Erich Kästner - so verschiedene November

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Bild: Rose Böttcher - Novemberstimmung an der Eisenbrücke in Ulm

Erich Kästner (1899 – 1974) versetzt mich immer wieder in Erstaunen. Erste Begegnung natürlich in der Kindheit. Große Begeisterung für „Emil und die Detektive“ und das „Doppelte Lottchen“. Später dann die politisch-moralischen Gedichte und „Fabian“, Neue Sachlichkeit und Satire. Und dann die brav-biederen Reime auf Großmutters Apothekenkalender.

Der gebürtige Dresdner war ein Mann mit einigen Seiten. Sicher kein „Simpel“, auch wenn manche Gedichte so simpel erscheinen. Er schrieb für den „Simplicissimus“ ebenso wie für die „Weltbühne“, aber verfasste auch diese fast schon kleinbürgerlichen Rezepte für das Privatleben. Von der Bühne der großen Welt bis zur „lyrischen Hausapotheke“.

Seine Bücher wurden im Dritten Reich verbrannt; Kästner wurde aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen und mit Publikationsverbot belegt, er selbst wurde mehrfach von der Gestapo verhaftet und schikaniert - andererseits entschied er sich dagegen so wie viele andere ins Exil zu gehen. Er schrieb unter Pseudonym weiter, vor allem für Film und Theater, und hielt sich politisch zurück.

Die Propagandaindustrie der Nationalsozialisten, die dem Volk einen Heile-Welt-Durchhaltefilm nach dem anderen lieferte, entdeckte letztlich auch Kästner noch einmal für sich: Goebbels` Ministerium gab ihm vorübergehend Publikationserlaubnis für das Drehbuch am Imageprojekt „Münchhausen“ – dies verfasste Kästner unter seinem Pseudonym „Berthold Bürger“.

Diese innere Emigration und die Bereitschaft, sich bis zu einem gewissen Grad anzupassen, um zumindest materiell zu überleben, wurden ihm später von manchen zum Vorwurf gemacht. Ein Urteil darüber zu fällen aus heutiger Zeit finde ich selbst sehr schwierig. Die Entscheidung als Beobachter, wie Kästner es begründete, zu bleiben und mitanzusehen, wie eine Kultur zu Boden geht, eine Gesellschaft entmenschlicht wird, aber auch zu bleiben, weil man an die Heimat gebunden ist – ich möchte diesem Schriftsteller unterstellen wollen, dass es ihm keinen Tag lang leicht fiel. Dass der Moralist im inneren Exil überlebte.

Überlebte und in gewisser Weise auch verstummte – nach 1945 blieb Kästner zwar bis zu seinem Tod äußerst produktiv, aber die Waffen des Satirikers waren stumpf geworden.

An zwei Novembergedichten möchte ich die verschiedenen Seiten des Lyrikers Kästner zeigen. „Der November“ entstammt dem Zyklus „Die Dreizehn Monate“, die 1953 in der „Schweizer Illustrierten“ und dann 1955 als Buch beim Atrium-Verlag erschienen. Im vorangestellten Vorwort sagt er:

„Die hier gesammelten Gedichte schrieb ein Großstädter für Großstädter. Er versuchte sich zu besinnen. Denn man kann die Besinnung verlieren, aber man muss sie wiederfinden. Man müsste wieder spüren: Die Zeit vergeht, und sie dauert, und beides geschieht im gleichen Atemzug. (…) Die zweite Austreibung aus dem Paradies hat stattgefunden. Und Adam und Eva haben es diesmal nicht bemerkt. Sie leben auf der Erde, als lebten sie darunter. Ausflüge sind keine Auswege. Schussfahrten sind Ausflüchte. Was, nun gar, könnten ein paar Verse vermögen? Sie wurden trotzdem notiert. Es hatte, wieder einmal und wie so oft, das letzte Wort – das kleine Wort Trotzdem.“

Der November 

Ach, dieser Monat trägt den Trauerflor …
Der Sturm ritt johlend durch das Land der Farben.
Die Wälder weinten. Und die Farben starben.
Nun sind die Tage grau wie nie zuvor.
Und der November trägt den Trauerflor.

Der Friedhof öffnete sein dunkles Tor.
Die letzten Kränze werden feilgeboten.
Die Lebenden besuchen ihre Toten.
In der Kapelle klagt ein Männerchor.
Und der November trägt den Trauerflor.

Was man besaß, weiß man, wenn man’s verlor.
Der Winter sitzt schon auf den kahlen Zweigen.
Es regnet, Freunde, und der Rest ist Schweigen.
Wer noch nicht starb, dem steht es noch bevor.
Und der November trägt den Trauerflor …

Der „Nasse November“ wurde erstmals am 21.11.1929 in „Beyers für Alle“, einer Familienzeitschrift aus dem Otto Beyer Verlag Leipzig veröffentlicht. Bis 1934 schrieb Kästner unter Pseudonym für die Kinderbeilage dieser Zeitschrift zahlreiche Texte und Gedichte – ein Broterwerb, dem Geschmack des jugendlichen Publikums angepasst. So sind die beiden November kaum vergleichbar – einerseits das melancholische Spätwerk, andererseits der brave Ratschlag für die Jugend.

Nasser November

Ziehen Sie die ältesten Schuhe an,
die in Ihrem Schrank vergessen stehn!
Denn Sie sollten wirklich dann und wann
auch bei Regen durch die Straßen gehn.

Sicher werden Sie ein bißchen frieren,
und die Straßen werden trostlos sein.
Aber trotzdem: gehn Sie nur spazieren!
Und, wenn’s irgend möglich ist, allein.

Müde fällt der Regen durch die Äste.
Und das Pflaster glänzt wie blauer Stahl.
Und der Regen rupft die Blätterreste.
Und die Bäume werden alt und kahl.

Abends tropfen hunderttausend Lichter
zischend auf den glitschigen Asphalt.
Und die Pfützen haben fast Gesichter.
Und die Regenschirme sind ein Wald.

Ist es nicht, als stiegen Sie durch Träume?
Und Sie gehn doch nur durch eine Stadt!
Und der Herbst rennt torkelnd gegen Bäume.
Und im Wipfel schwankt das letzte Blatt.

Geben Sie ja auf die Autos acht.
Gehn Sie, bitte, falls Sie friert, nach Haus!
Sonst wird noch ein Schnupfen heimgebracht.
Und, - ziehn Sie sofort die Schuhe aus!

Zum Abschluss wenigstens noch einmal Kästner als Satiriker:

Der Humor
Aus der großdeutschen Kunstlehre

Der Humor ist der Regenschirm der Weisen
und insofern unsoldatisch.
Daß wir ihn trotzdem öffentlich preisen,
scheint problematisch.
In praxi ist`s gleichgültig, was wir meinen.

Denn wir haben ja keinen.

Noch eine Bootsfahrt. Diesmal mit Spleen.

„Wirf diesen Plunder fort, Mensch! Dein Lebensboot sei leicht; nur was du wirklich brauchst, soll es beschweren: ein warmes Heim und schlichte Freuden, ein, zwei Freunde, die die Bezeichnung wert sind, jemand, den du liebst, und jemand, der dich liebt, eine Katze, ein Hund und ein paar Pfeifen, genug zu essen, genug zum Anziehen und ein bißchen mehr als genug zu trinken, denn Durst ist eine üble Sache.“

Gerüstet mit solchen Lebensweisheiten können sich auch drei englische Gentlemen mitsamt verhaltensauffälligem Foxterrier der gefahrlosen Reise auf der Themse stellen. Mit „3 Männer im Boot…ganz zu schweigen vom Hund“ schuf Jerome K. Jerome den Klassiker des britischen Humors. Das Buch erschien 1889 – und hat bis heute nichts von seinem Charme verloren. Die vergnügliche Themsefahrt ist ein geeigneter Leset(r)ipp für einen freien Nachmittag. Die Gesellschaft der drei Gentlemen in Tweed genießt man am besten zur Tea time, Tee mit Schuß.

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Dunkel kann ich mich aus Zeiten meiner Kindheit auch an die deutsche Verfilmung erinnern – damals, als das Fernsehen nur zwei Programme hatte. Die Adaption mit Heinz Erhardt, Walter Giller und Hans-Joachim Kulenkampff spielt am Bodensee – und hat, vermute ich heute, eher den Charme der „Fischerin vom Bodensee“ denn einer englischen Komödie.

Notiz 1 an mich selbst: Film besorgen, mal wieder gucken.

Notiz 2 an mich selbst: „Drei Männer im Schnee“ von Erich Kästner wiederlesen.

Jerome K. Jerome, „3 Männer im Boot“, als gebundene Ausgabe beim Manesse Verlag, als Taschenbuch bei Piper.

Ach, September - wann schüttest Du endlich Dein Goldhorn aus?

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“Gähnkatze” im Herbsttaumel. Bild: Rose Böttcher

Diese Zusammenstellung erfolgte an einem grauen, trüben, verregneten Septembertag. Eine Altweibersommer-Beschwörung.

Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter: Keine Jahreszeit, die in der deutschen Lyrik nicht ausgiebig besungen und bedichtet worden ist. Doch unter den zwölf Monaten scheint der September ein heimlicher Favorit zu sein - so häufig werden diesem Spätsommer-Übergangsmonat Gedichte gewidmet. Es gibt in der Lyrik eine lange Tradition an Herbstgedichten. „In der Regel projiziert seit der Lyrik des 18. Jahrhunderts ein sich aus dem Alltag lösendes Ich in die spätsommerliche Natur die Sehnsüchte nach Erfüllung, die Resignation der Enttäuschung und die Ahnungen des Todes, verleiht ihr damit eine Tiefe der Bedeutung, die das bloße Hier und Jetzt der Dinge überschreitet“, so der Germanist, Philosoph und Historiker Anton Reininger. „Aus der Natur steigt vielfach die bildhafte Erkenntnis des eigenen Schicksals auf, aber auch der Trost einer Geborgenheit im Ablauf des Jahresrhythmus.“

Oder wie ich es sagen würde: Junges T-Shirt trifft alten Anorak. Der Anorak sagt: „Warte nur, bald frierest auch Du.“

Ein September-Streifzug:

Septembermorgen

Im Nebel ruhet noch die Welt,
noch träumen Wald und Wiesen.

Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
den blauen Himmel unverstellt,

herbstkräftig die gedämpfte Welt
im warmen Golde fließen.

Eduard Mörike (1804-1875)

Mörike schrieb dies im Alter von erst 23 Jahren - und erreichte damit schon einen Gipfel der Dichtkunst. Denn dieses kleine, kurze Gedicht ist ein in sich geschlossenes, durchkomponiertes Kunstwerk. Von der ersten bis zur letzten Zeile stimmig.

Mit “herbstkräftig” schuf der Schwabe übrigens einen Neologismus. Dem schwäbischen Pfarrer, der zeitlebens im Unreinen mit seinem Beruf stand, wird bis heute nachgesagt, er repräsentiere den biedermeierlichen Idylliker. Er bleibt vom blauen Band umflattert. Dabei ist das gepflegte schwäbische Understatement, das auch in diesem Gedicht spürbar wird, durchaus modern - Mörike hat sich gelöst von der schwärmerischen, undifferenzierten Romantik. Der Schleier fällt. Mörike zeigt ganz dezent schon auf die lyrische Moderne - die Zuwendung zum Alltäglichen bis hin zur reinen Verinnerlichung und Weltflucht. Ein „couch potatoe“, der ab und an gerne spazierengeht…

Wie auch immer man über Mörike urteilen mag: Mit dem Septembermorgen ist ihm etwas Schönes gelungen. Das Gleichgewicht von Stillstand  und Bewegung, die Wärme und goldenen Farben eines Herbsttages werden mit wenigen Worten ergreifend greifbar gemacht.

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September

Der Dornbusch prangt im Schmuck der roten Beeren,
Die Dahlien in ihrer bunten Pracht,
Und Sonnenblumen mit den Strahlenspeeren
Stehn stolz wie goldne Ritter auf der Wacht.

Die Wespe nascht um gelbe Butterbirnen,
Die Äpfel leuchten rot im Laub und glühn
Den Wangen gleich der muntren Bauerdirnen,
Die sich im Klee mit ihren Sicheln mühn.

Noch hauchen Rosen ihre süßen Düfte,
Und freuen Falter sich im Sonnenschein,
Und schießen Schwalben durch die lauen Lüfte,
Als könnt des Sommerspiels kein Ende sein.

Nur ab und an, kaum dass der Wind die Äste
Des Baumes rührt, löst leise sich ein Blatt,
Wie sich ein stiller Gast vom späten Feste
Heimlich nach Hause stiehlt, müde und satt.

Gustav Falke (1853-1916)

An Mörikes Kunst, die nur sechs Zeilen zur Entfaltung braucht, reicht dieser Falke nicht heran. Dies ist ein hervorragendes Beispiel für die von Reininger beschriebene Naturlyrik, die vor allem der Abbildung einer „heilen Welt“ dient. Sie mag auch ihre Berechtigung und ihre Leser haben - auf diesem Herbstspaziergang habe ich das Gedicht jedoch nur wegen seiner letzten Strophe aufgenommen: Die hat was.

Der gebürtige Lübecker begann zunächst mit impressionistischer Lyrik. Später wechselte er die Tonart, verfasste volksliedhafte Gedichte für ein eher bürgerliches Publikum, Romane, Epen und Dramen in naturalistischem Ton und mit viel patriotischem Pathos.

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Septembertag

Dies ist des Herbstes leidvoll süße Klarheit,
die dich befreit, zugleich sie dich bedrängt;
wenn das kristallene Gewand der Wahrheit
sein kühler Geist um Wald und Berge hängt.

Dies ist des Herbstes leidvoll süße Klarheit.

Christian Morgenstern (1871 - 1914)

Mein Morgen-, Mittags-, Abendstern! Morgenstern war nicht „nur“ der Dichter der „Galgenlieder“. Der „Septembertag“ ist in dem Band „Und aber ründet sich ein Kranz“ enthalten, der 1902 erschien. Bei Morgenstern, der an Lungentuberkulose litt, war im Juli 1900 die Krankheit mit voller Macht ausgebrochen. Zur selben Zeit verliebte er sich in die Schwedin Dagny Fett, der er den Gedichtzyklus „Ein Sommer“ widmete. Dieses Schwanken zwischen Liebe, Sehnsucht, Krankheit und der Ahnung von der Zerbrechlichkeit des Lebens - all dieses klingt in diesen wenigen Zeilen an.

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September

Du, über den Zaun gebeugt mit Phlox

(vom Regenguß zerspalten,

seltsamen Wildgeruchs),

der gern auf Stoppeln geht,

zu alten Leuten tritt,

die Balsaminen pflücken,

Rauch auf Feldern

mit Lust und Trauer atmet –

aufsteigenden Gemäuers,

das noch sein Dach vor Schnee und Winter will,

kalklöschenden Gesellen

ein: „ach, vergebens“ zuzurufen

nur zögernd sich verhält –

gedrungen eher als hochgebaut,

auch unflätigen Kürbis nackt am Schuh,

fett und gesichtslos, dies Krötengewächs –

Ebenen-entstiegener,

Endmond aller Flammen,

aus Frucht- und Fieberschwellungen

abfallend, schon verdunkelten Gesichts –

Narr oder Täufer,

des Sommers Narr, Nachplapperer, Nachruf

oder der Gletscher Vorlied,

jedenfalls Nussknacker,

Schilfmäher,

Beschäftigter mit Binsenwahrheiten –

vor dir der Schnee,

Hochschweigen, unfruchtbar

die Unbesambarkeit der Weite:

da langt dein Arm hin,

doch über den Zaun gebeugt

die Kraut- und Käferdränge,

das Lebenwollende,

Spinnen und Feldmäuse –

II

Du, ebereschenverhangen

von Frühherbst,

Stoppelgespinst,

Kohlweißlinge in Atem,

laß viele Zeiger laufen,

Kuckucksuhren schlagen,

lärme mit Vespergeläut.

gonge

die Stunde, die so golden feststeht,

so bestimmt dahinbräunt,

in ein zitternd Herz!

Du:- Anderes!

So ruhn nur Götter

oder Gewänder

unstürzbarer Titanen

langeschaffener,

so tief eingestickt

Falter und Blumen

in die Bahnen!

Oder ein Schlummer früher Art,

als kein Erwachen war,

nur goldene Wärme und Purpurbeeren,

benagt von Schwalben, ewigen,

die nie von dannen ziehn –

Dies schlage, gonge,

diese Stunde,

denn

wenn du schweigst,

drängen die Säume herab

pappelbestanden und schon kühler.

Gottfried Benn  (1886 – 1956)

Zu Gottfried Benn in wenigen Worten etwas zu sagen, ist schwierig genug. Zu diesem Gedicht erst recht. Es benötigte eine eigene Interpretation. Aus einem September-Spaziergang würde so eine wochenlange Herbstwanderung. Und so habe ich mit diesen Zeilen das schwierige Terrain „Benn“ umgangen…sollen die Worte für sich selber sprechen.
(P.S.: Eine Analyse von Anton Reininger findet sich im Reclam-Heft mit Gedicht-Interpretationen zu Gottfried Benn)

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September

Der Garten trauert,
kühl sinkt in die Blumen der Regen.
Der Sommer schauert
still seinem Ende entgegen.

Golden tropft Blatt um Blatt
nieder vom hohen Akazienbaum.
Sommer lächelt erstaunt und matt
in den sterbenden Gartentraum.

Lange noch bei den Rosen
bleibt er stehn, sehnt sich nach Ruh.
Langsam tut er die großen,
müdgewordenen Augen zu.

Hermann Hesse (1877-1962)

Schon die erste Zeile zeigt auf, wo es langgeht: „Der Garten trauert…“ Und mit ihm Hesse, der große Melancholiker. Hesse schrieb, als unterliege er einer beständigen Selbstanalyse. „Siddharta“, „Unterm Rad“ sind dafür ebenso Beispiele wie viele seiner Gedichte. Schon 1892 wurde bei einem ersten Aufenthalt in einer Psychiatrie „Melancholie“ diagnostiziert, eine zweite Behandlung und Psychoanalyse folgten 1916. Von Depressionen geplagt blieb der Autor sein Leben lang - aber er lernte, damit umzugehen, sie schreibend zu bannen. Für einen Schriftsteller seiner psychischen Verfassung ist der Herbst eine besondere Jahreszeit, die auch besondere Belastungen mit sich bringt - die großen, müdgewordenen Augen mögen nicht mehr.

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Goldene Welt

Im September ist alles aus Gold:
Die Sonne, die durch das Blau hinrollt,
das Stoppelfeld, die Sonnenblume, schläfrig am Zaun,
das Kreuz auf der Kirche, der Apfel am Baum.
Ob er hält? Ob er fällt?
Da wirft ihn geschwind der Wind in die goldene Welt.

Georg Britting (1891–1964)

Lebensfroh, lebenszugewandt, aber auch weltungewandt und urig: So beschreiben die, die ihn erlebt haben, den Dichter aus Bayern. Er ist ein bisschen in Vergessenheit geraten - auch weil er sich selbst weigerte, durch Mitarbeit an Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunk an seinem eigenen Nachruhm zu basteln. Er wollte halt dichten, und sonst nichts - das ist bemerkenswert. Ein Dichter-Apfel, der dem, der sucht, vom Baum in den Schoß fällt.

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Der September

Das ist ein Abschied mit Standarten
aus Pflaumenblau und Apfelgrün.
Goldlack und Astern flaggt der Garten,
und tausend Königskerzen glühn.

Das ist ein Abschied mit Posaunen,
mit Erntedank und Bauernball.
Kuhglockenläutend ziehn die braunen
und bunten Herden in den Stall.

Das ist ein Abschied mit Gerüchen
aus einer fast vergessenen Welt.
Mus und Gelee kocht in den Küchen.
Kartoffelfeuer qualmt im Feld.

Das ist ein Abschied mit Getümmel,
mit Huhn am Spieß und Bier im Krug.
Luftschaukeln möchten in den Himmel.
Doch sind sie wohl nicht fromm genug.

Die Stare gehen auf die Reise.
Altweibersommer weht im Wind.
Das ist ein Abschied laut und leise.
Die Karussells drehn sich im Kreise.
Und was vorüber schien, beginnt.

Erich Kästner (1899-1974)

Kästner: Muss man jetzt nichts dazu sagen! So erträumen sich Erwachsene und Kinder den September. Naturlyrik mit Humor.

Und hier führt uns die September-Lyrik-Wanderung zur Gegenwartsliteratur. Drei Wegsteine:

Herbstgeschichte

Eine Zeichnung, oder auch nur ein Gekritzel…ich hatte
versucht, dem alten, sich senkenden Birnbaum
einen Halt zu geben. Aber die Stütze aus
Bleistiftstrichen misslang. Nun regiert hier, seit
ein paar Tagen, der Nebel, der es heute
fertiggebracht hat, dass man gar nichts mehr
sieht. So geht das all diese Jahre,
Strukturen, Fröste, Eulenflug, Krieg im September.

Jürgen Becker (geb. 1932)

 

Zwölf Monate später (Auszug)

Und September, Monat der Gestelle,
Wolkenschwären, Wolkenschwärme, Wolkenschwarten,
Wolkenknollen, weichen oder harten
schweren oder leichten Regenfälle.

Ror Wolf (geb. 1932)

septembergruß

In diesen tagen ist mein glück gemacht
aus trotzigen kleinen konjunktiven

und nichts ist heiterer,
kein leben bekömmlicher
als dieses im freundlichen wahn.

Elke Schmitter (geb. 1961) - Autorin unter anderem von Frau Sartoris.