Noch ein Adventssonntagsengel

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Den Engel malte Bruni Denning, Foto: Rose Böttcher

Tausend Saiten hat meine Laute

Tausend Saiten hat meine Laute
Tausend Töne hatte mein Herz
Seit Deine Liebe mir Träume spann
Seit mir Dein Ich in die Seele schaute
Harfen sie himmel und himmelwärts.

Bist Du mein Licht,
Das die Hände faltet?
Bist Du der Tag,
Der mir Blüten küsst?
Bist Du die Sonne
Die über mir waltet?
Sage mir, ob Du
Ein Engel bist?

Hugo Ball (1886-1927)

Geboren in Pirmasens, gestorben in der Schweiz.
Erst Dadaist. Dann Anarchist. Dann religiös fanatisiert.

Aber ein wunderbarer Dichter und Poet.

Liebe&Begehren: Ein bißchen Dada und sehr expressiv

Bild: Rose Böttcher

Anna Blume

Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir!
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, —- Wir?
Das gehört (beiläufig) nicht hierher!
Wer bist Du, ungezähltes Frauenzimmer, Du bist - - bist Du?
- Die Leute sagen, Du wärest, - laß sie sagen, sie wissen
nicht, wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf Deinen Füßen und wanderst auf die Hände,
Auf den Händen wanderst Du.
Halloh, Deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt. Rot
liebe ich Anna Blume, rot liebe ich Dir! – Du deiner dich dir, ich Dir, Du mir. — Wir?
Das gehört (beiläufig) in die kalte Glut.
Rote Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage:
1. Anna Blume hat ein Vogel.
2. Anna Blume ist rot.
3. Welche Farbe hat der Vogel?
Blau ist die Farbe Deines gelben Haares.
Rot ist die Farbe Deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid, du liebes grünes Tier, ich liebe Dir!
Du Deiner Dich Dir, ich Dir, du mir, - Wir?
Das gehört (beiläufig) in die Glutenkiste.
Anna Blume! Anna, a-n-n-a, ich träufle Deinen Namen.
Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.
Weißt Du es Anna, weißt Du es schon?
Man kann Dich auch von hinten lesen, und Du,
du Herrlichste von allen,
du bist von hinten, wie von vorne:
„a-n-n-a“.
Rindertalg träufeln streicheln über meinen Rücken.
Anna Blume, du tropfes Tier, ich liebe Dir!

KURT SCHWITTERS (1887 – 1948)

Dieses 1919 erstmals von Schwitters veröffentlichte Gedicht – er wandelte es später noch mehrfach ab – ist wohl der bekannteste Text des Dadaismus. Parodiert wird das Ansingen der Geliebten, die Liebeslyrik ist mit purem Nonsense vermischt. Dieser und die weiteren Anna Blume Texte lösten in den 1920er Jahren einen Kult aus. „Anna Blume und ich“: Unter diesem Titel vereint der Arche Verlag (www.arche-verlag.com) die Anna-Blume-MERZ-Texte in einer sehr schönen, empfehlenswerten Ausgabe.

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Bild: Egon Schiele, „Wally in roter Bluse mit erhobenen Knien“, ca. 1913.

Nachtcafé

824: Der Frauen Liebe und Leben.
Das Cello trinkt rasch mal. Die Flöte
rülpst tief drei Takte lang: das schöne Abendbrot.
Die Trommel liest den Kriminalroman zu Ende.

Grüne Zähne, Pickel im Gesicht
winkt einer Lidrandentzündung.

Fett im Haar
spricht zu offenem Mund mit Rachenmandel
Glaube Liebe Hoffnung um den Hals.

Junger Kropf ist Sattelnase gut.
Er bezahlt für sie drei Biere.

Bartflechte kauft Nelken,
Doppelkinn zu erweichen.

B-Moll: die 35. Sonate.
Zwei Augen brüllen auf:

Spritzt nicht das Blut von Chopin in den Saal,
damit das Pack drauf rumlatscht!
Schluß! He, Gigi! −

Die Tür fließt hin: Ein Weib.
Wüste ausgedörrt. Kanaanitisch braun.
Keusch. Höhlenreich. EinDuftkommtmit. Kaum Duft.

Es ist nur eine süße Vorwölbung der Luft
gegen mein Gehirn.

Eine Fettleibigkeit trippelt hinterher.

GOTTFRIED BENN (1886-1956)

Auszüge aus der Interpretation von Marian Szyrocki (aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): 1400 Deutsche Gedichte und ihre Interpretation. Von Gottfried Benn bis Nelly Sachs. Insel Verlag, 2002):

„Als 1912 Benns schmaler Gedichtband Morgue in der von A.R. Meyer in Berlin herausgegebenen Reihe Flugblätter erschien, war die Schockwirkung seiner fünfhundert durchnummerierten Exemplare perfekt. Ein Kritiker, geprägt – wie viele andere – von der ästhetizistischen Poesie eines George, Hofmannsthal und Rilke, quittierte das Buch mit dem Ausruf „Pfui Teufel!“. „Nachtcafé“, das letzte Gedicht dieser den physiologischen Zerfall und existentiellen Ekel des Menschen reflektierenden Sammlung, gilt der verkrüppelten Liebe. Merkwürdigerweise gingen die Interpreten bislang an diesem Gedicht vorbei. Vielleicht ist die Zahl 824, mit der das Gedicht eröffnet wird, schuld daran. Weder die verfügbaren Ausgaben noch andere Quellen geben über sie Auskunft.
Der Paragraph 824 des BGB hat nichts mit „Der Frauen Liebe und Leben“ zu tun. Erst eine Einsichtnahme in Benns stellenweise schwer lesbare Manuskripte machte die Hypothese wahrscheinlich, daß es sich bei dieser Zahl um einen Lesefehler des Setzers handelt. Einen zweiten Fehler im gedruckten Gedicht, ein „H-Moll“, verbesserte Benn in der späteren Ausgabe zu „B-Moll“. Die Zahl 824 aber hielt sich hartnäckig, obwohl es um den Paragraphen 825, die „Bestimmung zur Beiwohnung“, den außerehelichen Beischlaf, gehen dürfte. Dieser Paragraph würde auf die im Nachtcafé sich vollziehende Pervertierung der Liebe hindeuten, zusammengestellt mit der Identität der Titel „Frauen Liebe und Leben“ eines damals gerade neuen Walzers von Franz von Blon und von Schumanns berühmtem Zyklus.“

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Max Pechstein, Junge Frau mit rotem Fächer, ca. 1910

Die Liebesfrau

— Nackt. Ich bin es nicht gewohnt.
Du wirst so groß und so weiß
Geliebte. Glitzernd wie Mond,
Wie der Mond im Mai.

Du bist zweibrüstig,
Behaart und muskelblank.
So hüftenrüstig
Und tänzerinnenschwank.

Gib dich her! Draußen fallen
Die Regen. Die Fenster sind leer,
Verbergen uns … — allen, allen! —
Wieviel wiegt dein Haar. Es ist sehr schwer.

— Wo sind deine Küsse? Meine Kehle ist gegallt
Küsse du mich mit deinen Lippen!
— Frierst du?— — — Du bist so kalt
Und tot in deinen hellen Rippen.

PAUL BOLDT (1885-1921)

Paul Boldt zählt zu den expressionistischen Lyrikern. Zunächst begann der gebürtige Westpreuße ein Studium der Germanistik und Kunstgeschichte, dieses brach er in Berlin ab, um ganz als Schriftsteller tätig sein zu können. 1914 wurde sein einziger Gedichtband veröffentlicht: „Junge Pferde! Junge Pferde!“. Wie die meisten jungen Männer seiner Generation wurde auch er als Soldat zum 1. Weltkrieg eingezogen, doch wegen eines Nervenleidens bereits 1916 wieder entlassen. Paul Boldt, der ab 1919 in Freiburg Medizin studierte, starb nach einer Operation an einer Embolie.

Dieser Dichter, dessen Gedichte zu Lebzeiten gefeiert wurden, wurde später fast völlig vergessen. Erst 2009 wurde sein Gesamtwerk wieder aufgelegt: „Paul Boldts einziger veröffentlichter Gedichtband “Junge Pferde! Junge Pferde!” ist “on demand” jetzt wieder in der Edition Razamba erhältlich, eine beglückende Wiederentdeckung eines der Literaturgeschichtsschreibung verlorengegangenen Expressionisten“, so hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Weitere Informationen im Paul-Boldt-Archiv: http://www.paul-boldt.de/

das-kleine-blaue-pferdchen

Franz Marc, Das kleine blaue Pferdchen, 1912

Tausend Saiten hat meine Laute

Tausend Saiten hat meine Laute
Tausend Töne hatte mein Herz
Seit Deine Liebe mir Träume spann
Seit mir Dein Ich in die Seele schaute
Harfen sie himmel und himmelwärts.
Bist Du mein Licht,
Das die Hände faltet?
Bist Du der Tag,
Der mir Blüten küsst?
Bist Du die Sonne
Die über mir waltet?
Sage mir, ob Du
Ein Engel bist?

HUGO BALL (1886-1927)

Geboren in Pirmasens, gestorben in der Schweiz.
Erst Dadaist. Dann Anarchist. Dann orthodoxester Katholik mit mystisch angehauchter Versatzphilosophie.
Film: “Hugo Ball liest Karawane” - http://www.youtube.com/watch?v=tDgvA8OcNSI