Von Angesicht zu Angesicht - Faces und Gezeichnete

„Die unterhaltendste Fläche auf der Erde für uns ist die vom menschlichen Gesicht.“

Georg Christoph Lichtenberg

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Der große Aphoristiker Lichtenberg gibt mit diesem Satz den Leitfaden für ein Buch, das nicht nur kunst- und kulturhistorisch Interessierte interessieren könnte: Hans Belting hat mit „Faces – Eine Geschichte des Gesichts“ (C. H. Beck) eine Studie vorgelegt, die das Gesicht in allen seinen Zügen berücksichtigt.

Silke Janssen vom Städel Museum äußerte sich begeistert über „Faces“: „Das menschliche Gesicht steht im Mittelpunk, nicht nur in Hans Beltings Werk: Als individuelles Merkmal gilt es als Ausdruck des Selbst, gleichzeitig dient das Gesicht im öffentlichen Raum zur Darstellung und Repräsentation sozialer Rollen. So schreibt Belting gleich zu Beginn in seiner Einleitung „das Gesicht ist der gesellschaftliche Teil von uns, der Körper die Natur“. Der Autor forscht auf diese Weise in seiner Publikation immer auch nach dem historischen Kontext, in dem ein Gesicht abgebildet wurde. Sei es in Form einer kultischen Maske, das europäische Porträt, ein auf der Leinwand gezeigtes Gesicht eines Ingmar Bergmann-Films oder Andy Warhols Mao-Porträt: Stets wird das Gesicht zum Schauplatz der Geschichte. 
Hans Belting, der von 2004 bis 2007 das Internationale Forschungszentrum für Kulturwissenschaften in Wien leitete, untersuchte bereits in seinem 1990 herausgegebenen Werk „Bild und Kult“ die mittelalterliche Bildverehrung aus sozialgeschichtlicher Perspektive. 2001 schrieb er in dem Buch „Bild-Anthropologie“ über die kulturgeschichtlichen Ursprünge des Bildmachens. Und so wird auch in „Faces“ die Erkundung der Bilder, die die Menschen im Laufe der Jahrhunderte von sich machten, zu einer Erkundung der Kulturgeschichte. Diese Analyse scheint an der einen oder anderen Stelle mit vielschichtigen Referenzen den inhaltlichen Rahmen zu sprengen, doch genau dieser Versuch, allgemein Menschliches mittels der großen thematischen Spannbreite zu fassen, macht dieses Werk zu einer anregenden Lektüre. Dank profunder Kenntnisse, wunderbar ausgewählten Abbildungen und aufschlussreichen wie überraschenden Querverbindungen ist „Faces“ nicht nur ein gelungener Beitrag für die Bild-, Medien- und Kunstwissenschaften sondern auch eine kluge Erzählung, die spannend und inspirierend zugleich ist.“ Stimmt.

Eine großartige, eingehende Besprechung dazu gibt es bei Glanz & Elend: http://www.glanzundelend.de/Artikel/abc/b/hans-belting-faces-eine-geschichte-des-gesichts-palm.htm

Mir ist beim Lesen immer wieder auch August Sander (1876 bis 1964) in den Sinn gekommen. Sander machte mit seinem Bildatlas „Menschen des 20. Jahrhunderts“ Furore.

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Kurt Tucholsky alias Peter Panter schrieb am 25. März 1930 in der Weltbühne: „Das kann man in einem der schönsten und merkwürdigsten Werke ersehen, die mir je untergekommen sind. August Sander, ›Antlitz der Zeit‹ (erschienen im Transmare-Verlag, Kurt Wolff, München). Hier ist die fotografierte Kulturgeschichte unseres Landes.
Sander hat keine Menschen, sondern Typen fotografiert, Menschen, die so sehr ihre Klasse, ihren Stand, ihre Kaste repräsentieren, dass das Individuum für die Gruppe genommen werden darf. Döblin weist in der Einleitung sehr treffend darauf hin, wie der Tod und die Gesellschaft die Gesichter verflachen; wie sie einander angeähnelt werden, immer mehr, immer mehr … wie schwer es ist, noch ein Bauernmädchen von einer Proletarierfrau zu unterscheiden. Was Sander da gegeben hat, ist allerbeste Arbeit.

Das Werk enthält sechzig Fotos, eine Auswahl aus dem Lebenswerk des Fotografen, das in fünfundvierzig Mappen zu je zwölf Bildern erscheinen soll. (Wer Näheres wissen will, schreibe unverbindlich an den Transmare-Verlag, München, Luisenstraße 31.) Fast auf allen Bildern erscheint der Typus; so sehr haben Stand, Beruf, Wohnort, Klasse und Kaste den Menschen imprägniert und durchtränkt. Mancher von uns wird manchmal eine Spur anders empfinden: der Herr Wachtmeister muss nicht immer so einen martialischen Schnurrbart tragen, das ist der puffende Wachtmeister, nicht der schießende Wachtmeister; Poelzig ist nicht ›der Architekt‹, sondern ein einmaliges Original … aber das sind nur kleine, winzige Nebenempfindungen. Auf den sechzig Seiten ist nur ein einziges Mal die Grenze der Objektivität überschritten: das ist auf dem Bilde des Demokraten, der seinen Regenschirm aufgepflanzt hat. Ich habe sehr gelacht, und treffen tut’s auch, aber das ist zu deutlich. Der Satiriker darf dergleichen, und wenn noch so viel auf die Hühneraugen Getretene darüber schreien – der Sittenschilderer darf es nicht. Und in diesem Werk kann Grosz sehen, wie die Bankiers und die Industriellen aussehen: er hat in diesem Bande zum Beispiel gleich zwei Typen: den Viereckigen und den Schmalen, beides Prachtexemplare ihrer Gattung, völlig rein im Gattungsbegriff, die Gesichter durch ihren Beruf zu Ende ausgebildet. Und selbstverständlich durch Karikatur angreifbar und wert, angegriffen zu werden. Es ist ein ganz herrliches Buch – schade, dass es nicht achtzehnfach so dick ist.

Jetzt ist der Nachttisch leer; in der Ecke steht ein Waschkorb mit Büchern und sieht mich vorwurfsvoll an. Schon elf Uhr … Draußen glitzert das Dorf. In einem Zellenkäfig, drüben, hinter der italienischen Grenze, liegt ein Mann und betet ein stilles Gebet für die Gesundheit und das Wohlergehen Mussolinis.“

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1930 erschien im Malik Verlag ein Buch mit 60 Blättern aus dem Schaffen von George Grosz (1893 bis 1959). Der Maler und Karikaturist war einer der wichtigsten Vertretern des Dadaismus und der politischen Kunst der Weimarer Republik. „Ich zeichnete und malte aus Widerspruch und versuchte, durch meine Arbeit die Welt davon zu überzeugen, dass sie hässlich, krank und verlogen ist.“ Den Tanz auf dem Vulkan mit seinen Ausschweifungen und den dunklen Seiten – keiner hielt das so gekonnt ironisch im Bild fest wie Grosz. Das eigentliche Gesicht seiner Zeit: Er zeigte es.

Auch diese Bücher mit Gesicht besprach der großartige Tucholsky:

„Auch dies ist etwas für die Arbeiterbibliotheken: ›Die Gezeichneten‹ und ›Das neue Gesicht der herrschenden Klasse‹ (beide im Malik-Verlag zu Berlin erschienen). Die Bände sind auch in der Reproduktion eine Meisterleistung.

Ich habe sie schon so oft durchblättert – ich kann mich gar nicht sattsehen. Dieses Thema ist zu Ende gezeichnet. Der wundervolle Hohn auf den infamen Rilke-Vers: »Armut ist ein großer Glanz von innen« (ich weiß schon: er hat es anders ›gemeint‹ … Haben Sie schon mal in einer Dachkammer gefroren?); dieses infernalische Blatt ›Zwei Menschen‹, das zweite: man decke den Unterteil ab und sehe sich nur den Mörder an, der sich die Hände wäscht; die Modekarikatur ›Größere und bessere Morde‹, und wie dieser Mann zeichnen kann! So eine Zeichnung wie ›Kleiner Mann‹, an der nichts karikiert ist; das frühe Blatt ›Menschenwege‹ (1915), in dem schon der ganze Grosz enthalten ist; das bittere Idyll ›Witwer‹; dann die beiden Porträts Noskes und Eberts: ›Ein treuer Knecht‹ und ›Ein Sohn des Volkes‹ – die sagen mehr als alle Broschüren und Revolutionsgeschichten über diese beiden. Auch dies ist Deutschland.

Eine kleine Anmerkung sei erlaubt. Es gibt einen Typus, einen einzigen, den Grosz für mein Gefühl nicht so wiedergibt, nicht so ausdeutet, wie er wirklich ist. Das sind der Industrielle und der Bankier. Hier stimmt etwas nicht. Den preußischen Militarismus hat er auf den Blättern ›Die Gesundbeter‹ und ›Alles kehrt einmal wieder‹ derart hergenommen … da ist keine uniformierte Nummer, die hier nicht zu sehen wäre – es sind alle, alle da. Und wie sind sie da –! Aber wenn er die großen Kaufleute porträtiert, dann ist da etwas nicht in Ordnung. Manchmal glückts. Der Mann, der auf dem Blatt ›Besitzkröten‹ im Vordergrund seine Zijarre raucht, ist richtig; der junge Herr, der – ›Guten Morgen‹ – ins Auto steigt, ist es nicht. Vielleicht hat es in der allerschlimmsten Inflation solche Typen gegeben, aber heute dürfte dieser Mann, mit so einem Kopf, mit dem Gesicht – allenfalls Handelsvollmacht haben; in sein Auto steigt der nicht: er schafft es nicht. Ich bin mit George Grosz gut befreundet: er weiß also, dass ich dies nicht für die Hochfinanz schreibe. Ich meine nur: um einen Gegner so zu treffen, wie er das mit den Feldwebeln in Generalsuniform getan hat, muss man den Gegner kennen und ihn bis ins letzte Fältchen treffen. So verfressen, so dickschädlig, so klobig sehen aber die deutschen Bankiers nicht aus, die IG-Farben-Leute nicht, die Hüttenbesitzer nicht. Sie sammeln Porzellan; sie haben zum Teil schmalere Köpfe; sie sind als Teilhaber eines Systems, was die Wirkungen ihrer Handlungen angeht, unmenschlich – aber man sieht es ihnen nicht auf den ersten Hieb an. Sie bevölkern Reinhardts Premieren, sie wählen Deutsche Volkspartei … sie sehen anders aus. Differenzierter, drei Rasternummern feiner; nicht besser: anders. Wie sehen sie aus –?“