als begeisterte Leserin schwer aufzutreibender Bücher - so möglichst die vollständigen Ausgaben von Johne Donnes Predigten, Pepys´ Tagebücher oder Kenneth Grahams „Wind in den Weiden“, natürlich mit den Illustrationen von Shepard - stößt sie auf das Antiquariat MARKS & Co. Helene Hanff hält sich nicht lange beim Austausch bibliomanischer Gepflogenheiten auf, der Ton ihrer Briefe wird schnell persönlicher. Und vor allem zeigt sie ihre zupackende, pragmatische (amerikanische) Seite. Obwohl selbst nicht materiell verwöhnt, beginnt sie damit, den unter den Lebensmittelrationierungen darbenden Briten Lebensmittelpakete via Dänemark zu senden. Frische Eier, Eipulver, Schinken und - nicht zum Essen - Nylonstrümpfe. Im Gegenzug gibt es schriftliche Einladungen nach London noch und noch (so zur Thronbesteigung durch Lizzie), handgestickte Tischdecken und ein Rezept für Yorkshire Pudding.

Ein persönliches Treffen mit Frank Doel kommt jedoch nie zustande - der Buchhändler stirbt unerwartet und plötzlich 1969 nach einem Blinddarmdurchbruch. Anrührend einer der letzten Briefe in diesem Buch. Doels Ehefrau Nora schreibt an die Unbekannte über dem großen Teich:

„Ich wünschte nur, Sie wären Frank begegnet und hätten ihn persönlich kennen gelernt. Er war die ausgeglichenste Person mit einem wunderbaren Sinn für Humor und solch ein bescheidener Mensch, wie ich jetzt begreife, da ich von überall her Briefe bekommen habe, die ihm Hochachtung bezeugen. (…)
Manchmal, ich kann es Ihnen ja sagen, war ich ganz eifersüchtig auf Sie, da Frank Ihre Briefe so mochte, die, beziehungsweise einige davon, seinem Sinn für Humor so entsprachen. Ich habe Sie auch um Ihr Schreibtalent beneidet. Frank und ich waren sehr gegensätzlich, er so freundlich und sanft und ich dagegen, die ich mit meinem irischen Hintergrund immer für meine Rechte kämpfte. Er fehlt mir so.“
Januar 1969

1970 gibt Helene Hanff, die selbst als Autorin ihr Dasein mit dem Schreiben von Dreh- und Lehrbüchern fristet, diesen Briefwechsel als Buch heraus. Und landet damit einen weltweiten Erfolg. Das Kultbuch wird mit Anne Bancroft und Anthony Hopkins verfilmt. Und Helene Hanff gelangt endlich in ihr erträumtes London.

Der Briefwechsel selbst ist höchst amüsant, anrührend und eine kleine Zeitreise - vor allem die Briefe aus London (zeitweise schreibt offensichtlich jedes Mitglied der Buchhandlung sowie von Doels Familie an die Amerikanerin) erzählen von den existenziellen Engpässen der Nachkriegszeit. Und von der Liebe zur Literatur und antiquarischen Büchern. Goldschnitte und Lederbände konkurrieren mit Schinken und Nylonstrümpfen - jeder Brief, jedes Päckchen bringt einen Lichtblick.

Aprospos Lichtblick in Päckchen: Dieses „Kultbuch für alle Vielleser“ (so der Verlagstext) lag einem Päckchen meiner Ping-Pong-Brieffreundin bei. Briefeschreiben hat schon was…

31 comments on “Helene Hanff: 84, Charing Cross Road”

      1. Ich auch! Begeistert vom Buch war ich total überrascht den Film bei Netflix zu finden - mit einer bezaubernden Anne Bancroft & wie immer großartigem Anthony Hopkins. Ausnahmsweise ein Film, der einem Buch gerecht wird. Viel Spaß.

  1. Danke, Birgit. Ich habe deinen Beitrag in der U- Bahn auf meinem Handy gelesen und werde gleich in der Buchhandlung ein Exemplar kaufen gehen. Es hört sich so gut und auch entspannend an, dass ich begierig bin, es zu lesen. Zur Zeit lese ich den Briefwechsel zwischen Gretel Adorno und Walter Benjamin. Auch sehr empfehlenswert.
    Einen schönen Tag von Susanne

  2. Bin heute in den Schwanhäuser gestolpert, meine most favourite Buchhandlung hier in Freiburg.
    Mir stand gewissermaßen der „Helene Hanff“ Schaum vor dem Mund. Doch musste ich erst bestellen. Ich hasse Bestellungen. Nach Hause eilen, unterm Arm die gesegnete Fracht der Buchlust, das ist es, was mich berauscht. Und jetzt sitze ich hier und es ist Wochenende und der Feiertag darauf, dieses vermaledeite Pfingsten, und ich warte auf Helene wie auf einen Paradiesapfel.

    1. Oje…Warten müssen erhöht natürlich noch die Erwartung - und dann kann es leicht zu einer Enttäuschung kommen. Ich hoffe, die Helene Hanff hält jedoch, was versprochen ward: Zumindest eine gute, unterhaltsame Lektüre zu sein! Trotzdem: Frohe Pfingsten!

  3. Nun habe ich die Briefe aus New York gehört. Das Hörbuch gab es gerade bei uns in der Bücherei und mir hat es sehr gut gefallen! Amüsante Unterhaltung. Danke für den Tip, Birgit!

    1. Liebe Susanne,
      das freut mich sehr, dass Dir das gefallen hat. Ich selbst bin zwar keine Hörbücherhörerin (ich schlafe IMMER dabei ein 🙂 ), aber das kann ich mir gut vorstellen, wenn es von einer Frau und einem Mann gesprochen wird!
      Liebe Grüße, Birgit

  4. Ich habe dieses Buch nun auch für mich entdeckt und weiß genau, wovon du in deiner wundervollen Rezension schreibst. Ich liebe es und könnte es direkt schon wieder lesen, dabei habe ich es eben erst beendet. =)

  5. Das Buch ist eine unglaubliche Wucht. Weit mehr als „nett“ - jedenfalls für mich. Denn es zeigt, wie man auch mit wenig Geld die Welt erobern kann. Oder, wie man auch mit wenig Geld andere glücklich machen kann. Oder, wie man mit wenig Geld eine Königin sein kann.

  6. „Holla, die Waldfee“ - das habe ich auch schon ein paar Tage nicht mehr gelesen - schön! Und wie schön es ist, unerwartete Buchgeschenke zu bekommen, kann ich auch nicht oft genug sagen 😉 Sehr herzliche Grüße und einen schönen Sonntag!

  7. Ha, bin gerade von Facebook über Deinen Link hier bei Helene Hanff gelandet. Ist ja schon eine Weile her, dass Du es gelesen hast. Mein absolutes Lieblingsbuch, seit vielen Jahren.
    Hast Du den Film mittlerweile gesehen? Einfach nur toll.

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