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Bill Clegg: Neunzig Tage (2012).

Berlin„Neunzig Tage ist haarsträubend ehrlich, ein Drahtseilakt auf Messers Schneide, eine Balance zwischen dem Wunsch nach Sucht und dem nach einem neuen Leben, doch das eigentliche ist die tiefe Emotionalität, die den Leser so berührt, mitreißt, die einen so nah ran kommen lässt, mitten ins Geschehen. (…)
Bill Clegg erzählt brutal ehrlich, voll literarischer Sensibilität und erschütternd authentisch eine wahre Geschichte. Seine Geschichte.“

Bill Clegg, „Neunzig Tage. Eine Rückkehr ins Leben“, S. Fischer Verlag.
Link zur Verlagsseite:
http://www.fischerverlage.de/buch/neunzig_tage_eine_rueckkehr_ins_leben/9783100109491

Ausnahmsweise zu Beginn einmal kein Zitat aus dem Buch, sondern aus dem dazugehörigen Klappentext. Weil das Mitreißendste an diesem Buch für mich diesmal der Klappentext war. Brutal ehrlich übertrieben. Da hat sich jemand wirklich ins Zeug gelegt.

Gut, Klappentexte sind Reklame, müssen werberisch und marktschreiend daherkommen. Keiner wird ein Buch anpreisen mit den Worten: „Dies ist die wahre Geschichte eines Mannes, der nach Crack und Alkohol süchtig war, alles verloren hat - Beziehung, Freunde, Job, Wohnung - sich berrappeln muss, eine neue Existenz aufbauen muss, zunächst ein mitreißendes Buch über seinen Weg in die Sucht schreibt, als Literaturagent weiß, wie sich das verkaufen lässt, und dann offenbar - vielleicht auch als Therapie - ein zweites Buch über den harten Weg des Entzugs nachlegt, das nun aber eher flüchtig geschrieben erscheint, in dem wenig reflektiert wird, das eher eine Aneinanderreihung von Begegnungen und Ereignissen ist, das letztendlich eine Beschreibung einer Lebensphase, wenn auch einer sehr harten, von einigen Monaten ist, das aber auf den Leser eben weder erschütternd, noch emotional, literarisch sensibel oder gar tief berührend wirkt, außer er hat vorher noch nichts zum Thema gelesen.“ Das wäre freilich kontraproduktiv. Dennoch - zwischen dem Erstling „Portrait eines Süchtigen als junger Mann“ und dem jetzt in Deutsch vorliegenden Nachfolger „Neunzig Tage“ sowie dem dazugehörigen Klappentext klaffen Welten. Finde ich.

Das ist so ein wenig die Crux mit Bekenntnis- und Aufarbeitungsliteratur. Es gibt eine Flut davon. Beim überwiegenden Anteil denkt man sich: Wenn es der Autorin, dem Autoren gut tat, das Buch zu schreiben, dann hat es einen Zweck erfüllt. Aber nicht alles davon - oder besser: wenig davon - ist wirklich großartige Literatur. Aus der Masse der bekennenden autobiographischen Aufzeichnungen ragen selten wirklich auch literarisch anspruchsvolle Bücher heraus. Noch seltener sehr gute.

„Neunzig Tage“ gehört nicht dazu. Freilich: Es ist lesbar. Routiniert geschrieben. Man merkt Bill Clegg an, dass er die Literaturszene kennt, dass das Schreiben und die Literatur zu seinem Alltag gehörte - vor dem Absturz und inzwischen hoffentlich wieder. Doch die knapp 200 Seiten, die er mit dem anstrengenden Weg nach der Entzugsklinik füllt, indem er beschreibt, wie er sich so etwas wie einen Alltag wieder erkämpft, ließen mich eigenartig unberührt zurück. Mein erster Gedanke nach der Lektüre: Irgendetwas fehlt.

Clegg schildert, wie er nach der Klinik zunächst im Arbeitsstudio eines Freundes unterkommt, sich eine eigene Wohnung besorgt, einen „Paten“ zugesprochen erhält, zu Selbsthilfegruppen geht, dort Leute kennenlernt, die - wie er - jeweils gegen den nächsten Rückfall kämpfen, wie er selbst mehrfach von der Sucht wieder eingeholt wird und dann wieder aufsteht, bis er letztlich sagen kann: „Neunzig Tage“. Diese neunzig Tage sind die magische Zahl, die es ohne Drogen und Alkohol zu überstehen gilt, um aus „dem Gröbsten“ heraus zu kommen. Wie er sich letztlich zu diesen neunzig Tagen durchkämpft, ist jedoch mehr eine Aneinanderreihung von äußerlichen Erlebnissen - er erzählt von Begegnungen mit Freunden, die ihm das Vertrauen nicht entzogen, vom Vermeiden von „Triggerzonen“, von Verkauf des Familiensilbers, um seine Miete bezahlen zu können - und wie ein Teil des Geldes prompt in der Crackpfeife aufgeht, ein brutaler Rückfall erfolgt. Er erzählt vom Fallen und Wiederaufstehen, von der Freundschaft zu einer Abhängigen, die fast zu Tode kommt, von Freunden, die vom Tod gezeichnet sind und anderen, die es, wie er, schließlich schaffen. Man könnte auch sagen: Er berichtet von dramatischen Ereignissen beinahe so distanziert, als würde er in der Rückschau die Person betrachten, die er einmal war - und dabei gleichzeitig auf Abstand halten, weil diese Person ihn zu sehr verletzte. Statt tiefer Emotionalität - wie im Klappentext beschrieben - eher eine distanzierte Außenschau, der Leser dabei selbst beinah wie ein Voyeur.

Bei all den äußerlichen Beschreibungen bleibt die innere Reflexion zurück. Aber vielleicht ist dies so, wenn man gegen den Dämon Sucht ankämpfen muss: Dass man anfangs zunächst nur zusehen kann, dass man überhaupt über-lebt. Dass da wenig Raum bleibt, um zu reflektieren - sondern nur Raum, um Tag für Tag zu schaffen. Neunzig Tage.

Was letzten Endes für Bill Clegg der Schlüssel war, um seinen Weg zurück ins Leben zu finden, auch das bleibt im Ungefähren. Hier jedoch mit einer Begründung an seine Leser:

„Für einen Monat war ich auf einer Insel, wo es keinen Treffpunkt für heilungswillige Alkoholiker und Süchtige gab. Wenn man aus dem Schmerz lernt, dann war die schmerzliche Lektion des Inselaufenthalts, dass ich auf diese Treffen, auf die Süchtigen und Alkoholiker angewiesen bin. Ich brauche sie wie Sauerstoff. Ganz gleich, wie wohl, wie clean, wie obenauf ich mich fühle. Es gibt viele Heilungsprogramme. Kostenpflichtig, unentgeltlich, anonym und nicht anonym. Ich sage hier nicht, an welchem ich teilnehme, weil ich nicht möchte, dass das Programm für irgendetwas, was ich sage, tue oder schreibe, verantwortlich gemacht wird. Nichts soll Sie daran hindern, es zu finden, wenn es Ihnen helfen kann. Alkoholiker und Süchtige legen sich schon genug Steine in den Weg zu ihrer Besserung, da möchte ich keine hinzufügen.“

Insofern ist „Neunzig Tage“ keine Empfehlung, die ich Lesern weitergeben würde, die hoffen, auf ein sensationell geschriebenes Buch zu stoßen. Wer neuere Literatur zur Thematik sucht, die zudem sprachlich herausragend ist, dem sei dagegen noch einmal Schluckspecht ans Herz gelegt.

16 Comments »

  1. Über deinen Anti-Klappentext musste ich sehr schmunzeln. Könnte man so oder so ähnlich wirklich über einige autobiografische “Literatur” schreiben. Oder: Nicht immer schreibt das Leben die besten Geschichten, man muss ihm schon ein bisschen beim Formulieren helfen. ;-)

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  2. Liebe Birgit,

    es ist das zweite Buch gewesen, das ich von Bill Clegg gelesen habe und sein erstes hat mir eindeutig besser gefallen. Aber auch in diesem habe ich vieles wiedergefunden, was immer noch in mir nachhallt. Diese Irrationalität der Sucht, die dich völlig im Griff hat - die ist bei mir vor allen Dingen hängen geblieben.

    Ich habe vor kurzem gelesen, dass Bill Clegg einen Roman geschrieben hat, den werde ich sicherlich auch lesen, sollte er denn irgendwann auf Deutsch erscheinen.

    Liebe Grüße
    Mara

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    • Liebe Mara,
      die Irrationalität kommt schon raus - aber ich fand das Buch dennoch literarisch etwas zu dünn. Wenn es darum geht, den Wahnsinn der Sucht in Worte zu fassen, dann waren da andere - insbesondere einige Vertreter der Beatgeneration - sprachlich experimenteller.

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      • Ich bin dann noch beim Schluckspecht gelandet und den hat die Bibliothek vorrätig. Erst mal der Schluckspecht , dein Blog hat für mich eindeutig Suchtpotential aucch Lise Meitner wartet schon. LG Xeniana

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      • Danke…ein nettes Kompliment .-) Mit der Büchersucht treibe ich gerne Ansteckung - zumal ich vom Schluckspecht absolut begeistert war, sprachlich, von der Ausdruckskraft her, aber auch von der Wucht dieser Persönlichkeit!

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  3. Das Buch habe ich gestern in einem Rutsch durchgelesen. Ich kenne das erste Buch von Clegg ja nicht, schließe mich aber deiner Rezension an.
    Schade fand ich, dass der Roman so im Äußeren bleibt, bis auf die Beschreibung des Suchtdrucks.

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