Italienische Poesie: Giuseppe Ungaretti

Bild: Ilse Bing

Allegria di naufragi (1917)

E subito riprende
il viaggio
come
dopo il naufragio
un superstite
lupo di mare

Freude der Schiffbrüche

Und plötzlich nimmst du
die Fahrt wieder auf
wie
nach dem Schiffbruch
ein überlebender
Seebär

Übertragen von Ingeborg Bachmann

Giuseppe Ungaretti (1888-1970), Salvatore Quasimodo und Eugenio Montale: Sie sind das Dreigestirn des italienischen Ermetismo, einer dunklen, hermetischen Lyrikströmung, vergleichbar mit Benn und Celan. Letzterer ist neben Ingeborg Bachmann und Hilde Domin einer derjenigen, die Ungaretti ins Deutsche übertrugen.

Minimalistisch, auch lautmalerisch, gespeist mit Metaphern und einer aus dem persönlichen Empfinden erwachsenen Symbolik, die sich dem Leser nur schwer erklären, ist seine Lyrik in der Übersetzung eine große Herausforderung.

Selten, dass wie bei dem frühen Gedicht zur „Freude der Schiffbrüche“ die Bedeutung so auf der Hand liegt. Erstaunlich aber zugleich, dass Ungaretti schon als junger Mann wohl vorausahnte, dass sein langes Leben alles andere als frei bleiben würde von Schiffbrüchen. Erfahrungen jedoch, die nicht zum Untergang führen, der Überlebenswille immer mit an Bord.

Ungaretti mit Anna Magnani

„Aber die großen Männer – was sind sie, man trifft sie sehr selten, (sie) sind sehr einfach, sie lachen wunderbar, sie sind streng, ohne es denen zu zeigen, die von Strenge nichts verstehen (aber ich hoffe, ich habe die seine verstanden), und sie sind nicht furchtbar, sondern sie sind etwas mitleidiger als die anderen, etwas großzügiger, etwas kindlicher, sehr viel reifer, und am Ende berührt sich die Weisheit mit der Kindlichkeit, mit der einmal die Götter, die es nicht mehr gibt, ihre Lieblinge zu sich geholt haben.“
Ingeborg Bachmann über Giuseppe Ungaretti

Ungaretti führte ein unstetes, wechselhaftes Leben. Seine zeitweise Annäherung und Unterstützung des italienischen Faschismus wirft zwar einen Schatten auf sein Gesamtwerk. Aber seine Poesie und die Anerkennung seiner schriftstellerischen Leistung bleiben von dieser dunkleren Periode seines Lebens beinahe unberührt.

Weiterführende Informationen, Quelle: Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1977, bei www.planetlyrik.de:
“1888 in Alexandria als Sohn italienischer Einwanderer geboren, steht Giuseppe Ungaretti in seiner Kindheit unter dem Eindruck nordafrikanischer Landschaft: unbarmherzige Sonne, Wüste, Einsamkeit. Von 1912 bis 1914 setzt der junge Italiener die in Ägypten begonnenen Studien in Paris fort, er schließt Freundschaft mit den avantgardistischen Künstlern der Epoche – Apollinaire, Breton, Max Jacob, Picasso. 1915 wird er als Infanterist einberufen, verbringt die folgenden Jahre in den Schützengräben des norditalienischen Karsts. Die Daseinserfahrung dieser Zeit, seinen Aufschrei im Angesicht von Grauen und Tod hält der junge Dichter in einer Art poetischem Tagebuch fest. Nach dem Weltkrieg kehrt Ungaretti für kurze Zeit nach Paris zurück, läßt sich ab 1920 in Rom nieder, ist als Dolmetscher und Zeitungskorrespondent tätig. 1936 folgt er einem Ruf als Professor für italienische Literatur an die Universität São Paulo. 1942 kehrt er nach Rom zurück, hat bis 1958 den Lehrstuhl für zeitgenössische Literatur an der dortigen Universität inne. Dieses Leben in den äußeren Bahnen bürgerlicher Normalität ist stets begleitet von einer hartnäckigen Suche nach der eigenen Identität. Wenige schmale Gedichtbände legen Zeugnis ab von diesem Bemühen: Freude der Schiffbrüche (1919), Der begrabene Hafen (1923), Die Freude (1931), Gefühl der Zeit (1936), Der Schmerz (1947), Das verheißene Land (1950), Das Merkbuch des Alten (1960), Dialog (1968). 1969, ein Jahr bevor Ungaretti in Mailand stirbt, erscheint die erste Ausgabe sämtlicher Gedichte. Ihr Titel ist poetische Konfession: Vita d’un uomo - Leben eines Menschen.”

Il porto sepolto (1916)

Vi arriva il poeta
e poi torna alla luce con i suoi canti
e li disperde

Di questa poesia
mi resta
quel nulla
di inesauribile segreto.

Der begrabene Hafen

Dort kommt der Dichter an
und wendet sich dann zum Licht mit
seinen Gesängen
und er verstreut sie

Von diesem Gedicht
bleibt mir
jenes Nichts
von unerschöpflichem Geheimnis.

Die Übertragungen in die deutsche Sprache durch Ingeborg Bachmann und Paul Celan erschienen im Suhrkamp Verlag:

William Shakespeare - Sonett 116

Let me not to the marriage of true minds
Admit impediments. Love is not love
Which alters when it alteration finds,
Or bends with the remover to remove:
O no; it is an ever-fixed mark,
That looks on tempests, and is never shaken;
It is the star to every wandering bark,
Whose worth’s unknown, although his height be taken.
Love’s not Time’s fool, though rosy lips and cheeks
Within his bending sickle’s compass come;
Love alters not with his brief hours and weeks,
But bears it out even to the edge of doom.
If this be error and upon me proved,
I never writ, nor no man ever loved.

Ich laß, wo treue Geister sich vermählen,
kein Hemmnis gelten. Liebe wär nicht sie,
wollt sie, wo Wandlung ist, die Wandlung wählen;
noch beugt sie vor dem Beugenden die Knie.

O nein, sie steht, ein unverrückbar Zeichen,
sie sieht über die Stürme weg, sie währt;
sie ist der Barke Stern, hoch, ohnegleichen -:
die Höh - ermessen, unbekannt sein Wert.

Legt sie, die Sichel, sich auch um die Wangen,
die rosigen - Lieb’ ist kein Narr der Zeit.
Nicht können Stunden, Wochen sie belangen;
der Jüngste Tag, er findet sie bereit.

So ich dies hier als Wahn erwiesen seh,
so schrieb ich nie und keiner liebte je.

Übersetzt von Paul Celan (1967)

Fürwahr! nicht will ich die Vermählung hindern
Getreuer Seelen. Lieb’ ist ja nicht Liebe
Wenn sie beim Wankelmuth sich kann vermindern,
Und nicht auch treu dem Ungetreuen bliebe.

O nein! Sie ist ein starker Felsenriff,
An dem sich Sturm und Brandung donnernd bricht,
Ein Stern ist sie, für manch bedrängtes Schiff,
Gemessen ist sein Stand, sein Einfluß nicht.

Lieb’ ist kein Narr der Zeit: der Wangen Blüthe,
Sie fällt in ihrer Sense raschem Schwung,
Doch altert nie ein liebendes Gemüthe,
Am jüngsten Tag ist noch die Liebe jung.

Und ist dies falsch, ward’s nicht von mir geübt,
So schrieb ich nie, so ward auch nie geliebt.

Übersetzt von Dorothea Tieck (1826)

Shakespeare beschreibt hier die Liebe in ihrer idealsten (oder idealisierten?) Form. Gepriesen wird die Liebe, die Verbindung, die auf Vertrauen und Verstehen baut. Wahre Liebe, so sagt der Dichter, “is an ever-fix’d mark”, die jede Krise übersteht. In den letzten beiden Zeilen versichert sich der Poet noch einmal selbst – Liebe ist keine Täuschung, kein Irrtum. Dieses Wort wählte zunächst Paul Celan (ein Shakespeare-Verehrer, der die Sonette komplett übersetzte) für seine Übertragung. Später jedoch ersetzte er den „Irrtum“ durch „Wahn“ – für eine Art Liebe, die immer auch an eine Form des Wahn-Sinns erinnern könnte. Celan bleibt auch bei Übersetzungen von Lyrik anderer immer Celan. Wie unterschiedlich im Sprachstil und Sprachfluss und zuweilen auch in der inhaltlichen Interpretation Lyrik-Übersetzungen sein können, machen die beiden Beispiele deutlich. Die Liebe ist kein Narr der Zeit (alle Liebeslust will Ewigkeit) – doch während sie bei Celan für den jüngsten Tag bereit ist, bleibt sie bei der Tieck noch jung. Die unterschiedlichen Temperamente der beiden Übersetzer werden an solchen Feinheiten nur allzu deutlich.

Weitere Shakespeare-Sonette hier:
Sonett 18

Sonett 66
Sonett 130

#Portrait. Ingeborg Bachmann - die vielen Gesichter einer Ausnahmeerscheinung

Ganz entspannt und fröhlich: Ingeborg Bachmann 1970 bei der Lektüre einer italienischen Zeitung. Bildquelle: FAZ/Bachmann-Erben

Sie war das It-Girl unter den Intellektuellen, mit “der Präsenz eines Popstars” (Ingeborg Bachmann), die modisch Mondäne und leise, aber wortgewaltige Lyrikerin, die führende Schriftstellerin der deutschen Nachkriegsliteratur: Ingeborg Bachmann. Vor 41 Jahren, am 17. Oktober 1973, verstarb sie in Rom unter Umständen, die den Moll-Schlussakkord eines ebenso zerrissenen Lebens bildeten: Die tabletten- und alkoholabhängige Schriftstellerin erlag den fürchterlichen Brandverletzungen, die sie Ende September in ihrer Wohnung erlitten hatte. Eine nicht ausgelöschte Zigarette hatte das Feuer ausgelöst.

Ingeborg Bachmann wurde nur 47 Jahre alt. Ihr literarischer Stern begann 20 Jahre vor ihrem Tod aufzugehen – 1953 las Ingeborg Bachmann erstmals bei der berühmten Gruppe 47 und setzte sofort Maßstäbe: Literarisch, aber auch als Frau in einer doch sehr von Männern dominierten Literaturwelt.

Sie gewinnt mit ihrem Lyrikband „Die gestundete Zeit“ den Preis der Gruppe. Und sie weckt Beschützerinstinkte: Martin Walser erlebt sie und schreibt am 28. Oktober 1957 an den gemeinsamen Verleger Siegfried Unseld: „Sie strömt Unglück aus wie andere Frauen Parfüm. Ich habe jede Skepsis ihr gegenüber verloren und würde alles tun, ihr ein bißchen helfen zu können.“

„Bachmann fühlt sich fremd in der Welt“, schreibt Ingeborg Gleichauf in ihrem lesenswerten Buch über die Beziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch (Piper Verlag, München, 2013). Ja, zu dem komplizierten Innenleben dieser Dichterin passen komplizierte Beziehungen. Reines Glück war ihre Sache wohl nie. 1926 wird Ingeborg Bachmann in Klagenfurt geboren, erstes Kind eines Schuldirektors. Dem Elternhaus entflieht sie früh, studiert ab 1945 Philosophie, Rechtswissenschaften, Psychologie und Germanistik.

Die Welt ist weit (1952, Auszug)

Die Welt ist weit und die Wege von Land zu Land,
und der Orte sind viele, ich habe alle gekannt,
ich habe von allen Türmen Städte gesehen,
die Menschen, die kommen werden und die schon gehen.
Weit waren die Felder von Sonne und Schnee,
zwischen Schienen und Straßen, zwischen Berg und See.
Und der Mund der Welt war weit und voll Stimmen an meinem Ohr
und schrieb, noch des Nachts, die Gesänge der Vielfalt vor.
Den Wein aus fünf Bechern trank ich in einem Zuge aus,
mein nasses Haar trocknen vier Winde in ihrem wechselnden Haus.

Die Fahrt ist zu Ende,
doch ich bin mit nichts zu Ende gekommen,
jeder Ort hat ein Stück von meinem Lieben genommen,
jedes Licht hat mir ein Aug verbrannt,
in jedem Schatten zerriß mein Gewand.

Bereits mit ihrem Doktorvater, dem Philosophen Victor Kraft, verbindet sie eine Beziehung. Aber dann lernt sie 1945 Paul Celan kennen – jenen Lyriker, dessen Sprache und ihre so sehr miteinander verwandt sind. Bereits ein halbes Jahr nach der ersten Begegnung geht Celan jedoch nach Paris. Die beiden beginnen sich brieflich anzunähern – der Briefwechsel dauert an bis Ende 1961, als Celan in eine schwere psychische Krise gerät. Bei Suhrkamp erschien 2008 unter dem Titel „Herzzeit“ dieser Briefwechsel der beiden bedeutenden Lyriker deutscher Sprache der Nachkriegszeit – ergreifend ist es, anhand der Briefe und Telegramme zu sehen, wie beide nicht miteinander leben, einander aber auch nicht loslassen können und darum ringen, auch durch längere Phasen des Schweigens, wenigstens eine Art der Beziehung haben zu können.

„Habe vergeblich versucht dich anzurufen geheimnummer wird nicht bekanntgegeben bitte ruf mich gegen 10 uhr morgens an oder telegrafiere deine nummer deine ingeborg“ 3.12.1960

Da ist sie bereits in einer, wie man so schön neudeutsch sagt, on-and-off-Beziehung zu Max Frisch. Ihn lernte sie 1958 kennen. Auf den ersten Blick ein ungleiches, unpassendes Paar, Frisch allein schon körperlich und sprachlich ein Antipode nicht nur zu dem feinnervigen Celan, sondern zu der ebenso feinnervigen Bachmann. Max Frisch, uneitel in Äußerlichkeiten, bodenständig und lebenspraktisch erscheinend – sie, die durchaus auf ihr Äußeres achtet, immer auch etwas dem Alltag enthoben. Während sie und Max Frisch sich annähern – auch dies von Beginn an schwierig – ist Paul Celan immer noch ihr Bezugspunkt. Und wird es eigentlich bis zu dessen Freitod 1970 bleiben.

Wie soll ich mich nennen? (1952, Auszug)

Einmal war ich ein Baum und gebunden,
dann entschlüpft ich als Vogel und war frei,
in einen Graben gefesselt gefunden,
entließ mich berstend ein schmutziges Ei.

Wie halt ich mich? Ich habe vergessen,
woher ich komme und wohin ich geh,
ich bin von vielen Leibern besessen,
ein harter Dorn und ein flüchtendes Reh.

Bis 1962 hält die Verbindung zu Frisch an. Es kommt zu einem schmerzhaften Bruch. „Ein grandioser Anfang und ein trauriges Ende“, wie Ingeborg Gleichauf in ihrem Buch schreibt. Beide verarbeiten dieses Scheitern literarisch. Ingeborg Gleichauf umkreist dieses Aufeinandertreffen zweier literarischer Größen mit einer behutsamen Sprache, vieles ihres Buches ist jedoch Deutung und Interpretation, doch gerade auch wegen dieser psychologischen Annäherung nicht minder interessant zu lesen. Gleichauf verknüpft Leben und Werk des Autorenpaares und zeigt auf, wie die Beziehung sich letztendlich in deren Werke fortsetzte – bei Ingeborg Bachmann gut zu entschlüsseln in ihrem einzig vollendeten Roman „Malina“.

Wie sehr Ingeborg Bachmann unter der Trennung litt, ja eigentlich daran zerbrach, dies macht Andrea Stoll in ihrer Biografie „Ingeborg Bachmann. Der dunkle Glanz der Freiheit“ deutlich. „Es ist die größte Niederlage meines Lebens“, sagte die Autorin selbst dazu. Doch Andrea Stoll fokussiert sich nicht nur auf diese Seite der Autorin, sondern zeichnet das ganze Leben und alle Facetten dieser faszinierenden Frau nach: Die Lust an der Selbstinszenierung, die Freude an der Eleganz ebenso wie die Unsicherheiten, die eine unabhängige schriftstellerische Existenz auch materiell mit sich bringt, das Ringen um die persönliche Freiheit zwischen diesen Polen. Und über alledem: Der Anspruch an das eigene Schaffen, ein Absolutheitsanspruch, der Wille und der Kampf um die Schönheit der Sprache. Stoll konnte für ihr Buch auf verlässliche Quellen bauen – neben Gesprächen mit Weggefährten gelang ihr auch der Kontakt zur Familie, Interviews mit Bachmann-Geschwistern, erstmals auch Einblick in einige Briefe der Schriftstellerin an ihre Eltern. So ist ihre Biografie eine seriöse Arbeit, die manche Mythen und Legenden, die sich um die Schriftstellerin ranken, zurechtzurücken vermag.

Eines der Bachmann`schen Lebensthemen tritt in allen genannten Büchern jedoch deutlich hervor: Dieses verzweifelte Ringen um Freiheit und Unabhängigkeit, dessen Kehrseite auch die Einsamkeit ist. Diese Zugehörig-Sein-Wollen und doch die Nähe nicht zu ertragen.
Und über alle dem: Das Schreiben, das Verpflichtung, Qual, Strafe, aber auch Freude, Sinnerfüllung und Lebensinhalt für diese Ausnahmeerscheinung war.

Bücher:
„Ingeborg Bachmann und Max Frisch - Eine Liebe zwischen Intimität und Öffentlichkeit“,
von Ingeborg Gleichauf, 224 Seiten, ISBN: 978-3-492-05478-2, € 19,99

„Ingeborg Bachmann. Der dunkle Glanz der Freiheit“,
von Andrea Stoll, 384 Seiten, ISBN 978-3-570-10123-0, € 22,90

„Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. Der Briefwechsel“
399 Seiten, suhrkamp taschenbuch 4115, Broschur, ISBN: 978-3-518-46115-0, € 9,95

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (5): Rose Ausländer (1901-1988)

Kalligraphie des Neujahrs-Gedichtes von Rose Ausländer durch Petra S.-L.

Im neuen Jahr
grüße ich
meine nahen und
die fernen Freunde
grüße die
geliebten Toten
grüße alle
Einsamen
grüße die Künstler
die mit
Worten Bildern Tönen
mich beglücken
grüße die
verschollenen Engel
grüße mich selber
mit dem Zuruf
Mut

Rose Ausländer (1901-1988)

Sie ist unter den Lyrikerinnen aus der Bukowina – bereits vorgestellt wurden hier Selma Meerbaum-Eisinger und Ilana Shmueli – die Bekannteste: Rose Ausländer. An einem Punkt verknüpfen sich die Schicksale der drei Frauen: 1941 wird die jüdische Bevölkerung in Czernowitz von den Nationalsozialsten und deren rumänischen Schergen in einem Ghetto zusammengetrieben. Dem Transport in ein Arbeitslager entkommt Rose Ausländer, weil sie im Ghetto in Kellerverstecken untertaucht. Unter den einstmals 60.000 Juden in Czernowitz ist sie eine der wenigen Überlebenden.

Hunger, Arbeit, Todesnot – der Gruppe um Rose Ausländer und Paul Antschel, der sich später Paul Celan nennt, helfen Gedichte, um diese Zeit zu überstehen. Rose Ausländer, die Älteste unter ihnen, hat da bereits veröffentlicht, Lebens- und Welterfahrung gesammelt. „Schreiben war Leben. Überleben!“ notiert sie später.

Sie wird 1901 als Rosalie Beatrice Scherzer im damals noch österreichischen Czernowitz geboren. Schon als Schülerin kommt sie mit ihren Eltern nach Budapest und Wien, kehrt aber immer wieder in ihre multikulturelle, geistig blühende Heimatstadt zurück, wo sie 1919 ein Gaststudium der Literatur und Philosophie an der Universität beginnt.

Die Universität Czernowitz.

„Warum schreibe ich? Vielleicht weil ich in Czernowitz zur Welt kam, weil die Welt in Czernowitz zu mir kam. Jene besondere Landschaft. Die besonderen Menschen. Märchen und Mythen lagen in der Luft, man atmete sie ein.“, so äußert sie sich später über ihre geistige Heimat.

Und erinnert an die jiddischen Dichter Elieser Steinberg und Itzig Manger, die deutschsprachigen Autoren Paul Celan und Alfred Margul-Sperber, der sie entdeckte.
Und erinnert damit an eine einmalige Kulturlandschaft, die zerschlagen wurde, die man heute wieder zu beleben sucht (siehe das Projekt www.zeitzug.com) – doch Czernowitz, inzwischen ukrainisch, wieder in Zeiten politischer Unwägbarkeiten.

Lassen uns nicht

Mein Volk

Mein Sandvolk
mein Grasvolk

wir lassen uns nicht
vernichten

Bereits mit 17 schreibt Rose Ausländer Verse, Ideen in ihr Tagebuch, steht fest, „dass Lyrik mein Lebenselement war“. Doch zunächst kommen die Erfahrungen, dann die Literatur. 1920, nach dem Tod des Vaters wandert sie gemeinsam mit dem Studienkollegen Ignaz Ausländer in die USA aus. Dort arbeitet sie als Redakteurin und veröffentlicht bereits ihre ersten Gedichte. 1926 erhält sie die amerikanische Staatsbürgerschaft – die sie 1937 wegen ihrer langen Abwesenheit wieder verliert. Ob die Staatsbürgerschaft sie vor dem Ghetto bewahrt hätte? Und schließlich die Frage, die einen seltsamen, beinahe zynischen Unterton hat – was hätte dies für ihre Lyrik später bedeutet, ein Betrachten des Wahnsinns aus der Ferne?

„Wir treffen uns
hinter der Heimat
im Haus mit
gebrochenem Flügel“

schreibt sie in „Entfremdung“.

„Alle Dichter schöpfen in ihren Texten aus ihrem Erleben. Eine so enge Verknüpfung von Leben und Werk wie bei Rose Ausländer ist aber ungewöhnlich, selten, vielleicht einmalig“, meint Helmut Braun, Herausgeber ihrer Gedichte beim S. Fischer Verlag. Braun macht unter den fast 3.000 Gedichten, die Rose Ausländer in ihrem langen Leben schrieb, mehrere Hauptthemen, Kapitel, aus – Werke über die Kindheit und Jugend in der Bukowina, die Gedichte über das Judentum, über die Shoa-Erfahrung und das Exil, Texte über das Schreiben und die Heimat Sprache sowie Gedichte über wesentliche, existentielle Lebenserfahrungen – die Liebe, das Älterwerden, den Tod.

Die Liebe zur Mutter, die auch Heimat ist, führt die junge Frau zurück nach Europa, bis 1941 veröffentlicht Rose Ausländer weiter, lehrt Englisch, arbeitet als Übersetzerin, reist nach Paris, New York, wird geschieden, verliebt und trennt sich erneut – das Leben einer jungen, emanzipierten Frau, so erscheint es. Der Krieg, die Rassenverfolgung setzt dem allem ein Ende.

Nach der Shoa-Erfahrung ist auch ihr Schreiben nicht mehr dasselbe. Rose Ausländer überlebt, kehrt zurück in die USA – und verfasst ihre Gedichte bis 1956 ausschließlich in englischer Sprache. Es scheint, als habe sie neben der geographischen Heimat, der Mutter, die 1947 verstorben ist, auch die Heimat der deutschen Sprache verloren. „Warum schreibe ich seit 1956 wieder deutsch? Mysteriös, wie sie erschienen war, verschwand die englische Muse. Kein äußerer Anlass bewirkte die Rückkehr zur Muttersprache. Geheimnis des Unterbewusstseins.“

Mutterland

Mein Vaterland
ist tot
sie haben es begraben
im Feuer

Ich lebe
in meinem Mutterland
Wort

Die Annäherung an das Land der Täter kann nur wieder schrittweise erfolgen. 1957 unternimmt sie eine erste Europareise, Rumänien und Deutschland meidet sie. 1964 übersiedelt sie nach Wien, ein Jahr später dann in die Bundesrepublik.  Ab 1972 lebt sie im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf, dem Elternheim der jüdischen Gemeinde, wo sie nach langer Bettlägerigkeit am 3. Januar 1988 stirbt.

Der Dichter

fügt wieder zusammen
das zerstückelte Lied

Von Splittern zerrissen
sein Wort
trägt fort der Blutstrom

treibt es
zum Herzen

Verwundet
kittet er
die zersprungene
Scheibe
Zeit

Trotz ihrer angegriffenen Gesundheit im Alter zählen ihre letzten Jahre mit zu den produktivsten – das Schreiben ist ihr ein Bedürfnis, „ein Trieb“. Helmut Braun, der ihren literarischen Nachlass verwaltet und Rose Ausländer ab den 70er Jahren eigentlich erst richtig bekannt gemacht hat, war fasziniert von der ungeheuren Kreativität und Kraft dieser Dichterin, die auch angesichts des Sterbens dem Tod noch Worte abtrotzte.

„Warum schreibe ich?
Weil ich, meine Identität suchend, mit mir deutlicher spreche auf dem wortlosen Bogen.“

Die Werkausgabe erscheint bei den S. Fischer Verlagen: http://www.fischerverlage.de/autor/rose_auslaender/183

Zuletzt noch der Hinweis auf ein unterstützenswertes Projekt – die Rose Ausländer-Stiftung: http://www.roseauslaender-stiftung.de/

Bereits erschienene Beiträge über jüdische Lyrikerinnen:
Mascha Kaléko - ein Herbstleben
Hedwig Lachmann - die stille, unangepasste Dichterin
Selma Meerbaum-Eisinger - Blütenlese
Ilana Shmueli – die Stimme aus dem Exil

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (4): Ilana Shmueli (1924-2011)

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Tollen im Neuschnee

blendendes Weiß wie nie wieder
und wie’s frostig im Kindermund schmilzt

Flieder von damals
der Duft verborgener Veilchen
Gras frisch gemäht
glühende Sonne
träumen im Nussbaum
kleine grün-braune Finger
auf rauer Rinde

all das – darf man es nennen

es zieht

es zieht
die Hand meiner Schwester
die so früh wieder losließ

Ilana Shmueli (1924-2011)
Zwei Frauen, ein Ausgangspunkt: Wie Selma Meerbaum-Eisinger ist auch Ilana Shmueli in Czernowitz geboten, beide 1924. Wie Selma, die 18jährig in einem Arbeitslager starb, kommt Ilana aus einer jüdischen Familie, wächst in dieser rumänischen Stadt auf, denkt, spricht und wächst jedoch in einer deutsch-österreichischen Umfeld heran. Man kann davon ausgehen, dass die beiden sich kannten. Doch während die eine, Selma, früh dichtete und früh starb, kann sich Ilana Shmueli zwar retten, findet aber erst spät zu einer eigenen Sprache: Einer Lyrik, die von anderen Verlusten geprägt ist - dem Verlust einer unbeschwerten Jugend, dem Verlust der Heimat, dem Verlust der Wurzeln, dem Verlust der Heimatsprache. „Ich bin in keiner Sprache wirklich ganz zu Hause“, äußert sie einmal. „Ich begann hebräische Gedichte zu schreiben. Später kam ich wieder aufs Deutsche zurück.“

“In spärlicher Wortlandschaft” - so beginnt eines ihrer Gedichte, die auf http://www.lyrikline.org nachgelesen und angehört werden können: http://www.lyrikline.org/de/gedichte/spaerlicher-wortlandschaft-6545#.UrlB97QSOe4

Bildcollage: Paul Celan und Ilana Shmueli
Bildcollage: Paul Celan und Ilana Shmueli

Dass die gebürtige Liane Schindler, aus der später Ilana Shmueli wird, doch noch zu dieser Sprache findet, das hat auch mit einer Begegnung zu tun: 1965 trifft sie in Paris Paul Celan wieder, inzwischen schon ein berühmter Dichter, für sie ein Jugendfreund, der wie sie in Czernowitz aufgewachsen ist. Die Querverbindungen sind vielfach - Paul Celan ist wiederum mit Selma Meerbaum-Eisinger verwandt, nicht verschwiegen werden darf Rose Ausländer, die ebenfalls aus der Bukowina kam. Als die Deutschen 1941 Czernowitz besetzen, finden sich diese jungen Menschen im Ghetto zusammen - Gedichte und Musik bilden die Gegenwelt zur grausamen Realität. Sie erleben mit, wie andere deportiert und in die Zwangsarbeit verschleppt werden, sie erleiden täglich Demütigungen, Verfolgung und Brutalität. Das sich gegenseitige Aufrichten durch Kultur, die Flucht vor der Realität in Gedichte - diese Stimmung nimmt Ilana Shmueli in das Exil mit, bewahrt sie ein Leben lang auf, bis die Sprache sich wieder Bahn bricht. Ihre Gedichte sind daher auch Ausdruck der Exilerfahrung, der Zerrissenheit zwischen zwei Welten, das Reflektieren auf eine unwiederbringliche Vergangenheit. Anrührend des Gedicht “Neige dich zu deinen Toten”, das auch die Schuldgefühle der Überlebenden, die Zweifel artikuliert: Ich hab Leben gewählt/mit dem ganzen Ballast.

Ilana Shmueli gelingt mit ihren Eltern 1944 die Flucht nach Palästina. Hier baut sie sich ein neues Leben auf, studiert Musikerziehung und Sozialpädagogik, heiratet den Musikwissenschaftler Herzl Shmueli, arbeitet als Sozialpädagogin in Tel Aviv. Nach außen hin erscheint dies wie ein Leben, das nach einem Bruch seinen erneuten Lauf nimmt. Doch dann die Wiederbegegnung mit Paul Celan 1965 in Paris, 1969 besucht er sie in Israel, es ist seine einzige Reise dorthin. Auch für Celan wird dieser Besuch zu einer Art Heimat- und Sprachsuche, er erlebt, wie seine ureigene deutsche Dichtersprache ihn zum Außenseiter macht - während Ilana Shmueli dabei ist, ihre Muttersprache zu verlieren. Die Exilerfahrung an unterschiedlichen Orten und die gemeinsame Verortung in Czernowitz verbindet sie - Ilana Shmueli wird Paul Celans letzte große Liebesbeziehung.

Für sie führt diese Lebens- und Liebeserfahrung jedoch auch sprachlich wieder in die Heimat zurück: Sie übersetzt später Paul Celans Gedichte in das Hebräische und beginnt dadurch, selber zu schreiben. Fast schon wortkarg anmutende Gedichte, die um diese Themenlandschaften des Exils, des Verlustes, der Konfrontation mit dem Tod, des Entkommens, der Flucht, des Weiterlebens, das Glück und Bürde zugleich ist, kreisen.

Im Jahr 2000 erscheint ihr Buch über Paul Celan „Sag, dass Jerusalem ist“. Der bewegende Briefwechsel, der bis zum Freitod des Dichters 1970 andauert, wird 2004 beim Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Ilana Shmueli arbeitet daran als Herausgeberin mit. In der Zwischenzeit sind erste Gedichte von ihr erschienen,  weitere Veröffentlichungen folgen, verlegt werden ihre Werke beim Rimbaud Verlag.

2009 erhält Ilana Shmueli den Theodor-Kramer-Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil. In der Begründung heißt es: “Spät und tief sind die Gedichte Ilana Shmuelis auf uns gekommen, wie aus einer anderen Zeit und einem anderen Raum. Ortlosigkeit und
Wortlosigkeit, die Erfahrung, unbeheimatet und sprachlos zu sein, ist eine der Wurzeln, aus denen ihre Dichtung hervorwächst. Und dennoch verbinden sich ihre Verse in äußerster Verknappung des Ausdrucks mit einem reichen Strom von Vorstellungen. Es ist eine große Lebendigkeit, die hier von sich zeugt, die gegen Enge, Kälte, Vorurteil anrennt. Shmuelis Dichtung ist “Zwischenruf, Einspruch, Widerwort, Aufschrei” (Matthias Fallenstein). Sie bezieht sich vielfältig auf die Poesie des Freundes Paul Celan und widersetzt sich ihr zugleich. In ihren Erinnerungen an eine Jugend im Czernowitz der Zwischenkriegszeit und ihrem Briefwechsel mit Celan öffnet Shmueli zugleich den Blick auf den bedeutenden kulturellen Hintergrund ihres Schreibens im Exil.”

Sie stirbt am 11. November 2011 in Jerusalem. Reden von Toten:/der Wortbruch am Unmitteilbaren/mit unkluger Zunge

Weitere Beiträge über jüdische Lyrikerinnen:
Mascha Kaléko - ein Herbstleben
Hedwig Lachmann - die stille, unangepasste Dichterin
Selma Meerbaum-Eisinger - Blütenlese

#Portrait. Ossip Mandelstam: Wilde Schreckensaugen…

So wie Rauschgoldengel glühn
Tief im Wald die Weihnachtsbäume;
Im Gebüsch: der Spielzeugwölfe
Wilde Schreckensaugen schieln.

Meine Trauer ist so alt
Wie der Freiheit leises Rufen;
Unbelebter Himmelskuppel
Ewig lächelnder Kristall!

Ossip Mandelstam (1891- 1938)

Ossip Mandelstam três

“Leichtfüßig, klug, geistreich, elegant, ja sogar exquisit, fröhlich, sinnlich, immer verliebt, redlich, hellsichtig und glücklich, selbst noch im Dunkel seiner Nervenkrankheit und des politischen Schreckens, jugendlich, ja fast jungenhaft, bizarr und kultiviert, treu und erfinderisch, lächelnd und geduldsam, hat uns Mandelstam eine der glücklichsten Dichtungen des Jahrhunderts geschenkt”, so schreibt Pier Paolo Pasolini später über den Dichter.

Am 27. Dezember vor 75 Jahren starb Ossip Mandelstam in einem Transitlager für Zwangsarbeiter bei Wladiwostok. Der 1891 in Warschau zur Welt gekommene Dichter wurde nicht einmal 48 Jahre alt. Mandelstam, der in Pawlowsk und Petersburg Kindheit und Jugend verbrachte, später in Paris, Heidelberg und dann wieder in Petersburg studierte, wurde jahrelang von der bolschewistischen und stalinistischen Staatsmacht schikaniert und verfolgt. Mandelstam war lebensfroh, sinnlich, aber auch scharfzüngig und schreckte vor Konflikten nicht zurück - ein Dichterleben, das im Gulag endete.

1933 verfasst Mandelstam ein Gedicht über Stalin, das mit den Zeilen endet:
“Jede Hinrichtung schmeckt ihm - wie Beeren,
Diesem Breitbrust-Osseten zu Ehren.”

Er hatte es nie niedergeschrieben, jedoch vorgetragen in einer kleinen Runde. Kurz darauf durchsucht die Geheimpolizei seine Wohnung, vermutlich aufgrund dieses Gedichts. 1934 wird er verhaftet, verurteilt und nach Woronesch verbannt. “Man hat mir alles genommen: das Recht auf Leben, auf Arbeit, auf ärztliche Fürsorge. Ich bin in die Stellung eines Hundes, eines Köters versetzt…Ich bin ein Schatten. Mich gibt es nicht. Ich habe nur das Recht zu sterben. Mich und meine Frau treibt man in den Selbstmord”, schreibt er im Januar 1937 in einem Brief. 1938 wurde er erneut zu Zwangsarbeit verurteilt – den Transport in das Arbeitslager in Sibirien überlebte er nicht. Seine Frau Nadeschda hatte die Gedichte auswendig gelernt – ihr ist es im wesentlichen zu verdanken, dass das Werk Mandelstams die Stalin-Diktatur überlebte. 1955 erschien in New York eine Neuausgabe seiner Gedichte und seiner Prosa, 1959 erstmals die Übertragung der Gedichte aus dem Russischen durch Paul Celan.

“Wie bei kaum einem seiner dichtenden Zeit- und Schicksalsgenossen in Russland - und diese Dichter, von denen das noch nicht zu Ende gedachte Wort Roman Jakobsons gilt, daß sie von ihrer Generation >vergeudet< wurden, heißen Nikolaj Gumiljow, Welemir Chlebnikow, Wladimir Majakowskij, Sergej Jessenin, Marina Zwetajewa - ist bei dem im Jahre 1891 geborenen Ossip Mandelstam das Gedicht der Ort, wo das über die Sprache Wahrnehmbare und Erreichbare um jene Mitte versammelt wird, von der her es Gestalt und Wahrheit gewinnt: um das die Stunde, die eigene und die der Welt, den Herzschlag und den Äon befragende Dasein dieses Einzelnen. Damit ist gesagt, in welchem Maße das Mandelstamsche Gedicht, das aus seinem Untergang wieder zutage tretende Gedicht eines Untergegangenen, uns Heutige angeht.”
Dies stellt der Dichter Celan seinen Übertragungen des Dichters Mandelstam voran - zwei Stimmen, die jede für sich und ihre Weise dem Untergang und dem Überleben geweiht waren.

Das leichte Leben nahm uns den Verstand:
Wein seit dem Morgen, abends dann der Kater.
Ist dieser hohle Frohsinn aufzuhalten,
Dein Wangenrot, besoffne Cholera?

Der Händedruck: ein Ritus voller Qualen,
Dann in den Straßen nächtliches Geküsse,
Wenn sie gewichtig strömen: all die Flüsse
Und die Laternen brennen wie die Fackeln.

Den Tod erwarten wir wie’n Märchenwolf,
Doch fürchte ich, vor allen andern stirbt
Er, dessen Mund ganz rot und so verwirrt,
Vor dessen Augen eine Locke rollt.

Zur Zeit der “Wiederentdeckung” Mandelstams im deutschsprachigen Raum zählten seine Gedichte in der Sowjetunion noch immer zum totgeschwiegenen Kulturerbe. Er fiel den stalinistischen “Säuberungen” nicht nur wegen seines freien, kritischen Geistes zum Opfer, sondern auch wegen seines Judentums - der nach wie vor in Russland existierende Antisemitismus äußerte sich (nicht nur, aber vor allem dort ganz offen) unter Stalin durch gezielte Verfolgung.

Doch Dichterstimmen können nicht für immer zum Schweigen gebracht werden - Celan stellte seinen Übertragungen ein Leitmotiv voran: es solle “zunächst die Chance gegeben sein, die unter den vielen die erste jeder Dichtung bleibt: die des bloßen Vorhandenseins.”

Man gab mir einen Körper - wer
sagt mir, wozu? Er ist nur mein, nur er.

Die stille Freude: atmen dürfen, leben.
Wem sei der Dank dafür gegeben?

Ich soll der Gärtner, soll die Blume sein.
Im Kerker Welt, da bin ich nicht allein.

Das Glas der Ewigkeit - behaucht:
mein Atem, meine Wärme drauf.

Die Zeichnung auf dem Glas, die Schrift:
du liest sie nicht, erkennst sie nicht.

Die Trübung, mag sie bald vergehn,
es bleibt die zarte Zeichnung stehn.

Umfangreiches Material zum Weiterlesen findet sich bei Planet Lyrik: http://www.planetlyrik.de/ossip-mandelstam-hufeisenfinder/2012/02/

2003 erschien die von Ralph Dutli verfasste Biographie „Meine Zeit mein Tier“ über Mandelstam. Hier gibt es eine u1_978-3-10-048779-7Leseprobe zum Download: http://www.ralph-dutli.de/mandelstam/txtprbe/bio_mandelstam_probe.pdf

Das Gesamtwerk in Kassette sowie als Taschenbuchausgaben gibt es bei den
S. Fischer Verlagen.

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (3): Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942)

Die Innenstadt von Czernowitz, einstmals blühende Kulturstadt und Heimat großer Dichter.

Poem (Auszug)

Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein.
Nein…

Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942).

Das Lachen, das Lieben, das Kämpfen, das Hassen – für all dieses blieb Selma Meerbaum-Eisinger nur eine kurze Lebensspanne vergönnt. Gerade einmal 18 Jahre alt durfte diese junge Frau werden, die inzwischen zu den großen Dichtern aus Czernowitz (heute in der Ukraine gelegen) gezählt wird: Wie Paul Celan und Rose Ausländer stammt sie aus dieser multikulturellen, vielsprachigen osteuropäischen, vor allem jüdisch geprägten Gemeinde, die einst Hauptstadt des Kronlandes Bukowina der österreichisch-ungarischen Monarchie war. Anders als Paul Celan, mit dem sie verwandt war, und Rose Ausländer überlebt Selma Meerbaum-Eisinger den Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Rassenideologie jedoch nicht. Nach dem Einmarsch rumänischer und deutscher Truppen im Juli 1941 wurde Selmas Familie in das Ghetto von Czernowitz gezwungen und bald darauf ins Arbeitslager Michailovka nach Transnistrien verschleppt. Dort stirbt Selma Meerbaum-Eisinger am 16. Dezember 1942 entkräftet am Flecktyphus. Was von ihr bleibt, sind 58 Gedichte.

Ja (1941)

Du bist so weit.
So weit wie ein Stern, den ich zu fassen geglaubt.
Und doch bist du nah -
nur ein wenig verstaubt
wie vergangene Zeit.
Ja.

Du bist so groß.
So groß wie der Schatten von jenem Baum.
Und doch bist du da -
nur blaß wie ein Traum
in meinem Schoß.
Ja.

Bis 1980 dauert es, bis dieses literarische Vermächtnis in Deutschland veröffentlicht wird. Der deutsche Literaturhistoriker Jürgen Serke gab 1980 diese Gedichte unter dem Titel Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund im renommierten Verlag Hoffman und Campe, Hamburg, mit seinem Essay Geschichte einer Entdeckung heraus. Zwei von Selmas Freundinnen, die inzwischen in Israel lebten, bewahrten die Gedichte auch in ihrer neuen Heimat auf. Hersch Segal, einst Klassenlehrer des Mädchens im jüdischen Lyzeum von Czernowitz, brachte die Poeme schließlich 1976 in einer kleinen Auflage im Privatdruck heraus. Diese „Blütenlese“ - so hatte Selma ihr blaues Album, in das sie die Zeilen schrieb, genannt - gelangt schließlich über die Familie Paul Celans an Hilde Domin. Und die große jüdische Lyrikerin sorgt letztlich dafür, dass Serke und andere von diesen Gedichten erfahren.

Ein Denkmal erinnert an die ermordeten Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Czernowitz.

Fast vier Jahrzehnte benötigte es, bis Selma Meerbaum-Eisinger dem Vergessen entrissen wurde. Unbefangen, unbeeindruckt lesen kann man ihre Zeilen heute nicht - nicht, wenn man weiß, welches Schicksal sie erwartete. Zunächst sind die Gedichte der jungen Frau Natur- und Liebesgedichte - gewidmet ihrem ein Jahr älteren Freund Lejser Fichman, den sie in der zionistischen Jugendbewegung kennengerlernt hatte. Selma, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, träumt mit ihm von einer besseren Welt. Die Auswanderung nach Palästina ist ein Traum, ein Ziel. Doch in allen Zeilen liegt schon diese Ahnung inne, dass das Leben für diese beiden jungen Menschen etwas anderes bereithält.

Lied (1939)

Heute tatest du mir weh.
Rings um uns war Schweigen nur,
Schweigen nur und Schnee.
Himmel war, nicht wie Azur,
blau jedoch und voll mit Sternen.
Windeslied erklang aus fernsten Fernen.

Heute warst du mir ein Schmerz.
Häuser waren da, so weiß verschneit,
alle in des Winters Kleid.
Ein Akkord in tiefer Terz
war in unsrer Schritte Klang.
Bahnsirenen heulten lang…

Heute war es wunderschön.
Schön wie tiefverschneite Höh’n,
eingetaucht im Abendglutenring.

Heute tatest du mir weh.
Heute sagtest du mir: geh!
Und ich - ging.

Czernowitz, einst noch rumänisch, wird an die Sowjetunion abgetreten. Die Hoffnung, dies sei für die jüdische Bevölkerung die Rettung, trügt - bis 1941 werden Tausende nach Sibirien verschleppt. 1941 wird Czernowitz erneut von den Rumänen besetzt - und die Verfolgung der Juden nimmt ihren ganzen grausamen Verlauf: Verlust der Bürgerrechte, Einführung des gelben Judensterns, Zwangsarbeit, Ghettoisierung, Deportation. Lejser Fichman stirbt auf der Flucht, Selma, ihre Mutter und der Stiefvater verlieren im Arbeitslager ihr Leben.

Die Gedichte zeugen von einem hellwachen, aufgeweckten, neugierigen und lebensfrohen Geist, sie zeigen die Handschrift eines Mädchens, das zwar noch jung, aber schon von ungeheurer Sensibilität war. Ihr Einfühlungsvermögen spricht für eine große Reife. Manches wirkt vielleicht sprachlich noch ein wenig aus dem Takt, ein wenig zu schwärmerisch. Doch selbst im Moment des kritischen Lesens spürt man dies große Talent. Und die Frage steht im Raum: „Was hätte aus ihr noch werden können?“

Hilde Domin schrieb über Selma Meerbaum-Eisinger und ihre Begabung: „Trotz des >Sonderschicksals< ist dies ein Werk, das deutlich ins Gut der deutschen Poesie gehört, nicht der spezifisch jüdischen. Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell und so bedroht.“

Poem (1941)

Die Bäume sind von weichem Lichte übergossen,
im Winde zitternd glitzert jedes Blatt.
Der Himmel, seidig-blau und glatt,
ist wie ein Tropfen Tau vom Morgenwind vergossen.
Die Tannen sind in sanfte Röte eingeschlossen
und beugen sich vor seiner Majestät, dem Wind.
Hinter den Pappeln blickt der Mond aufs Kind,
das ihm den Gruß schon zugelächelt hat.

Im Winde sind die Büsche wunderbar:
bald sind sie Silber und bald leuchtend grün
und bald wie Mondschein auf lichtblondem Haar
und dann, als würden sie aufs neue blühn.

Ich möchte leben.
Schau, das Leben ist so bunt.
Es sind so viele schöne Bälle drin.
Und viele Lippen warten, lachen, glühn
und tuen ihre Freude kund.
Sieh nur die Straße, wie sie steigt:
so breit und hell, als warte sie auf mich.
Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt
die Sehnsucht, die sich zieht durch mich und dich.
Der Wind rauscht rufend durch den Wald,
er sagt mir, daß das Leben singt.
Die Luft ist leise, zart und kalt,
die ferne Pappel winkt und winkt.

Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein!
Nein.
Das Leben ist rot,
Das Leben ist mein.
Mein und dein.
Mein.

Warum brüllen die Kanonen?
Warum stirbt das Leben
für glitzernde Kronen?

Dort ist der Mond.
Er ist da.
Nah.
Ganz nah.
Ich muß warten.
Worauf?
Hauf um Hauf
sterben sie.
Stehn nie auf.
Nie und nie.
Ich will leben.
Bruder, du auch.
Atemhauch
geht von meinem und deinem Mund.
Das Leben ist bunt.
Du willst mich töten.
Weshalb?
Aus tausend Flöten
weint Wald.

Der Mond ist lichtes Silber im Blau.
Die Pappeln sind grau.
Und Wind braust mich an.
Die Straße ist hell.
Dann…
Sie kommen dann
und würgen mich.
Mich und dich
tot.
Das Leben ist rot,
braust und lacht.
Über Nacht
bin ich
tot.

Ein Schatten von einem Baum
geistert über den Mond.
Man sieht ihn kaum.
Ein Baum.
Ein
Baum.
Ein Leben
kann Schatten werfen
über den
Mond.
Ein
Leben.
Hauf um Hauf
sterben sie.
Stehn nie auf.
Nie
und
nie.

Weitere Beiträge über jüdische Lyrikerinnen:
Mascha Kaléko - ein Herbstleben
Hedwig Lachmann - die stille, unangepasste Dichterin

Anna Mitgutsch: Die Welt, die Rätsel bleibt (2013).

ImageKann man mit Sprache das Unsagbare benennen?”

Anna Mitgutsch ist Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin. Ich kannte bisher nur ihre belletristische Seite – von ihren Romanen hatte ich „Die Züchtigung“ und „Familienfest“ gelesen. Die Züchtigung ist ein Buch, das einen lange nicht loslässt. Siehe hier die aktuelle Besprechung bei den Schreibtischmetamorphosen: Rezension “Die Züchtigung”Familienfest” handelt von einer jüdischen Familie in den USA und das Ringen um ihre Identität. Anna Mitgutsch ist eine Schriftstellerin mit einer klaren, leisen, streckenweise auch sehr lyrischen Sprache.

Ein Stil, den offenbar auch die Wissenschaftlerin pflegt. Das ist einerseits erfreulich: Da ist keine, die dem Leser meint, die Welt erklären zu müssen. Da ist eine, der die Welt ebenso ein Rätsel bleibt, dem sie sich fragend, fast schon zögerlich annähert. Wo andere Statements abgeben, wirft Anna Mitgutsch Fragen auf: Das ist das Kennzeichnende ihres Essaybandes „Die Welt, die Rätsel bleibt“, der 2013 beim Luchterhand Literaturverlag erschienen ist. 17 Essays, in vier Kapitel gegliedert: Schriftstellerportraits, Literatur, Transzendenz, Fremdsein. Schon die letzten beiden Kapiteltitel verdeutlichen: Nichts erschließt sich der Grazerin auf den ersten Blick, die Welt ist kein offenes Buch.

Diese Qualität, die Fähigkeit, Fragen zu stellen, statt Antworten vom Band zu liefern, macht die Wissenschaftlerin aus. Es macht dem Leser das Buch jedoch auch den Zugang mitunter schwer. Gerade dort, wo man eventuell konkrete Informationen erwartet, also bei den Schriftsteller-Portraits, werden so viele Fragen aufgeworfen, dass ab und an das Ziel, die Absicht des Portraits hinter den Fragen verschwindet. So in dem „nachgetragenen“, also fiktiven Brief an Sylvia Plath, der die Abgrenzung zwischen Kunst und Leben zu ergründen versucht. Übrigens ist jedem Beitrag eine Frage als Leitmotiv vorangestellt.

Anna Mitgutsch versucht also nicht, mit Sprache das Unsagbare zu benennen, aber sie unternimmt den Versuch, die Welt der Literatur, der Sprache, der Philosophie etwas zu enträtseln. Besonders stark, informativ und detailreich sind in diesem Essayband die Beiträge über jüdische Literatur und Literaten sowie der Essay „Die Grenzen der Integrität - Überlegungen zur Situation der Künstler und Schriftsteller in totalitären Diktaturen“. Allein ihre Gedanken über den umstrittenen Begriff der „inneren Emigration“ lohnen die Lektüre dieses Buches schon.

Zitat:
“Der Emigrant Hans Sahl nennt die Zeit von 1933 bis 1945, die Zeit von Verfolgung und Flucht, die Zeit der Diktatur und des Zivilisationsbruchs, eine >Geschichte vom Leben und Sterben einer Kultur<. Wer sich mit den Biographien der Vertriebenen beschäftigt hat, mit den gewaltsam abgebrochenen Leben von Walter Benjamin, Kurt Tucholsky, Arthur Koestler, Stefan Zweig, Ernst Toller, Walter Hasenclever, die Flucht und Verzweiflung in den Tod trieben, wer die literarischen Zeugnisse der Entbehrungen, Erniedrigungen und Verluste der Emigranten gelesen hat, die ihre Flucht überlebten, dem erscheint es unangemessen, ja zynisch, das Wort Emigration im Zusammenhang mit jenen zu gebrauchen, die in einer entvölkerten Kulturszene plötzlich ins Zentrum rückten und ungeschoren blieben oder zu Ehren kamen, auch wenn sie beteuerten, es sei gegen ihren Willen geschehen. Es wäre aber auch frivol, alle, die ihre Heimat nicht verlassen konnten oder wollten, gleichwertig nebeneinander zu stellen, denn es gab einen literarischen Widerstand, der tödlich war, dessen Mittel mutiger und weniger verdeckt waren, so daß sie nicht nur späteren Germanisten, sondern auch der Gestapo und der Zensurbehörde auffielen. Die Lyrikerin Alma Johanna Koenig, die Schriftsteller Albrecht Haushofer und Hans Vogl mögen keine berühmten Autoren gewesen sein, aber sie büßten mit dem Leben für ihren Widerstand, der mit ihrem Werk in Einklang stand.”

Aus dem Inhalt: Essays unter anderem über Elias Canetti, Paul Celan, Emily Dickinson, Franz Kafka, Imre Kertesz, Herman Melville, Amos Oz, Sylvia Plath, Rainer Maria Rilke, Marlen Haushofer, Isabella Stewart Gardner, und andere.

Über die Autorin: Anna Mitgutsch wurde in Linz geboren. Sie unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Solothurner Literaturpreis.

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 416 Seiten, Luchterhand Literaturverlag, ISBN: 978-3-630-87418-0, € 19,99

Link zur Leseprobe beim Verlag: http://www.randomhouse.de/Buch/Die-Welt-die-Raetsel-bleibt/Anna-Mitgutsch/e437891.rhd?mid=4&serviceAvailable=true&showpdf=false#tabbox

Otto Dov Kulka: Landschaften der Metropole des Todes (2013). Aharon Appelfeld: Geschichte eines Lebens (1999).

Ringen um die Sprache.
Ringen um die Erinnerung.

„Damals baute das Vergessen sich seine tiefen Keller, und die nahmen wir später mit nach Israel. (…)
Dieses Buch ist keine Zusammenfassung, sondern eher der – wenn man so will – verzweifelte Versuch, die verschiedenen Teile meines Lebens wieder mit einer Wurzel zu verbinden, aus der sie erwachsen sind.“

Aharon Appelfeld, „Geschichte eines Lebens“, 1999

„Für mich endete diese Reise als etwas, das eigentlich niemals in der Freiheit ankam. Ich blieb in jener Metropole, ein Gefangener jener Metropole, dieses unabänderlichen großen Gesetzes, das keinen Platz ließ für eine Rettung, für eine Verletzung dieser fürchterlichen „Gerechtigkeit“, der zufolge Auschwitz immer Auschwitz bleiben muss. So blieb mir das unabänderliche Gesetz erhalten, und ich blieb in ihm gefangen (…).“

Otto Dov Kulka, „Landschaften der Metropole des Todes“, 2013

In einer Zeit, in der es möglich ist, den Überdruss an der Erinnerungsarbeit an die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte und des jüdischen Volkes öffentlich zu formulieren, in einer Zeit, in der Gedenken mancherorts zur bloßen Form und Formel erstarrt, in dieser Zeit ringen die Opfer dennoch immer noch um ihre Sprache, ihre Sprache, ihre Geschichte, ihre Würde.

Mag mancher sich von der scheinbaren „Monotonie des Grauens“ abwenden, uninteressiert oder überdrüssig, so möchte man jenen die Zeugnisse derer geben, die die Hölle der Vernichtung überlebten: Für das Individuum gibt es keine Monotonie im Grauen, die Grausamkeit führte stets zur individuellen Zer- oder Verstörung. Zu den literarischen Zeugnissen trugen Imre Kertész, Jorge Semprun, Louis Begley (Besprechung hier: “Lügen in Zeiten des Krieges”), Primo Levi und viele andere bei. Doch Schreiben ist hier mehr als das Wenden an die Außenwelt, als öffentliche Erinnerungsarbeit– es ist vor allem Schreiben, um die Autonomie über das eigene Leben nach der Versklavung wiederzuerlangen.

Eindrucksvoll deutlich machen dies die Bücher zweier Autoren, die bereits als Kinder in die Maschinerie des Todes gerieten: Aharon Appelfeld und Otto Dov Kulka. Beide konnten entrinnen – um einen hohen Preis.

Elternlos, heimatlos, sprachlos.

414_04593_129708_xxlOtto Dov Kulka musste fast 80 Jahre alt werden, bis er die Geschichte einer Kindheit, die in Theresienstadt zu Ende ging, in Sprache festhalten konnte. Seine nun erschienenen „Landschaften der Metropole des Todes – Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und Vorstellungskraft“ sind ein eindrückliches Ringen – das Ringen um die Sprache, die das Unsagbare erfassen kann, das Ringen um die eigene Geschichte. „Auf der Suche nach Geschichte und Gedächtnis“ ist ein Kapitel überschrieben: Zentral in seinem Lebenswerk sei die historische, wissenschaftliche Forschung zu Fragen des Holocaust gewesen, ein Mittel, biografische Elemente auszuklammern, die Distanz zu wahren. Aber es gelingt nicht, die Vergangenheit unter Verschluss zu halten, Auszüge aus den Tagebüchern und festgehaltene Träume verdeutlichen dies.

Die Erinnerung bricht sich Bahn – und dabei sind nicht prägend Szenen haltloser Gewalt. Ergreifender ist das, was Kulka aus seinem Gedächtnis als die Erfahrungen eines Kindes herausholt: Der blaue Himmel mit Silberstreifen über dem Todeslager, „die große Stummheit, die entsetzliche Stille“, die über Auschwitz während einer Hinrichtung lastet, der Kinderchor, der unweit der Krematorien die „Ode an die Freude“ einstudiert:

„Wenn ich die Welt von Auschwitz und ihre Realität betrachte – als Junge von zehn Jahren habe ich diese scharfe, brutale, zerstörerische Dissonanz und Pein wohl nicht gespürt, die jeder erwachsene Häftling erlebte, der aus seiner Welt der Kultur mit ihren Normen der Grausamkeit und des Todes geworfen wurde. Diese Konfrontation, die jeder Häftling, der am Leben blieb, durchlebte und die fast immer einen Teil des Schocks ausmachte, der ihn oft schon nach kurzer Zeit niederstreckte – sie existierte für mich nicht. Denn das war die erste Welt und die erste Lebensordnung, die ich kennenlernte: die Ordnung der Selektionen und der Tod als einzige Gewissheit, die die Welt regiert.“

Das Gesetz des „Großen Todes“ als kindliche Urerfahrung – dem zu entkommen, „damit zu ringen, mit der hoffnungslosen Aussichtslosigkeit, und sich dennoch verzweifelt zu bemühen, ihm zu entkommen, wie ich es dort versucht habe, war eine prägende Erfahrung.“ Und dem zu entkommen, einen Abschluss zu finden, dafür scheint auch Kulkas Buch geschrieben worden zu sein.

Aharon Appelfeld klammert die Lagererfahrung in seiner „Geschichte eines Lebens“ dagegen bewusst aus. Ein Entkommen und ein Wiederfinden der Kindheit davor, die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, das Wiederfinden der Sprache als Heimat – das sind die Themen,  mittels derer die beiden Autoren nebst ihrer vergleichbaren Biographie, sich intensiv berühren. Auch Appelfeld, der sich als Literat jahrzehntelang mit der Shoah auseinandersetzte, braucht lange, um zu seiner eigenen Geschichte zu gelangen.

„Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind bereits über fünfzig Jahre vergangen. Vieles habe ich vergessen, vor allem Orte, Daten und die Namen von Menschen, und dennoch spüre ich diese Zeit mit meinem ganzen Körper. Immer wenn es regnet, wenn es kalt wird oder stürmt, kehre ich ins Ghetto zurück, ins Lager oder in die Wälder, in denen ich so lange Zeit verbracht habe. Die Erinnerung hat im Körper anscheinend lange Wurzeln. Manchmal genügt der Geruch von gammeligen Stroh oder ein Vogelschrei, um mich weit weg und tief in mich hineinzuschleudern.“

Appelfeld erzählt in nüchternem, aber deshalb auch umso anrührenderem Ton die Geschichte eines Schriftstellers, der sein Leben lang versucht, eine Sprache zu finden – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Die Sprache der geliebten Mutter ist die Sprache ihrer Mörder. Das Jiddische ist die Sprache der Großeltern, das in Israel als rückständig abgelehnt wird. Ruthenisch, rumänisch, deutsch, jiddisch – die Vielsprachigkeit seiner Heimat, sie droht verloren zu gehen, während das Hebräische ihm nicht zuwächst. Der Verlust der Worte, das Ringen um sie – das ist auch das Ringen um die innere und äußere Heimat. Das Buch endet bezeichnenderweise mit der Auflösung des Clubs „Das neue Leben“, der 1950 von Überlebenden aus Galizien und Bukowina in Jerusalem gegründet worden war. In der neuen Zeit hat das alte Leben keinen Platz mehr – ein melancholischer Fingerzeig auf den Niedergang einer ganz eigenen Kultur. Appelfeld stammte aus Czernowitz – jener rumänischen Stadt, in der das geistige Leben, vor allem aber die jüdische Kultur ein blühendes Leben erlangte. Paul Celan, Rose Ausländer, Klara Blum – nur einige der Schriftsteller, die mit dieser Stadt verbunden sind.

Die Wörter können Vergangenes weder zurückholen noch ungeschehen machen. Appelfeld bleibt skeptisch, was die der Sprache zugeschriebene Heilkraft betrifft. Aber – auch geprägt durch die  Begegnung mit Samuel Agnon (1888-1970) – wird sie nicht nur zum Mittel, um das Stammesgedächtnis zu erhalten, eine für ihn denkbare Definition des Schriftstellers. Sondern auch, um das Schweigen zu überwinden:

„Mein Schreiben begann mit einem starken Hinken. Die Erlebnisse des Krieges lasteten auf mir, und ich wollte sie weiter überwinden. Über meinem bisherigen Leben wollte ich ein neues erbauen. Es brauchte Jahre, bis ich zu mir zurückkehrte, und als es soweit war, hatte ich noch einen langen Weg vor mir. Wie gibt man diesem brennenden Inhalt Form? Wo anfangen? Wie die Teile zusammenfügen? Und mit welchen Worten?“.

Otto Dov Kulka und Aharon Appelfeld: Es ist gut, dass sie ihre Sprache wieder gefunden haben.

Otto Dov Kulka, geb. 1933 in der Tschechoslowakei, kommt mit seiner Mutter zunächst nach Theresienstadt, 1943 in das sogenannte Familienlager nach Auschwitz-Birkenau. Dort trifft er wieder mit seinem Vater Erich zusammen. Die beiden Männer überleben. Seit 1949 lebt Kulka in Israel und widmet sich der Geschichtsforschung. Er ist emeritierter Professor für die Geschichte des jüdischen Volkes an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er wird am 18. November 2013 mit dem Geschwister-Scholl-Preis in München ausgezeichnet.

„Landschaften der Metropole des Todes“, Deutsche Verlagsanstalt DVA, 192 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-421-04593-5

Aharon Appelfeld, geb. 1932 bei Czernowitz (heute Ukraine), verliert beide Eltern im Holocaust. Ihm gelingt die Flucht aus einem Lager, er schlägt sich auf Bauernhöfen und im Wald durch. Seit 1946 lebt er in Israel. Er ist emeritierter Professor für hebräische Literatur an der Ben-Gurion-Universität in Beerscheba.

„Geschichte eines Lebens“, rororo-Taschenbuch, 208 Seiten, 8,99 Euro, ISBN 978-3-499-24247-2

Aufmerksam machen möchte ich noch im Zusammenhang mit der Heimatstadt von Aharon Appelfeld auf das Projekt „Zeitzug“: http://www.zeitzug.com

Klaus Wagenbach: Die Freiheit des Verlegers (2010).

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„Wer handelt, macht Fehler; der Bürostuhl wird es nie begreifen.“

Klaus Wagenbach, „Die Freiheit des Verlegers“, selbstverständlich erschienen im Wagenbach Verlag.

Büchermacher müssen wohl Überzeugungstäter sein (mit einigen Ausnahmen). Vor allem  dann, wenn sie gegen den Strich bürsten, dem Mainstream aus dem Weg gehen, wenn ihr Programm dem Zeitgeist und politischer Opportunität entgegensteht. Hierzulande steht dafür Klaus Wagenbach. Als ich mit dem bewussten Lesen begann, also über die Büchergilde-Auswahl im Schrank der Eltern und der Jugendbuchecke der städtischen Bücherei herausgewachsen war, wanderten mir die ersten Quarthefte zu. Diese schwarzen dünnen Bände wecken heute noch Unmengen an Erinnerungen. Und sie waren der Einstieg in die Auseinandersetzung mit Lyrik – das erste Quartheft, das ich bekam, waren Gedichte von Erich Fried. Heute noch, 30 Jahre später, kann ich mich SCHWARZ darüber ärgern, dass ich es in einem Anfall juveniler Schwärmerei einem Angebeteten verehrt habe. Der hat es nicht verdient – so tief sitzen literarische Verluste.

Inzwischen reihen sich an die schwarzen Quarthefte die roten Salto-Bücher – Wagenbach ist optisch kenntlich, inhaltlich ebenso. Der Verlag gestaltet ein Programm, das auch eine bestimmte Haltung zur Welt, zur Politik, zur Gesellschaft umreißt. Was diese Haltung ausmacht, woher sie kommt, welche Wurzeln sie hat – dazu gibt es einen Schlüssel. In Buchform selbstverständlich: 2010 erschien zum 80. Geburtstag des Verlegers ein schöner Sammelband in bibliophiler Aufmachung – kenntlich am Rot der SALTO-Bücher, aber weitaus großformatiger. Die „Erinnerungen, Festreden, Seitenhiebe“ – alle aus der Feder des bekennenden Linken, Träger roter Socken und Begründer der Toskana-Fraktion (letzteres sei ihm verziehen, trotz all der Konsequenzen: unter anderem der unendlichen Reihe von Ausstellungen mit Pinienbildern und Selbstgetöpfertem in Schulaulen und Behörden) – sind nicht nur Autobiographie, sondern auch Dokumentation einer Demokratie und deren Schwierigkeiten im Umgang mit Andersdenkenden und Andershandelnden.

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Wagenbach ist der deutsche Verleger, der von sich behaupten kann, der Vertreter seines Standes mit den meisten Vorstrafen zu sein, der aus politischen Gründen vor Gericht stand und von Otto Schily, in dieser Zeit als RAF-Anwalt bekannt, vertreten wurde, zeigt mit diesem Buch auch, wer er ist und warum er die Bücher gemacht hat, die er macht. „Die Freiheit des Verlegers“ ist ein Konvolut an autobiographischen Texten über Familie und Herkunft (an denen deutlich wird, dass Wagenbach auch ein sehr guter Schriftsteller ist), an festgehaltenen Erinnerung zum Einstieg in das Verlagswesen, an Aufsätzen, Interviews, Essays und Reden. Die Texte spiegeln die „deutschen Verhältnisse“ und die „Intimsphäre der Bundesrepublik“, als sie noch jung und ungefestigt und die Verhältnisse demzufolge auch ungestüm war, wieder.

„Die Folgen von Büchern sind schwer abschätzbar. Wenn wir hier einmal die Folgen der Verbreitung der Bibel erörtern würden – was kämen denn da alles für Folgen heraus?“ Diese Frage stellt Wagenbach 1971 in einem Interview in der ZDF-Sendung „Aspekte“. Und weiter: „Das andere ist: Man kann sich als Verleger keine Zensur einbauen, schon gar keine, die sich nach den momentanen Vorstellungen einer Gesellschaft richtet. Nehmen wir ein Beispiel, das auch alle Zuschauer kennen: die Titelbilder der Illustrierten stern. Wenn die schönen Nackten, die heute die Titelseiten des stern zieren, an derselben Stelle vor zehn  Jahren erschienen wären, wäre der stern damals beschlagnahmt worden. Das Gesetz hat sich in dieser Zeit nicht geändert hat, was sich geändert hat, das ist die Auslegung.“

Auch unter diesem Gesichtspunkt lassen sich die Erinnerungen Wagenbachs im Jahre 2013 mit großem Interesse lesen – um zu prüfen, inwieweit von dort bis zum heutigen Stand der Dinge Weiterentwicklung oder Rückschritt geschehen ist.

Die Texte aus fünf Jahrzehnten zeugen von den „wilden Jahren“ eines linken Verlages. Sie geben einen spannenden Rückblick auf die Umbruchjahre der jungen Republik und deren politische Verhältnisse. Nicht alles mag den Nachgeborenen noch verständlich sein, von manchem distanzierte sich Wagenbach auch selbst in späteren Jahren oder veränderte seinen Blick darauf – so beispielsweise auch von Inhalten der Grabrede auf Ulrike Meinhof, die dennoch abgedruckt ist in diesem Buch. Zugleich klingt aus diesen Essays nach wie vor die Aufbruchstimmung dieser jungen Generation, der Wille zur Veränderung heraus, der Kampf gegen die Restauration von mentalen Verhältnissen, die Deutschland bereits mehrfach mit in den Abgrund geführt hatten. Wenn die Republik und Politik heute bunter sind als in den grauen 60er Jahren – dann haben auch die schwarzen und roten Wagenbach-Bücher daran ihren Anteil.

Ein großer Bereich des Bandes dreht sich selbstverständlich jedoch vor allem um die Liebe zum Büchermachen, die Liebe zum Buch an sich, um Autoren und Verleger. Die Texte sind ein Streifzug durch das literarische Leben, teils von amüsanter Bissigkeit, teils mit großer Wärme und Liebe zu „seinen“ Autoren geschrieben – erinnert wird an ganz Große wie Stephan Hermlin, Johannes Bobrowski, Paul Celan, Ingeborg Bachmann und vor allem an Erich Fried, dessen Hausverlag Wagenbach war. Sein Gedicht von der Liebe – es passt ebenso auf die eigentümliche Liebe eines Verlegers zum Geschäft des Büchermachens.

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„Frei und listig“ muss ein Verleger sein, meint Wagenbach. Das ist er: Frei, listig und lustig.
Zum Weiterlesen sei ein Blick auf die Internetseite des Verlags empfohlen – vorangestellt ist der Verlagsgeschichte dieses Programm:

» Man verlegt entweder Bücher, von denen man meint, die Leute sollen sie lesen, oder Bücher, von denen man meint, die Leute wollen sie lesen. Verleger der zweiten Kategorie, das heißt Verleger, die dem Publikumgeschmack dienerisch nachlaufen, zählen für uns nicht - nicht wahr?«

Kurt Wolff

Warum so verlegen?

Der Verlag ist unabhängig und macht davon Gebrauch, seine Meinungen vertritt er auf eigene Kosten. Er ist nicht groß, aber erkennbar. Seine Arbeit dient nicht dem Profit, sondern folgt inhaltlichen Absichten:

Wir veröffentlichen Bücher aus Überzeugung und Vergnügen, mit Sorgfalt und Ernsthaftigkeit. Wir wollen unbekannte Autoren entdecken, an Klassiker der Moderne erinnern und unabhängigen Köpfen Raum für neue Gedanken geben. Es erscheinen Literatur, Geschichte, Kunst- und Kulturgeschichte, Politik aus den uns geläufigen Sprachen: Italienisch, Spanisch, Englisch, Französisch und natürlich Deutsch. Und unsere Bücher sollen schön sein, aus Zuneigung zum Leser und zum Autor und als Zeichen gegen die Wegwerfmentalität.

http://www.wagenbach.de/der-verlag.html