Italienische Poesie: Giuseppe Ungaretti

Bild: Ilse Bing

Allegria di naufragi (1917)

E subito riprende
il viaggio
come
dopo il naufragio
un superstite
lupo di mare

Freude der Schiffbrüche

Und plötzlich nimmst du
die Fahrt wieder auf
wie
nach dem Schiffbruch
ein überlebender
Seebär

Übertragen von Ingeborg Bachmann

Giuseppe Ungaretti (1888-1970), Salvatore Quasimodo und Eugenio Montale: Sie sind das Dreigestirn des italienischen Ermetismo, einer dunklen, hermetischen Lyrikströmung, vergleichbar mit Benn und Celan. Letzterer ist neben Ingeborg Bachmann und Hilde Domin einer derjenigen, die Ungaretti ins Deutsche übertrugen.

Minimalistisch, auch lautmalerisch, gespeist mit Metaphern und einer aus dem persönlichen Empfinden erwachsenen Symbolik, die sich dem Leser nur schwer erklären, ist seine Lyrik in der Übersetzung eine große Herausforderung.

Selten, dass wie bei dem frühen Gedicht zur „Freude der Schiffbrüche“ die Bedeutung so auf der Hand liegt. Erstaunlich aber zugleich, dass Ungaretti schon als junger Mann wohl vorausahnte, dass sein langes Leben alles andere als frei bleiben würde von Schiffbrüchen. Erfahrungen jedoch, die nicht zum Untergang führen, der Überlebenswille immer mit an Bord.

Ungaretti mit Anna Magnani

„Aber die großen Männer – was sind sie, man trifft sie sehr selten, (sie) sind sehr einfach, sie lachen wunderbar, sie sind streng, ohne es denen zu zeigen, die von Strenge nichts verstehen (aber ich hoffe, ich habe die seine verstanden), und sie sind nicht furchtbar, sondern sie sind etwas mitleidiger als die anderen, etwas großzügiger, etwas kindlicher, sehr viel reifer, und am Ende berührt sich die Weisheit mit der Kindlichkeit, mit der einmal die Götter, die es nicht mehr gibt, ihre Lieblinge zu sich geholt haben.“
Ingeborg Bachmann über Giuseppe Ungaretti

Ungaretti führte ein unstetes, wechselhaftes Leben. Seine zeitweise Annäherung und Unterstützung des italienischen Faschismus wirft zwar einen Schatten auf sein Gesamtwerk. Aber seine Poesie und die Anerkennung seiner schriftstellerischen Leistung bleiben von dieser dunkleren Periode seines Lebens beinahe unberührt.

Weiterführende Informationen, Quelle: Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1977, bei www.planetlyrik.de:
“1888 in Alexandria als Sohn italienischer Einwanderer geboren, steht Giuseppe Ungaretti in seiner Kindheit unter dem Eindruck nordafrikanischer Landschaft: unbarmherzige Sonne, Wüste, Einsamkeit. Von 1912 bis 1914 setzt der junge Italiener die in Ägypten begonnenen Studien in Paris fort, er schließt Freundschaft mit den avantgardistischen Künstlern der Epoche – Apollinaire, Breton, Max Jacob, Picasso. 1915 wird er als Infanterist einberufen, verbringt die folgenden Jahre in den Schützengräben des norditalienischen Karsts. Die Daseinserfahrung dieser Zeit, seinen Aufschrei im Angesicht von Grauen und Tod hält der junge Dichter in einer Art poetischem Tagebuch fest. Nach dem Weltkrieg kehrt Ungaretti für kurze Zeit nach Paris zurück, läßt sich ab 1920 in Rom nieder, ist als Dolmetscher und Zeitungskorrespondent tätig. 1936 folgt er einem Ruf als Professor für italienische Literatur an die Universität São Paulo. 1942 kehrt er nach Rom zurück, hat bis 1958 den Lehrstuhl für zeitgenössische Literatur an der dortigen Universität inne. Dieses Leben in den äußeren Bahnen bürgerlicher Normalität ist stets begleitet von einer hartnäckigen Suche nach der eigenen Identität. Wenige schmale Gedichtbände legen Zeugnis ab von diesem Bemühen: Freude der Schiffbrüche (1919), Der begrabene Hafen (1923), Die Freude (1931), Gefühl der Zeit (1936), Der Schmerz (1947), Das verheißene Land (1950), Das Merkbuch des Alten (1960), Dialog (1968). 1969, ein Jahr bevor Ungaretti in Mailand stirbt, erscheint die erste Ausgabe sämtlicher Gedichte. Ihr Titel ist poetische Konfession: Vita d’un uomo - Leben eines Menschen.”

Il porto sepolto (1916)

Vi arriva il poeta
e poi torna alla luce con i suoi canti
e li disperde

Di questa poesia
mi resta
quel nulla
di inesauribile segreto.

Der begrabene Hafen

Dort kommt der Dichter an
und wendet sich dann zum Licht mit
seinen Gesängen
und er verstreut sie

Von diesem Gedicht
bleibt mir
jenes Nichts
von unerschöpflichem Geheimnis.

Die Übertragungen in die deutsche Sprache durch Ingeborg Bachmann und Paul Celan erschienen im Suhrkamp Verlag:

Fritz J. Raddatz: Das Bestiarium der deutschen Literatur (2012).

„Die Kafka ist eine sehr selten gesehene prachtvolle mondblaue Maus, die kein Fleisch frisst, sondern sich von bittern Kräutern nährt. Ihr Anblick fasziniert, denn sie hat Menschenaugen.“

“Die Courths-Mahler ist eine Laus, die in der Sekunde eine Million Eier legt.“

Franz Blei, “Das große Bestiarium der modernen Literatur”, 1922

Teils mit viel Respekt, teils mit großer Giftigkeit: So karikierte Franz Blei, 1871 in Wien geboren und 1942 in New York gestorben, in seinem großen Bestiarium der modernen Literatur die Schriftsteller seiner Zeit. 1922 erschien dieses Buch bei Rowohlt, in dem alle bedeutenden Autoren in spöttischem Ton als exotische Tiere beschrieben wurden (siehe hier das Buch beim Projekt Gutenberg: Das große Bestiarium der modernen Literatur).

Fritz J. Raddatz, “Das Bestiarium der deutschen Literatur”, 2012

Inzwischen trat Fritz J. Raddatz in die Fußstapfen von Franz Blei. Und wie zu erwarten war, ist das neue, ebenfalls bei Rowohlt erschienene “Bestiarium der deutschen Literatur” nicht weniger spritzig als der 90 Jahre ältere Vorgänger. „Verfasst mit dem nachlässigen Glanz liebevoller Parodie, dem scharfen Blick der Satire und eine Fülle phantastischer Pointen“, preist es der Verlag. 76 Größen der deutschsprachigen Literatur sind dargestellt in der Gestalt von Fabelwesen, illustriert von Klaus Ensikat: die verirrte Möwe Jelinek, der bayerische Gockel Achternbusch, der Papierwurm Hochhuth, das Lewitscharoff («Riesenkänguruh» und «Damenimitator»), der Seehase Ruge: Unterhaltsam und mit großem Aha-Effekt, wenn man die Autoren gelesen hat.

Anbei einige Kostproben, der Name ist jeweils mit einem Link zum passenden Beitrag bei Sätze&Schätze hinterlegt:

Bachmann, der

Der Totenkopfschwärmer wird von der österreichischen Landbevölkerung die „Große Somnambule“ genannt. Das leitet sich daher, daß der mancherorts als Unglücksbote verrufene Nachtfalter - der übrigens auch tagaktiv ist - wie betrunken auf Lichtfallen reagiert. Ein berühmter Schweizer Spezialist hat zum Zweck des Anlockens unter einem Laken aus dünner Leinwand das Licht einer Quecksilberdampflampe (wie sie auch auf Theaterbühnen verwendet werden) installiert, dazu eine sonst nur aus Romanen bekannte Schwarzlicht-Neonröhre: und schwirr blobb, schwirr blobb, mit einem an experimentelle Lyrik erinnernden Geräusch, läßt sich die große Somnambule, vom Kunstlicht verführt, nieder.

(Man beachte die “zarten” Anspielungen auf das Verhältnis Bachmann-Max Frisch)

Hacks, der…

Hacks, der

Gehört zur Gattung der Schreitvögel, die ihren Namen einem majestätisch anzusehenden Gehabe verdanken. (…). Er besitzt auch ganz spezielle sogenannte Puderfedern; wenn sie ausfransen, wird ein feiner Puder daraus, den der Vogel in den Schnabel nimmt und bei seiner Gefiederpflege zur Entfernung von Schleim und Fett benutzt.

(Politische Wende- und Halsstarrigkeit zieht Satire auf sich)

Lewitscharoff, das…

Lewitscharoff, das

Damenimitator. So tauften mit respektloser Ironie jüngere Wissenschaftler dieses Riesenkänguruh, weil auch das männliche Tier mit bemerkenswertem Hüftschwung andere Wildtiere wie Löwen anlocken kann. Dabei entkommt das oft 88 Stundenkilometer schnelle Beuteltier seinem Verfolger stet mit bis zu neun Meter weiten Sprüngen, ermüdet allerdings rasch, ist also ein Kurzstreckensieger. (…) Als ungewöhnlich wird sein soziales Verhalten, vor allem in Gruppen, hervorgehoben; so gräbt das Makropus auch in der Paarungszeit nie einem Männchen das Wasser ab, sondern ernährt sich auch bei trockenem Futter vom Feuchtigkeitsgehalt des eigenen Körpers. Man nennt das auch das „Apostoloff“-Syndrom.

(Als habe Raddatz die “Halbwesen”-Rede vorausgesehen?)

Ruge, der…

Ruge, der

Erst kürzlich vor Rügen aufgetauchter Seehase, ein seltener Fisch, dessen Rogen „Caviar des Nordens“ genannt, als besonders schmackhafte Delikatesse gepriesen wird; die Laich-Zeit soll zehn Jahre betragen.

(Freundliches Lob kann FJR auch!)

Setz, der

Gehört zu den maskierten Säugetieren, die auch Zibetkatzen, Ginsterkatzen oder Linsangs genannt werden. Der Setz, jahrelang in Europa ausgestorben und erst seit kurzem in der Umgebung von Graz ausgewildert, wird in der einschlägigen Wissenschaft als „Larvenroller“ geführt (Paguma larvata) und als Allesfresser beschrieben.

(Hmm…keine Ahnung, was der bestialische Literaturkritiker DAMIT sagen will…)

Und der Wondra-Schreck!

Wondratschek, der

Wondra-Schreck. Schrecken verbreitender tschechisch-österreichischer Parasit, fast unsichtbar. Nistet bevorzugt in den mondänen Smoking-Revers und Seidenroben bei Box-Veranstaltungen. Jüngst auch festgestellt als Zerstörer des Samtfutters von Geigenkästen. Italienische Wissenschaftler wollen sogar das Ruinieren der Saiten eines Cellos „Mara“ dem energischen Fresser zuschreiben, weil sie dessen leise, fast lyrisch klingende, melodiöse Laute während der Vernichtungsarbeit belegen konnten.

(Dafür bleiben hier keine Fragen offen!)

Und der Raddatz?

Ein Prachtleierschwanz, der über viele Jahre hinweg Stoff für Legenden geliefert hat. Mit einer Begabung für vielerlei Sprachmelodien von Spott-Tönen bis zu zarten Balzlauten.

#Portrait. Ingeborg Bachmann - die vielen Gesichter einer Ausnahmeerscheinung

Ganz entspannt und fröhlich: Ingeborg Bachmann 1970 bei der Lektüre einer italienischen Zeitung. Bildquelle: FAZ/Bachmann-Erben

Sie war das It-Girl unter den Intellektuellen, mit “der Präsenz eines Popstars” (Ingeborg Bachmann), die modisch Mondäne und leise, aber wortgewaltige Lyrikerin, die führende Schriftstellerin der deutschen Nachkriegsliteratur: Ingeborg Bachmann. Vor 41 Jahren, am 17. Oktober 1973, verstarb sie in Rom unter Umständen, die den Moll-Schlussakkord eines ebenso zerrissenen Lebens bildeten: Die tabletten- und alkoholabhängige Schriftstellerin erlag den fürchterlichen Brandverletzungen, die sie Ende September in ihrer Wohnung erlitten hatte. Eine nicht ausgelöschte Zigarette hatte das Feuer ausgelöst.

Ingeborg Bachmann wurde nur 47 Jahre alt. Ihr literarischer Stern begann 20 Jahre vor ihrem Tod aufzugehen – 1953 las Ingeborg Bachmann erstmals bei der berühmten Gruppe 47 und setzte sofort Maßstäbe: Literarisch, aber auch als Frau in einer doch sehr von Männern dominierten Literaturwelt.

Sie gewinnt mit ihrem Lyrikband „Die gestundete Zeit“ den Preis der Gruppe. Und sie weckt Beschützerinstinkte: Martin Walser erlebt sie und schreibt am 28. Oktober 1957 an den gemeinsamen Verleger Siegfried Unseld: „Sie strömt Unglück aus wie andere Frauen Parfüm. Ich habe jede Skepsis ihr gegenüber verloren und würde alles tun, ihr ein bißchen helfen zu können.“

„Bachmann fühlt sich fremd in der Welt“, schreibt Ingeborg Gleichauf in ihrem lesenswerten Buch über die Beziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch (Piper Verlag, München, 2013). Ja, zu dem komplizierten Innenleben dieser Dichterin passen komplizierte Beziehungen. Reines Glück war ihre Sache wohl nie. 1926 wird Ingeborg Bachmann in Klagenfurt geboren, erstes Kind eines Schuldirektors. Dem Elternhaus entflieht sie früh, studiert ab 1945 Philosophie, Rechtswissenschaften, Psychologie und Germanistik.

Die Welt ist weit (1952, Auszug)

Die Welt ist weit und die Wege von Land zu Land,
und der Orte sind viele, ich habe alle gekannt,
ich habe von allen Türmen Städte gesehen,
die Menschen, die kommen werden und die schon gehen.
Weit waren die Felder von Sonne und Schnee,
zwischen Schienen und Straßen, zwischen Berg und See.
Und der Mund der Welt war weit und voll Stimmen an meinem Ohr
und schrieb, noch des Nachts, die Gesänge der Vielfalt vor.
Den Wein aus fünf Bechern trank ich in einem Zuge aus,
mein nasses Haar trocknen vier Winde in ihrem wechselnden Haus.

Die Fahrt ist zu Ende,
doch ich bin mit nichts zu Ende gekommen,
jeder Ort hat ein Stück von meinem Lieben genommen,
jedes Licht hat mir ein Aug verbrannt,
in jedem Schatten zerriß mein Gewand.

Bereits mit ihrem Doktorvater, dem Philosophen Victor Kraft, verbindet sie eine Beziehung. Aber dann lernt sie 1945 Paul Celan kennen – jenen Lyriker, dessen Sprache und ihre so sehr miteinander verwandt sind. Bereits ein halbes Jahr nach der ersten Begegnung geht Celan jedoch nach Paris. Die beiden beginnen sich brieflich anzunähern – der Briefwechsel dauert an bis Ende 1961, als Celan in eine schwere psychische Krise gerät. Bei Suhrkamp erschien 2008 unter dem Titel „Herzzeit“ dieser Briefwechsel der beiden bedeutenden Lyriker deutscher Sprache der Nachkriegszeit – ergreifend ist es, anhand der Briefe und Telegramme zu sehen, wie beide nicht miteinander leben, einander aber auch nicht loslassen können und darum ringen, auch durch längere Phasen des Schweigens, wenigstens eine Art der Beziehung haben zu können.

„Habe vergeblich versucht dich anzurufen geheimnummer wird nicht bekanntgegeben bitte ruf mich gegen 10 uhr morgens an oder telegrafiere deine nummer deine ingeborg“ 3.12.1960

Da ist sie bereits in einer, wie man so schön neudeutsch sagt, on-and-off-Beziehung zu Max Frisch. Ihn lernte sie 1958 kennen. Auf den ersten Blick ein ungleiches, unpassendes Paar, Frisch allein schon körperlich und sprachlich ein Antipode nicht nur zu dem feinnervigen Celan, sondern zu der ebenso feinnervigen Bachmann. Max Frisch, uneitel in Äußerlichkeiten, bodenständig und lebenspraktisch erscheinend – sie, die durchaus auf ihr Äußeres achtet, immer auch etwas dem Alltag enthoben. Während sie und Max Frisch sich annähern – auch dies von Beginn an schwierig – ist Paul Celan immer noch ihr Bezugspunkt. Und wird es eigentlich bis zu dessen Freitod 1970 bleiben.

Wie soll ich mich nennen? (1952, Auszug)

Einmal war ich ein Baum und gebunden,
dann entschlüpft ich als Vogel und war frei,
in einen Graben gefesselt gefunden,
entließ mich berstend ein schmutziges Ei.

Wie halt ich mich? Ich habe vergessen,
woher ich komme und wohin ich geh,
ich bin von vielen Leibern besessen,
ein harter Dorn und ein flüchtendes Reh.

Bis 1962 hält die Verbindung zu Frisch an. Es kommt zu einem schmerzhaften Bruch. „Ein grandioser Anfang und ein trauriges Ende“, wie Ingeborg Gleichauf in ihrem Buch schreibt. Beide verarbeiten dieses Scheitern literarisch. Ingeborg Gleichauf umkreist dieses Aufeinandertreffen zweier literarischer Größen mit einer behutsamen Sprache, vieles ihres Buches ist jedoch Deutung und Interpretation, doch gerade auch wegen dieser psychologischen Annäherung nicht minder interessant zu lesen. Gleichauf verknüpft Leben und Werk des Autorenpaares und zeigt auf, wie die Beziehung sich letztendlich in deren Werke fortsetzte – bei Ingeborg Bachmann gut zu entschlüsseln in ihrem einzig vollendeten Roman „Malina“.

Wie sehr Ingeborg Bachmann unter der Trennung litt, ja eigentlich daran zerbrach, dies macht Andrea Stoll in ihrer Biografie „Ingeborg Bachmann. Der dunkle Glanz der Freiheit“ deutlich. „Es ist die größte Niederlage meines Lebens“, sagte die Autorin selbst dazu. Doch Andrea Stoll fokussiert sich nicht nur auf diese Seite der Autorin, sondern zeichnet das ganze Leben und alle Facetten dieser faszinierenden Frau nach: Die Lust an der Selbstinszenierung, die Freude an der Eleganz ebenso wie die Unsicherheiten, die eine unabhängige schriftstellerische Existenz auch materiell mit sich bringt, das Ringen um die persönliche Freiheit zwischen diesen Polen. Und über alledem: Der Anspruch an das eigene Schaffen, ein Absolutheitsanspruch, der Wille und der Kampf um die Schönheit der Sprache. Stoll konnte für ihr Buch auf verlässliche Quellen bauen – neben Gesprächen mit Weggefährten gelang ihr auch der Kontakt zur Familie, Interviews mit Bachmann-Geschwistern, erstmals auch Einblick in einige Briefe der Schriftstellerin an ihre Eltern. So ist ihre Biografie eine seriöse Arbeit, die manche Mythen und Legenden, die sich um die Schriftstellerin ranken, zurechtzurücken vermag.

Eines der Bachmann`schen Lebensthemen tritt in allen genannten Büchern jedoch deutlich hervor: Dieses verzweifelte Ringen um Freiheit und Unabhängigkeit, dessen Kehrseite auch die Einsamkeit ist. Diese Zugehörig-Sein-Wollen und doch die Nähe nicht zu ertragen.
Und über alle dem: Das Schreiben, das Verpflichtung, Qual, Strafe, aber auch Freude, Sinnerfüllung und Lebensinhalt für diese Ausnahmeerscheinung war.

Bücher:
„Ingeborg Bachmann und Max Frisch - Eine Liebe zwischen Intimität und Öffentlichkeit“,
von Ingeborg Gleichauf, 224 Seiten, ISBN: 978-3-492-05478-2, € 19,99

„Ingeborg Bachmann. Der dunkle Glanz der Freiheit“,
von Andrea Stoll, 384 Seiten, ISBN 978-3-570-10123-0, € 22,90

„Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel“
399 Seiten, suhrkamp taschenbuch 4115, Broschur, ISBN: 978-3-518-46115-0, € 9,95

Bertolt Brecht - Zufluchtsstätte. Atemholen vor kälteren Zeiten

Image

Ein Augenaufmerker am Wegesrand: In der Brechtstadt Augsburg ist man schon gerüstet. Es kommen, frei nach Ingeborg Bachmann, vielleicht doch noch kältere Tage. Vorsorge ist alles – ob in der Heimat oder auf dem Weg.

Zufluchtsstätte

Ein Ruder liegt auf dem Dach. Ein mittlerer Wind
Wird das Stroh nicht wegtragen.
Im Hof für die Schaukel der Kinder sind
Pfähle eingeschlagen.

Die Post kommt zweimal hin
Wo die Briefe willkommen wären.
Den Sund herunter kommen die Fähren.
Das Haus hat vier Türen, daraus zu fliehn.

Bertolt Brecht (1937)

Brecht hält sich zu der Zeit, als das Gedicht entstand, tatsächlich an einer Zufluchtsstätte auf – im Exil, geflohen vor den Nationalsozialisten. Er ist mit Helene Weigel und anderen in Dänemark, an einem eigentlich idyllischen Ort, der Insel Fünen.

Der neue Ort zwischen Heimat und Provisorium: Für die Kinder muss gesorgt sein. Gegen die Stürme, auch gegen die politischen, muss man sich wappnen. Wetterfest machen. Aber doch bleibt man in Bereitschaft, auf dem Sprung. Denn die Deutschen rücken näher. Vier Himmelsrichtungen, vier Türen stehen offen zur weiteren Flucht. Vorsorge ist alles.

Klaus Wagenbach: Die Freiheit des Verlegers (2010).

Bild

„Wer handelt, macht Fehler; der Bürostuhl wird es nie begreifen.“

Klaus Wagenbach, „Die Freiheit des Verlegers“, selbstverständlich erschienen im Wagenbach Verlag.

Büchermacher müssen wohl Überzeugungstäter sein (mit einigen Ausnahmen). Vor allem  dann, wenn sie gegen den Strich bürsten, dem Mainstream aus dem Weg gehen, wenn ihr Programm dem Zeitgeist und politischer Opportunität entgegensteht. Hierzulande steht dafür Klaus Wagenbach. Als ich mit dem bewussten Lesen begann, also über die Büchergilde-Auswahl im Schrank der Eltern und der Jugendbuchecke der städtischen Bücherei herausgewachsen war, wanderten mir die ersten Quarthefte zu. Diese schwarzen dünnen Bände wecken heute noch Unmengen an Erinnerungen. Und sie waren der Einstieg in die Auseinandersetzung mit Lyrik – das erste Quartheft, das ich bekam, waren Gedichte von Erich Fried. Heute noch, 30 Jahre später, kann ich mich SCHWARZ darüber ärgern, dass ich es in einem Anfall juveniler Schwärmerei einem Angebeteten verehrt habe. Der hat es nicht verdient – so tief sitzen literarische Verluste.

Inzwischen reihen sich an die schwarzen Quarthefte die roten Salto-Bücher – Wagenbach ist optisch kenntlich, inhaltlich ebenso. Der Verlag gestaltet ein Programm, das auch eine bestimmte Haltung zur Welt, zur Politik, zur Gesellschaft umreißt. Was diese Haltung ausmacht, woher sie kommt, welche Wurzeln sie hat – dazu gibt es einen Schlüssel. In Buchform selbstverständlich: 2010 erschien zum 80. Geburtstag des Verlegers ein schöner Sammelband in bibliophiler Aufmachung – kenntlich am Rot der SALTO-Bücher, aber weitaus großformatiger. Die „Erinnerungen, Festreden, Seitenhiebe“ – alle aus der Feder des bekennenden Linken, Träger roter Socken und Begründer der Toskana-Fraktion (letzteres sei ihm verziehen, trotz all der Konsequenzen: unter anderem der unendlichen Reihe von Ausstellungen mit Pinienbildern und Selbstgetöpfertem in Schulaulen und Behörden) – sind nicht nur Autobiographie, sondern auch Dokumentation einer Demokratie und deren Schwierigkeiten im Umgang mit Andersdenkenden und Andershandelnden.

Bild

Wagenbach ist der deutsche Verleger, der von sich behaupten kann, der Vertreter seines Standes mit den meisten Vorstrafen zu sein, der aus politischen Gründen vor Gericht stand und von Otto Schily, in dieser Zeit als RAF-Anwalt bekannt, vertreten wurde, zeigt mit diesem Buch auch, wer er ist und warum er die Bücher gemacht hat, die er macht. „Die Freiheit des Verlegers“ ist ein Konvolut an autobiographischen Texten über Familie und Herkunft (an denen deutlich wird, dass Wagenbach auch ein sehr guter Schriftsteller ist), an festgehaltenen Erinnerung zum Einstieg in das Verlagswesen, an Aufsätzen, Interviews, Essays und Reden. Die Texte spiegeln die „deutschen Verhältnisse“ und die „Intimsphäre der Bundesrepublik“, als sie noch jung und ungefestigt und die Verhältnisse demzufolge auch ungestüm war, wieder.

„Die Folgen von Büchern sind schwer abschätzbar. Wenn wir hier einmal die Folgen der Verbreitung der Bibel erörtern würden – was kämen denn da alles für Folgen heraus?“ Diese Frage stellt Wagenbach 1971 in einem Interview in der ZDF-Sendung „Aspekte“. Und weiter: „Das andere ist: Man kann sich als Verleger keine Zensur einbauen, schon gar keine, die sich nach den momentanen Vorstellungen einer Gesellschaft richtet. Nehmen wir ein Beispiel, das auch alle Zuschauer kennen: die Titelbilder der Illustrierten stern. Wenn die schönen Nackten, die heute die Titelseiten des stern zieren, an derselben Stelle vor zehn  Jahren erschienen wären, wäre der stern damals beschlagnahmt worden. Das Gesetz hat sich in dieser Zeit nicht geändert hat, was sich geändert hat, das ist die Auslegung.“

Auch unter diesem Gesichtspunkt lassen sich die Erinnerungen Wagenbachs im Jahre 2013 mit großem Interesse lesen – um zu prüfen, inwieweit von dort bis zum heutigen Stand der Dinge Weiterentwicklung oder Rückschritt geschehen ist.

Die Texte aus fünf Jahrzehnten zeugen von den „wilden Jahren“ eines linken Verlages. Sie geben einen spannenden Rückblick auf die Umbruchjahre der jungen Republik und deren politische Verhältnisse. Nicht alles mag den Nachgeborenen noch verständlich sein, von manchem distanzierte sich Wagenbach auch selbst in späteren Jahren oder veränderte seinen Blick darauf – so beispielsweise auch von Inhalten der Grabrede auf Ulrike Meinhof, die dennoch abgedruckt ist in diesem Buch. Zugleich klingt aus diesen Essays nach wie vor die Aufbruchstimmung dieser jungen Generation, der Wille zur Veränderung heraus, der Kampf gegen die Restauration von mentalen Verhältnissen, die Deutschland bereits mehrfach mit in den Abgrund geführt hatten. Wenn die Republik und Politik heute bunter sind als in den grauen 60er Jahren – dann haben auch die schwarzen und roten Wagenbach-Bücher daran ihren Anteil.

Ein großer Bereich des Bandes dreht sich selbstverständlich jedoch vor allem um die Liebe zum Büchermachen, die Liebe zum Buch an sich, um Autoren und Verleger. Die Texte sind ein Streifzug durch das literarische Leben, teils von amüsanter Bissigkeit, teils mit großer Wärme und Liebe zu „seinen“ Autoren geschrieben – erinnert wird an ganz Große wie Stephan Hermlin, Johannes Bobrowski, Paul Celan, Ingeborg Bachmann und vor allem an Erich Fried, dessen Hausverlag Wagenbach war. Sein Gedicht von der Liebe – es passt ebenso auf die eigentümliche Liebe eines Verlegers zum Geschäft des Büchermachens.

Bild

„Frei und listig“ muss ein Verleger sein, meint Wagenbach. Das ist er: Frei, listig und lustig.
Zum Weiterlesen sei ein Blick auf die Internetseite des Verlags empfohlen – vorangestellt ist der Verlagsgeschichte dieses Programm:

» Man verlegt entweder Bücher, von denen man meint, die Leute sollen sie lesen, oder Bücher, von denen man meint, die Leute wollen sie lesen. Verleger der zweiten Kategorie, das heißt Verleger, die dem Publikumgeschmack dienerisch nachlaufen, zählen für uns nicht - nicht wahr?«

Kurt Wolff

Warum so verlegen?

Der Verlag ist unabhängig und macht davon Gebrauch, seine Meinungen vertritt er auf eigene Kosten. Er ist nicht groß, aber erkennbar. Seine Arbeit dient nicht dem Profit, sondern folgt inhaltlichen Absichten:

Wir veröffentlichen Bücher aus Überzeugung und Vergnügen, mit Sorgfalt und Ernsthaftigkeit. Wir wollen unbekannte Autoren entdecken, an Klassiker der Moderne erinnern und unabhängigen Köpfen Raum für neue Gedanken geben. Es erscheinen Literatur, Geschichte, Kunst- und Kulturgeschichte, Politik aus den uns geläufigen Sprachen: Italienisch, Spanisch, Englisch, Französisch und natürlich Deutsch. Und unsere Bücher sollen schön sein, aus Zuneigung zum Leser und zum Autor und als Zeichen gegen die Wegwerfmentalität.

http://www.wagenbach.de/der-verlag.html