Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927)

Mit einer Art erschöpften Stimme begann Posnanski, während der alte Herr seinen Kaffee, schwarz, stark gesüßt, ausnippte: „Wir sind keine Jünglinge. Unsre Gefühle haben die Pflicht, den Weg über Einsicht und Erwägung zu nehmen, bevor sie in die Entschlußsphäre münden…Uns ist vollkommen klar, in einer Zeit wie dieser sieht Schieffenzahn das Leben eines Einzelnen so unbeträchtlich wie einen Roßkäfer. Über die Zulänglichkeit dieser Blickart streiten, heißt den Krieg selbst zur Debatte stellen, was zwischen einem Militärrichter und einem aktiven General im Jahre 1917 sein Komisches hätte. Über Sinn und Unsinn von Kriegen haben reife Leute seit einigen tausend Jahren entscheidende Einsichten geäußert. Der Krieg ist gründlich widerlegt, und zum Beweise sitzen wir beide hier in Uniform, und unten tippt Siegelmann den neuesten Heeresbericht. Wer der Meinung ist, das Lebendige lasse sich nicht beeinflussen, der muß für Krieg sein.“

Arnold Zweig, „Der Streit um den Sergeanten Grischa“, 1927.

Kostümdesign für eine Aufführung des Sergeanten Grischa von George Grosz: http://www.moma.org/collection_ge/object.php?object_id=33869

Der große Romancier Arnold Zweig läutete mit diesem Antikriegsbuch eine Wende ein – waren zuvor, nach Ende des 1. Weltkrieges, vorwiegend Schlachtenbeschreibungen und national-patriotische Pamphlete erschienen, war der „Sergeant Grischa“ das erste ausgesprochene kriegs- und systemkritische Buch, dem weitere dieser Art folgten – unter anderem „Jahrgang 1902“ und „Im Westen nichts Neues“, beide bereits hier auf dem Blog besprochen – und doch ist der Roman einzig. Er machte seinen Autoren nicht ohne Grund weltberühmt.

„Der Streit um den Sergeanten Grischa“ birgt Elemente einer Schwejkiade – wenn auch mit tragischem Ausgang. Anhand der Geschichte über einen tatsächlich vorgekommenen Justizirrtum entblößt Zweig (1887-1968) vor allem den Irrsinn eines militärischen Justizapparates, der der Menschlichkeit und Gerechtigkeit verlustig ging, in dem das Einzelschicksal nicht zählt und Justitia tatsächlich blind ist: Blind vor Unmenschlichkeit, blind, weil im „anderen“ nur der Feind gesehen wird, der Mensch jedoch verloren geht. Das Geschehen ist schnell umrissen: 1917, als in Russland bereits die Oktoberrevolution alles umwälzt, fliegt der russische Soldat Grischa aus deutscher Gefangenschaft, nur ein Ziel vor Augen: Heim zu Weib und Kind. Mit falscher Identität ausgestattet, wird er erneut von Deutschen aufgegriffen und als angeblich russischer Spion verurteilt. Selbst als er seine eigentliche Identität nachweisen kann, hält ein Oberkommandierender (Schieffenzahn) aus Prinzipientreue am Urteil fest – gegen die Intervention einiger Militärs, die sich, im Gegensatz zu den Prinzipien der Technokraten, alter soldatischer Ehrenbegriffe verpflichtet fühlen. Letztendlich wird das Todesurteil vollstreckt.

Zweig braucht keine Beschreibungen von Schlachtengräueln, um die Unmenschlichkeit des Krieges aufzuzeigen – tatsächlich spielt der Roman hinter den Fronten, zwischen die Grischa gerät. Zweig zeigt mehr den Mangel, die Not, auch die Langeweile auf, die das Leben der Soldaten und der Bevölkerung prägt. Vor allem aber zielt er mitten in das Herz des Militärs, trifft die Begriffe von Soldatenehre und Gerechtigkeitssinn, die in diesem Krieg (und nicht nur in diesem) verloren gingen. „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ ist zudem eine wunderbar zu lesende Parabel über die Menschlichkeit, die dennoch zwischen Einzelnen – so zwischen Grischa und seinen deutschen Bewachern – nicht verloren geht, über Zivilcourage, über den Wert von Werten, an denen man auch gegen Widerstände festhält bis zum bitteren Ende.

„Es sind die Regeln des Krieges, die lediglich mit Konsequenz verfolgt werden – und deshalb nur diese eine Lösung kennen“, schrieb der Literaturwissenschaftler Frank Hörnigk 2003 in einem Nachwort zum Roman. „Das dagegenstehende Wissen um die wahre Geschichte, um die tatsächliche Unschuld Grischas, wie auch die beschwörenden Appelle an die Moral und Gesittung des Gemeinwesens – und seines zwangsläufigen Niederganges im Falle des Versagens – dürfen nicht als bloße Gesten abgetan werden, aber sie bleiben letztendlich romantische Träume einer moralischen Verfaßtheit jenseits aller praktischen Erfahrungen – und nicht nur der des Krieges (…). Was bleibt, ist allein ein Anspruch auf Gerechtigkeit und Würde seines eigenen Sprechens – und ein untilgbares Gefühl der Liebe für die unter der Gefährdung ihrer Menschlichkeit leidenden Individuen.“

Volker Weidermann schrieb in „Das Buch der verbrannten Bücher“:
„Der linke Preuße und Jude Arnold Zweig hatte mit dem Grischa ein zutiefst preußisches, systemanklagendes Buch geschrieben. Er hat seinen Plan später so erklärt: `Wie, frage ich, widerlegt man ein System, eine Gesellschaftsordnung und den von ihr schwer wegzudenkenden Krieg? Indem man seine leidenschaftlichen Gegenaffekte abreagiert und Karikaturen vorführt? Meiner Meinung nach widerlegt man ein System, indem man zeigt, was es in seinem besten Falle anrichtet, wie es den durchschnittlich anständigen Menschen dazu zwingt, unanständig zu handeln…Wir wollen nicht Schurken entlarven wie unser Freund Schiller, sondern Systeme.´ (…)
Weidermann weiter: „Es (das Buch) war ein Tabubruch – Abrechnung mit dem militärischen Mordapparat, Abrechnung mit dem fehlgegangenen Preußentum von preußenfreundlichster Seite. Die Menschen jubelten, kauften das Buch massenhaft.“

Arnold Zweig, schon zuvor kein Unbekannter, ist mit dem „Grischa“, der auch im Ausland zum Erfolg wird, endgültig etabliert, kann es sich auch materiell gut gehen lassen. Lange währt das nicht – seine Bücher werden verbrannt, er flieht in das Exil, flieht mit der Familie nach Palästina.

Am 13. Dezember 1927 schreibt Kurt Tucholsky alias Peter Panter enthusiastisch über den Roman:

„Arnold Zweig unsern Gruß! Sein Buch ist voll wärmster Güte und voller Mitgefühl, voller Skeptizismus und voller Anständigkeit, voller Verständnis und oft voller Humor. Sanft hat er das getan, was im November durch die Schuld und das Unverständnis der Arbeiterführer versäumt worden ist: er hat einem seelenlosen Götzen die Achselstücke und die Knöpfe abgetrennt, nein, sie fallen von selbst ab, so gleichgültig sind sie ihm, und nackt und dumm steht das Ding da und glotzt mit blinden Augen in die Welt. Keine Sorge, die ›Tradition‹ wird es schon wieder mit rauschendem Leben anfüllen und mit Blut. Mit dem Blut der andern. Dieser ›Streit um den Sergeanten Grischa‹ ist ein schönes Buch und ein Meilenstein auf dem Wege zum Frieden.“
Die vollständige Besprechung in der Weltbühne ist online hier zu lesen: http://www.textlog.de/tucholsky-streit-grischa.html

Leider, so zeigte die Zeit, war der Glaube an die Kraft der Literatur vergebens – der Weg zum Frieden noch weit, ein weiterer Krieg musste folgen, weitere Grischas ihr Leben lassen.

Die Werke von Arnold Zweig erscheinen im Aufbau Verlag: http://www.aufbau-verlag.de/index.php/der-streit-um-den-sergeanten-grischa-724.html

Isaak Babel: Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen (1940/2014).

Ein Gastbeitrag von Klaus Krolzig

Am 15. Mai 1939 verhaftete die russische Geheimpolizei den Schriftsteller und Publizisten Isaak Babel in seiner Villa im Schriftstellerdorf Predelkino. Es waren die Tage des grossen Terrors, der nationalen Säuberungsaktionen, denen Millionen unschuldiger Menschen zum Opfer vielen. Babel wurde Spionage und Verschwörung gegen das Stalin-Regime vorgeworfen. Er verschwand vom Erdboden, so wie seine Bücher aus allen Buchhandlungen. Auf diese Weise wurde der Schriftsteller Isaak Babel ausgewischt, als hätte es ihn nie gegeben. Er lebte nur noch in den Erinnerungen seiner Leser, Freunde und Familienmitglieder, die noch Jahre später im Ungewissen waren über das, was mit ihm nach seiner Verhaftung geschah.

Die Wahrheit über Babels Schicksal wurde erst zu Beginn der Neunziger Jahre enthüllt, als unter Michail Gorbatschow die KGB-Archive der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Als Babel am 26. Januar 1940 der Prozeß gemacht wurde, widerrief er ein zuvor unter Folter gemachtes Geständnis, Mitglied einer terroristischen, anti-sowjetischen Organisation zu sein. Der Prozeß dauerte nur 20 Minuten, das Urteil stand schon vorher fest: Todesstrafe durch Erschiessung. Die Exekution fand am frühen Morgen des folgenden Tages statt. Babels Leichnam wurde in ein Massengrab geworfen, er wurde nur 45 Jahre alt.

In seinen Erzählungen der “Reiterarmee” verarbeitet der russische Schriftsteller seine Erfahrungen, die er während des Russisch-Polnischen Krieges 1920/21 als Korrespondent gemacht hatte. Er war dort in der Propagandaabteilung der sogenannten “Reiterarmee” eingesetzt, einer Kosakentruppe, deren Leitung General Budjonny übernommen hatte. Die kurzen und eindringlichen Texte, die Babel während dieser Zeit verfaßte, beschrieben jedoch nicht die Leistungen der glorreichen Roten Armee, sondern warfen ein dunkles Licht auf die brutale Kehrseite des Krieges. Die Rolle der Reiterarmee beschreibt er als die einer plündernden und mordenden Horde, die sich im Oktober 1920 geschlagen zurückziehen mußte. Das passte so gar nicht in die offizielle sowjetische Geschichtsideologie.

Babels Interesse gilt dem Schicksal einzelner Menschen, die er jeweils kurz und präzise nachzeichnet. Neben diesen einfühlsamen Porträts stehen unvermittelt die Beschreibungen der Grausamkeiten der Reitertruppe Budjonnys. Die Sprache, in der diese Erzählungen verfasst sind, ist unverkennbar. Babel hat geschafft, was nur wenigen Autoren vorbehalten ist: eine eigene, unverwechselbare Sprache zu finden. Sie ist einerseits knapp und präzise, neigt andererseits zu außergewöhnlichen, expressiven Bildern, so dass die Grenze zum Lyrischen oftmals überschritten scheint.

Besonders aufmerksam registriert Babel das Schicksal der im Kriegsgebiet lebenden Juden und die zahlreichen Pogrome, die sowohl von russischer als auch von polnischer Seite begangen wurden. Aus seinen Tagebuchnotizen von 1920 wird deutlich, daß seine Sympathie eindeutig bei den verfolgten Juden lag, denen er sich zugehörig fühlte. Ihre Welt erinnerte ihn an das Ghetto von Odessa, wo er selbst als Sohn einer reichen jüdischen Kaufmannsfamilie geboren wurde. Er wuchs mit Thora und Talmud auf, aber führte seit Jahren ein assimiliertes Leben. In der Reiterarmee von Budjonny hielt er seine jüdische Identität verborgen und nahm das Pseudonym Kirill Vasiljevitsj Ljoetov an. Die Welt der russischen Juden ist auch das Thema anderer Erzählungen. So sind die Schurken in den “Erzählungen aus Odessa” nicht mehr die russischen Antisemiten, sondern die Juden selbst. Sie spielen im jüdischen Ghetto der Stadt, das von mafiösen Strukturen durchzogen ist. Räuberhauptmann Benja Krik, die mordsüchtige Madame Schneeweis, der schatzreiche Geschäftsmann Anderthalb-Jude und Manka, die Mutter der jüdischen Banditen sind zu unvergesslichen literarischen Persönlichkeiten geworden.

Babels schönste Geschichte steht in den Erzählungen des titelgebenden Erzählbündels “Mein Taubenschlag”. Diese spielt während eines Pogroms in dem Städtchen Nikolajev, wo Babel selbst einen Teil seiner Jugend verbrachte. Protagonist ist ein jüdischer Junge, der 1905 zum Gymnasium zugelassen wird, eine ungeheure Ehre, da in einer Klasse mit 40 Schülern nur 2 Juden erlaubt sind. Als die Liste mit den Schülern der neuen Schulklasse öffentlich gemacht wird, können die Eltern ihr Glück nicht fassen und pilgern zum Aushang dieser Liste, selbst “Großvater” Schojl, ein Großonkel des Jungen, geht mit. Zur Belohnung hat Schojl dem Jungen einen Taubenschlag gezimmert. Bis jetzt herrscht Harmonie, Babel beschreibt das Leben der Familie als eine Idylle voller Wärme und bescheidenem Wohlstand, der mit der Zulassung ans Gymnasium bekrönt wird. Aber plötzlich schlägt alles ins Gegenteil um und man erkennt, daß das Glück nur von kurzer Dauer war. Als der Junge auf dem Markt Tauben für seinen Verschlag kaufen will, bricht in der Stadt ein Pogrom aus. Die Idylle endet in einem Albtraum. Geschäfte werden geplündert und der Junge sieht zu, daß er hier wegkommt. Dann sieht er einen ihm bekannten Invaliden, der das gestohlene Eigentum der Juden aufkauft. Der Junge fragt den Invaliden, ob er Schojl gesehen hat. Der Invalide antwortet nicht, aber entreißt dem Jungen seinen Korb mit Tauben. Er greift nach der schönsten Taube und schlägt diese dem Jungen so großer Wucht ins Gesicht, daß die Eingeweide der Taube an seinen Wangen herabgleiten. “Ausrotten muß man eure Saat” ruft er dem flüchtenden Jungen noch nach. Als er nach Hause kommt, sieht er dort seinen ermordeten Großonkel liegen, verhöhnt mit einem Fisch in Mund und Hosenstall. Auf nicht einmal 12 Seiten weiß Babel eine geschundene Welt zu beschreiben, die den Leser bis ins Mark trifft.

Nicht alle Erzählungen lassen sich bequem konsumieren. Eine genaue und mehrmalige Lektüre ist manchmal erforderlich. Wählt man eine den Erzählungen angemessene Lesegeschwindigkeit, wird man bald entdecken, wie kunstvoll dieser Zyklus komponiert ist. Die einzelnen, scheinbar unverbundenen Geschichten werden sowohl durch sprachliche als auch durch inhaltliche Motive eng zusammengehalten.

Unter dem Titel “Mein Taubenschlag” sind nun sämtliche Erzählungen von Isaac Babel beim Hanser Verlag erschienen. Allerdings liegt das erzählerische Gesamtwerk übrigens mit der Hanser-Ausgabe nicht zum ersten Mal auf Deutsch vor, wie die Süddeutsche Zeitung in ihrer Rezension vom 28. November 2014 schreibt. Wohl aber in neuer Übersetzung, unter anderem von Peter Urban, der bereits mit vorzüglichen Übersetzungen anderer russischer Autoren auf sich aufmerksam gemacht hat. Ich bleibe bei meiner Ausgabe der Anderen Bibliothek aus dem Jahre 1987, in bester Ausstattung und ebenfalls vollständig.

Isaak Babel: “Mein Taubenschlag”, Sämtliche Erzählungen, Hanser-Verlag 2014, 864 Seiten, 39,90 Euro. Link zur Verlagsseite:

http://www.hanser-literaturverlage.de/buch/isaak-babel-mein-taubenschlag/978-3-446-24345-3/

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (10): Trude Krakauer (1902-1995)

Bild: Rose Böttcher

Lichten Traum

LICHTEN Traum, ihr alten Optimisten,
Immer wußtet ihr ihn zu bewahren.
Kolumbien verlaßt ihr mit Koffern und Kisten,
Hofft, ihr werdet in der Heimat nisten,
Tröstlich winkt sie nach den Trennungsjahren.
Elend, wißt ihr, werdet ihr dort finden,
Not, ihr wollt sie kämpfend überwinden;
BERG und Tal sind noch die sie waren…
Eilt es euch? – Wir lassen euch schon gehen,
Reicht die Hand uns, - mögt ihr glücklich fahren!
Gute Reise und: Auf Wiedersehen!

Trude Krakauer, Bogotá, 5. Februar 1948

Trude Krakauer sah die „alte Heimat“, das „Niewiederland“, nur einmal wieder, 1981 bei einer Reise nach Österreich. Vom „rückwärts gehen“ erwartete sie nicht viel, wie auch dieses beinahe trotzig klingende Gedicht vom lichten Traum erkennen lässt. Andererseits jedoch: Auch das Exil, Kolumbien, war nicht zur Heimat geworden, es gelang ihr in ihrem langen Leben nicht, hier vollständig Wurzeln zu fassen, nur Luftwurzeln blieben ihr, Wurzeln, die keine Erde fanden. Zum Ausdruck kommt dies in einem ihrer späteren Gedichte, „Luftwurzeln“ (Auszug):

Ich hab meinen Halt in der Erde verloren.
Luftwurzeln treib ich, blasse Gedichte,
Die zittern und schwanken und tasten ins Leere.

„Ich habe gerne hier gelebt, aber nie habe ich dieses Land als meine „zweite“ Heimat betrachtet. Man hat nur eine Heimat, so wie man nur eine Mutter hat“, schreibt sie 1993. Dabei verbrachte Trude Krakauer (nicht zu verwechseln mit Trude Dothan, geborene Krakauer) mehr Lebensjahre im kolumbianischen Exil als in der österreichischen Heimat. Am 30. Mai 1902 in Wien geboren, flieht sie nach dem „Anschluss“ Ende 1938 nach Lateinamerika. Hochbetagt, im Alter von 93 Jahren, stirbt sie am 25. Dezember 1995 in Bogotá. Die Heimat hat sie nie vergessen – aber im Gegenzug vergaß die Heimat beinahe sie. Es ist der österreichischen Exilforscherin und Lyikerin Siglinde Bolbecher (1952-2012) zu verdanken, dass Trude Krakauer nicht vollständig aus dem Bewusstsein geriet – und dass ihre Gedichte erhalten blieben und überhaupt veröffentlicht wurden.

Ballade vom Niewiederland

Wer seinen Weg im Niewiederland sucht,
der kommt nirgends an und kehrt nimmermehr heim;
er geht nur und geht, um zu gehen.
Er geht durch die Straßen der Nimmermehrstadt,
da stehen vor den Türen und nicken ihm zu
die kleinen, vergessenen Freuden.
Und jede begrüßt er gerührt und beglückt
und jede hält heimlich das Messer gezückt
und stößt es ihm mitten ins Herz.
Wer seines Wegs im Niewiederland geht,
der weiß es kaum, daß er das Messerlein sucht.
Er geht nur und geht, um zu gehen.

Denn Trude Krakauer teilt – nicht nur in der Zerrissenheit zwischen zwei Welten – das Schicksal vieler Exilanten: Vertrieben, verloren, vergessen. Ihr Name erscheint heute nur marginal in der Literatur, meist in Fachbüchern über die Literatur im Exil. Zu Lebzeiten wurden die Gedichte Trude Krakauers, die bis zu ihrem Lebensende in ihrer Muttersprache schrieb, nur dreimal in österreichischen Publikationen veröffentlicht. Dabei hätte ihr schmales, dafür aber umso intensiveres Werk mehr Aufmerksamkeit verdient. Sicher liegt ihr geringer Bekanntheitsgrad aber auch an der Zurückhaltung und Bescheidenheit, die Trude Krakauer prägten. Siglinde Bolbecher, die 1993 die verbliebene österreichische Exilgemeinde in Kolumbien aufsuchte, lernte hier auch Trude Krakauer persönlich kennen. In ihrem Nachwort zur einzigen bislang veröffentlichten Sammlung ausschließlich mit Gedichten von Krakauer, „Niewiederland“, erschienen 2013 in der Reihe „Nadelstiche“ der Theodor Kramer Gesellschaft, zeichnet Bolbecher ein feines Portrait der Dame, die sie in Bogotá kennenlernte:

„Es mangle ihrer Biographie an Leistungen – meint Trude Krakauer mit feiner Ironie -, an denen sich der Lebensfaden festknoten läßt und zugleich ist „Leben“ immer viel mehr als wir erzählen können. „Meine Biographie ist eigentlich in meinen Gedichten enthalten.“ In ihnen nimmt sie die schwierige Kommunikation mit Herkunft, der beglückenden, aber auch tödlichen Mühle der Kindheit und Jugend auf.“

Eines der wenigen Bilder von Trude Krakauer. Archiv der Theodor Kramer Gesellschaft.

So zurückhaltend wie sie als Person durch diese wenigen Zeilen anmutet, so präzis- unprätentiös ist auch die Sprache ihrer Lyrik. Oftmals mit einer Spur von Bitterkeit angereichert. „Die Zeit heilt alles“ – so der Titel eines Gedichtes – nur die „pochend-wunden Herzen“ nicht.
Ein Auszug:

„Die Zeit heilt alles. Über Massengräber
Weht grünes Gras. Wir halten sie für gütig,
Wenn ihren Schleier unfühlbar und fühllos
Sie über Tote zieht, die uns noch leben,
Und über unsre schmerzhaft wachen Augen
Und unsre wehen, pochend-wunden Herzen.
(…)
Der Tod heilt alles, doch solang ich lebe
Will ich unheilbar sein.

Woher kam die Frau, die später einige der wichtigsten spanischsprachigen Literaten übersetzte (unter anderem Jorge Guillén, Rubén Darío, Blas de Otero) und doch nie viel Aufhebens um sich machte? Die mit anderen Dichtern im Exil befreundet war, aber kaum über ihre eigene Dichtung sprach?

Aufgewachsen war sie in einem liberalen Elternhaus: Ihr Vater, Dr. Heinrich Keller, war nicht nur ein bekannter Kinderarzt, sondern hatte auch mehrere sozialkritische Romane und ein Buch über Pädagogik geschrieben. „Er war sozialdemokratischer Bezirksrat und verstand sich als „Revolutionär“: Freigeist, antiklerikal, dem Fortschritt und dem Humanismus verbunden“, so Siglinde Bolbecher. Eine Haltung, die die Tochter übernahm – doch nicht nur dieses sollte für sie später, im Nationalsozialismus, zur Gefährdung werden. Keller war zwar konvertierter Protestant, dies schützte ihn jedoch vor dem Rassenwahn der Nazis nicht. Der Kinderarzt erzog seine Kinder religionslos. Später, 1938, wird Trude Krakauer Jüdin – als Bekenntnis und Zeichen der Zugehörigkeit zu ihrem verfolgten Volk. Man sieht an ihrer Biographie – da hat eine bereits in jungen Jahren ihren eigenen Kopf, sucht ihren Weg, will etwas bewegen. Einfach macht sie es ihrer Mutter Nelly, die in ihrer Jugend selbst Gedichte schrieb, nicht. Ein ganz anrührend zartes Gedicht ist dazu zwischen den zuweilen nüchtern bis trotzigen Tönen in ihrer Lyrik zu finden:

Meiner Mutter

Und oft, wenn ich`s zu arg getrieben,
Mein ich, mir sei kein Weg geblieben,
Und alles sei zu Ende.
Und dann kommst du und sprichst ein gutes Wort,
Wie du`s nur kannst und deine lieben Hände
Sie streicheln jedes Leid mir fort.

Vielleicht klingt in diesem undatierten Gedicht auch die Sehnsucht nach dem „Mutterland“, der „Muttersprache“, nach der vergangenen, einigermaßen in Takt gewesen Welt zurück. Doch Trude Krakauer weiß: Es gibt keine Umkehr.

Auch nicht in dieses Wien, in dem sie als junge Frau sich in der sozialistischen Jugendbewegung engagierte, an der Universität ausprobierte – zunächst auf Wunsch der Eltern im Studium der Medizin, dem folgten Staatswissenschaften, zugleich hörte sie Vorlesungen für Karl Kraus, für dessen Sprache sie sich begeisterte und dem ebenfalls Gedichte gewidmet sind. Bereits neben dem Studium arbeitet sie als Englischkorrespondentin für sozialdemokratische Stellen, ist von 1934 an aber für die Kommunisten illegal politisch tätig – ihr Verbleib in Österreich wird lebensgefährlich, bis sie durch ihre Jugendfreundin Thea Weiss ein kolumbianisches Arbeitsvisum erhält.

Dort dann der Aufbau einer neuen Existenz: Sie heiratet den mährischen Chemiker Dr. Emil Krakauer, arbeitet als Übersetzerin und Sekretärin in Bogotá, ist aktiv im “Comité de los Austríacos Libres”, für das sie zusammen mit der deutschen Schriftstellerin Margot Neumann-Hermer Literaturlesungen und andere Vorträge vorbereitet. Ab 1952 bis 1977 ist sie dann in der deutschen Handelsvertretung beschäftigt. Das der nüchterne Rahmen eines Lebens in der „neuen“, der anderen Welt. Die Bezüge zur Heimat werden immer weniger. Und klarsichtig erkennt sie wohl: Das ist Vergangenheit, sie warnt vor „Sehnsuchts-Vergoldungen der alten Heimat“ heißt es in dem Exilliteratur-Buch „Ferne Heimat, nahe Fremde“, herausgegeben von Eduard Beutner:

“Bei der im kolumbianischen Exil gelandeten Lyrikerin Trude Krakauer ist ebenfalls das Realitätsprinzip am Werk: „Erwürge endlich/das Kind in dir,/das spielen will. (…)/Lern`s mit verwandelten Zeichen zu rechnen:/plus ist gleich minus,/ Freude ist Schmerz.(…)/Lerne, dass Schönheit brennendes Leid ist,/lerne die Sprache, die nicht verbindet/lern`s mit verwandelten Zeichen zu rechnen“, heißt es, vergleichbar mit Jean Amérys bedrängenden Reflexionen über das schwierige Entziffern von Zeichen in der Fremde, bei Krakauer freilich aber zwecks lebensbewältigender Perspektive.”

Lebensbewältigung, nicht zurückschauen, nicht werden zu „Loths Weib“, wie eines ihrer Gedichte heißt. Es gelingt ihr einigermaßen. Und so trägt ihr vermutlich letztes Gedicht vom 12. Jänner 1987 den Titel „Zuletzt“ (Auszug):

Ich gehe mit mir jetzt sehr nachsichtig um,
Eine uralte Frau muß man schonen,
(…)
Der Weg war so kurz – oder war er so weit? -
Ich ging durch so viele Geschichten.

Angaben zum Buch:

Trude Krakauer · Theodor Kramer Gesellschaft (Hg.)
Niewiederland
Mit einem Nachwort von Siglinde Bolbecher
Theodor - Kramer - Gesellschaft, Wien
2013 · 96 Seiten · 12,00 Euro
ISBN: 978-3-901602-49-8

Erschienen ist der Gedichtband „Niewiederland“ bei der Theodor Kramer Gesellschaft – hier deren eigene Kurzbeschreibung:

Vor fast genau 25 Jahren, am 6. März 1984, wurde die Theodor Kramer Gesellschaft gegründet, um Leben und Werk Theodor Kramers zu erforschen und zur Verbreitung der Literatur des Exils und des Widerstandes beizutragen. Erster Vorsitzender war der Nachlaßverwalter Kramers, Erwin Chvojka. Dem Kuratorium der Gesellschaft gehörten u.a. Erich Fried, Bruno Kreisky und Hilde Spiel an.
Die erste Nummer der Zeitschrift „Mit der Ziehharmonika“, heute „Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands“, die sich inzwischen zu einem international anerkannten wissenschaftlichen Forum der Exilliteratur entwickelt hat, erschien im Mai 1984.
1987 erweiterte sich der Interessensbereich der Gesellschaft in Richtung stärkerer Berücksichtigung der gesamten österreichischen Exilliteratur.  Seit 1990 gibt die Theodor Kramer Gesellschaft das Jahrbuch „Zwischenwelt“ heraus. Der Verlag entstand 1995 aus der Notwendigkeit, aus Österreich vertriebenen Autorinnen und Autoren eine Möglichkeit zur Publikation ihrer Werke zu bieten. Wichtig ist uns auch der kritische Blick, den Exilierte oder aus dem Exil Zurückgekehrte auf das Land ihrer Herkunft werfen: Sich mit den Augen anderer und besonders derer sehen zu lernen, die mit Österreich traumatische Erfahrungen verbinden, ist angesichts der offenen Fragen unserer Zeit eine große Aufgabe.
Die Gesellschaft hat bisher eine Reihe wissenschaftlicher Symposien und viele kulturelle Veranstaltungen abgehalten, wie z.B. 2001 “Zur Rezeption des Exils in Österreich” oder in Salzburg “Jiddische Kultur und Literatur aus Österreich”, 2005 und 2006  “Gespräche über die Rückkehr” oder 2009 “Subjekt des Erinnerns” in Wien.
2001 wurde von uns erstmals der Theodor Kramer Preis für Schreiben im Widerstand und Exil an Stella Rotenberg (Leeds) verliehen, 2013 geht der Preis an Margit Bartfeld-Feller (Tel Aviv) und Manfred Wieninger (St. Pölten).
Den derzeit 500 Mitgliedern der Gesellschaft aus Österreich, Deutschland, Schweiz, Frankreich, Israel, Italien, den USA, aus Südamerika und Asien stehen ein Archiv und eine umfangreiche Buch- und Zeitschriften-Bibliothek zur Verfügung. Es ist uns gelungen, einen wirklichen Kontakt mit exilierten SchriftstellerInnen und KünstlerInnen aufzubauen; viele unserer Mitglieder sind oder waren im Exil oder in nationalsozialistischen Konzentrationslagern.

Link: http://theodorkramer.at/

Jüdische Autorinnen im Portrait (9): Carry Brachvogel (1864-1942).

„Und nun, da das Dirndlgewand Allgemeingut geworden scheint, nun steht auch ihm, wenn nicht alle Zeichen trügen, eine ähnliche, wenn auch anders geartete Dechaubierung bevor, wie sie einst das selige Tegernseer Chasseresse-Kleid erlebte. Nur sind es diesmal nicht die praktischen Provinzlerinnen, sondern die stillosen Mondänen, die ihre reichberingten Hände nach ihm ausstrecken, es nicht um der Anpassung oder der Bequemlichkeit willen wählen, sondern es aufputzen und aufplundern, daß es mehr an die Maskengarderobe, denn an ein heimisches Sommergewand erinnert. Nun ist schon der Rock so kurz, das Leibchen so tief ausgeschnitten worden, daß jedes bäuerliche Dirndl, dem man sie zumuten wollte, empört fragen würde:
„Ja moanst ebba, da tat` i mi net schama?!“

Carry Brachvogel, „Im Weiß-Blauen Land. Bayerische Bilder“, Allitera Verlag.

Wer als im Bayerlande Wohnhafte gezwungenermaßen Jahr für Jahr die seltsamsten Erscheinungsformen gen` Oktoberfest an sich vorüberziehen sieht, der kann das Bedauern Carry Brachvogels gut verstehen. So manche bayerische Tradition, die in sich eigentlich Stil und Schönheit birgt, ging im Rummel unter. Was manche B-Prominente heute auf dem Oktoberfest trägt, hat mit Dirndl so viel zu tun wie – ach, jetzt fehlt mir ein Vergleich.

Nur: Carry Brachvogel, die aufmerksame, zuweilen spitzzüngige Beobachterin schrieb dies bereits vor 1923. Und nicht nur in ihren Reflektionen über die bayerische Landestracht ist die Schriftstellerin überaus modern in ihren „Bayerischen Bildern“, die vor 91 Jahren erstmals erschienen. Sie führt mit ihren Reisestücken direkt in das Herz Bayerns:

„Der Schuhplattler beginnt. Norddeutsche Bundesbrüder, die ihr euch in „echt bayerischen“ Singspielhallen rotseidene Röcke, spinatgrüne Hosenträger, geschminktes Lächeln, widerliches Hopsen und komödiantisches Juhuen als „echten Schuhbladla“ aufreden laßt, kommt hierher und seht euch den Tanz an, wie er in Wirklichkeit ist!“

Da erzählt eine voller Liebe und Zuneigung von ihrer Heimat – so sehr, dass man sich mit diesem Buch gerne auf Ausflüge nach Regensburg, der Fraueninsel auf dem Chiemsee oder vor allem nach München, wo Carry Brachvogel lebte, begibt. Doch die Liebe zur Heimat, sie wurde ihr schlecht gedankt: Die Schriftstellerin, zu ihrer Zeit weit über Bayern hinaus in ganz Deutschland als Feuilletonistin, Autorin und Frauenrechtlerin bekannt, starb 1942 in Theresienstadt. Und blieb bis heute beinahe vergessen. „Neuauflagen der Werke Carry Brachvogels, die damals sehr verbreitet waren, sind nach dem Ende des nationalsozialistischen Terrors nicht bekannt. Sie wurde aus der kollektiven Erinnerung verdrängt – und zu Unrecht vergessen.“

Dies schreibt Ingvild Richardsen in einem Vorwort der 2013 endlich wieder erschienenen bayerischen Bilder. Der Band „Im Weiß-Blauen Land“ bildete den Auftakt zu einer Neuauflage einiger ausgewälter Werke von Carry Brachvogel in der „edition monacensia“ im Allitera Verlag, inzwischen gefolgt von einigen Romanen wie „Alltagsmenschen“, eine Posse um die Suche nach einem Ehemann „Der Kampf um den Mann“, aber auch von „Schwertzauber“, einer Auseinandersetzung mit den Leiden des 1. Weltkrieges.

Nur einige der über 40 Werke, die die Schriftstellerin zu Lebzeiten veröffentlicht hatte, darunter Romane, Frauenbiografien, Theaterstücke und sogar einen Krimi. Neben der schriftstellerischen Tätigkeit wurde sie vor allem durch ihren Einsatz für die Frauenrechte und durch ihren literarischen Salon berühmt. Ingvild Richardsen:

„1913 gründete sie zudem den ersten Schriftstellerinnen-Verein Münchens. Bedeutende Persönlichkeiten traten ihm bei: Ricarda Huch, Annette Kolb, Helene Böhlau, Isolde Kurz und viele andere. Noch 1924, zu ihrem 60. Geburtstag wurde die erfolgreiche Schriftstellerin deutschlandweit gefeiert. Wenige Jahre später zählte nur noch, dass sie jüdischer Herkunft war.“

Im Alter von 78 Jahren mit ihrem jüngeren Bruder nach Theresienstadt verschleppt, wo beide kurz danach verstarben. Danach schien es, als existierte ihr Name nicht mehr. Bis 2012 dauerte es, bis in München, „ihrer“ Stadt, eine Straße nach ihr benannt wurde. Verdienstvoll ist es daher, dass in der Reihe der Münchner Staatsbibliothek nun ihre Werke dem Vergessen entrissen werden. Auch aus literarischer Sicht: Spritzig, witzig, schlagfertig und durchaus unterhaltsam ist der Stil dieser für ihre Zeit so ungewöhnlich emanzipierten, aufrechten Frau. Ingvild Richardsen bereichert den ersten Band der Brachvogel-Reihe mit einem umfangreichen Nachwort zur Biografie der Münchner Schriftstellerin:

„Mit ihrem Lebensstil, ihren Ideen und ihrem politischen Engagement erscheint Carry Brachvogel heute als eine ungewöhnlich moderne und emanzipierte Frau ihrer Zeit. Ihre damaligen Ansichten sind hochaktuell: Wichtigkeit der Arbeit und des Berufes, der Selbstverwirklichung und Selbstbestimmtheit. So wirkt sie für uns auch als eine Visionärin der modernen Frau. Schon damals hat sie so gelebt, wie es heutzutage viele Frauen tun: alleinerziehend und berufstätig.“

Und ob sie nun in ihren Romanen über das Frauenbild ihrer Zeit schrieb oder in ihren Essays über ihre Heimat – bei alledem wirkt Carry Brachvogel modern, heimatverbunden ohne „tümelnd“ zu sein, neugierig, aufgeschlossen, offen, den Menschen zugeneigt:

Denn dies vor allem wollte ich: Menschen schaffen, nicht Tragantfiguren oder Kostümpuppen. Das Goethewort: „Der Mensch ist dem Mensch am interessantesten“ ist für mich immer ein Glaubensbekenntnis gewesen und geblieben.

Ein schönes Filmportrait über Carry Brachvogel gab es beim Bayerischen Fernsehen:
http://www.br.de/fernsehen/bayerisches-fernsehen/sendungen/geschichten/im-weissblauen-land-carry-brachvogel-100.html

Und weitere biografische Angaben beim Literaturportal Bayern:
http://www.literaturportal-bayern.de/autorenlexikon?task=lpbauthor.default&pnd=119079682

Ruth Klüger: unterwegs verloren (2008).

„Die Überlebenden der KZ, mit Ausnahme von einigen, die man zu Märtyrern gestempelt hat, sind allen frei gebliebenen Menschen ein Dorn im Auge. Gelitten zu haben ist eine Schande, außer wenn man daran und dafür gestorben ist.

Ruth Klüger, „unterwegs verloren“, 2008, Zsolnay Verlag

Ruth Klüger ist 61 Jahre alt, als 1992 im Literarischen Quartett ihre Erinnerungen „weiterleben“ vorgestellt werden. Mit einem Mal wird die amerikanische Literaturprofessorin und Germanistin auch einem breiten Publikum im deutschsprachigen Raum bekannt. „weiterleben“ erzählt von ihrer Kindheit in Wien, dem Überlebenskampf in den Konzentrationslagern, der Flucht mit der Mutter in die USA.

 „unterwegs verloren“ setzt Jahre später ein – ebenso ein Buch über das Weiterleben. Mit einer ruhigen Sprache, manchmal bis an die Grenze zur Emotionslosigkeit, erzählt Ruth Klüger von einer doppelten Diskriminierung: Als Jüdin und als Frau im amerikanischen Literaturbetrieb. Sie erzählt von weiteren Verlusten, der Entfremdung von den Söhnen, von der Familie, von Freunden. Bis hin zum Bruch mit Martin Walser, den sie als junge Frau noch vor der Emigration in die USA kennenlernete, in ihm einen engen, lebenslangen Freund sah, dem sie jedoch die Darstellung eines jüdischen Kritikers in dem umstrittenen Werk `Tod eines Kritikers´ nicht nachsehen kann.

Wie sehr die traumatischen Erfahrungen ein Leben lang prägen, auch das verdeutlicht diese Autobiographie. Und über alledem überwiegt dennoch eine anhaltende Liebe zur deutschen Sprache, zur deutschen Literatur.

Und bei allem, was Ruth Klüger „unterwegs verloren“ hat, bleibt ein Gewinn am Ende: Das Wissen, dass sie dort, wo Diskriminierung geschah – sei es ihr oder anderen gegenüber – den Mut und das Rückgrat hatte, dagegen einzutreten.

Siehe auch ihr Portrait unter der Rubrik “Jüdische Lyrikerinnen”:
http://saetzeundschaetze.com/2014/02/16/judische-lyrikerinnen-im-portrait-6-ruth-kluger-unbestechlich-bedingt-versohnlich/

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (8): Lily Brett - Schuldgefühle und Schlamassel

Nach einem Jahr
glaubtest
du

du
seist
sicher

gestrichen
von der Liste
der Lebenden

gestrandet
im
Nirgendwo

ausgesetzt
in
Zeitlosigkeit

bewegtest
dich

im
Leeren

begriffst
einfach
nichts.

„Darf man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben? Oder vielmehr, darf man über Auschwitz Gedichte schreiben? Die Antwort ist verdächtig (und wahrscheinlich unvermeidlich:) dialektisch. Nein, über Auschwitz kann nichts geschrieben werden. Doch, ja, man kann über die verschiedenen Formen des Schweigens schreiben, die Auschwitz umgeben: das Schweigen der Schuld, der Scham, des Schreckens und der Sinnlosigkeit. Man kann dieses Schweigen aufschließen. Man kann nicht nur, man sollte über Auschwitz, über den Holocaust, schreiben.“

So äußerte sich die ungarische Philosophin Agnes Heller 1993 in einem denkwürdigen Aufsatz in der „Zeit“ (http://www.zeit.de/1993/19/die-weltzeituhr-stand-still).
Sie griff damit Adornos Diktum auf, der geäußert hatte, nach Auschwitz könne man keine Gedichte mehr schreiben – ein Satz, den er später selbst revidierte, der aber doch über jeder Lektüre von Lyrik zur Shoah unausgesprochen hängt.

Ein Satz, der mich beim Lesen von Lily Bretts „Auschwitz Poems“ unablässig begleitet hat. Deren Gedichte sind von der sprachlichen Eindringlichkeit, von der traurigen Schönheit einer Celan`schen „Todesfuge“ weit entfernt. Die Schriftstellerin zeichnet Bilder, die in ihrer nackten Grausamkeit an das Filmmaterial erinnern, das wir aus den Konzentrationslagern kennen:

Ihre Körper

Die
Körper
zehrten

von
sich selbst

erst
vom
Fett

dann
vom
Fleisch

und
zuletzt

von
den
Muskeln

die
nicht
mehr

reagierten
auf
den
Kopf.

Lily Brett hat den Holocaust nicht selbst erlebt. Sie wurde 1946 in Deutschland geboren. Ihre Eltern heirateten im Ghetto von Lodz, wurden im KZ Auschwitz getrennt und fanden einander erst nach zwölf Monaten wieder. 1948 wanderte die Familie nach Brunswick in Australien aus. Mit neunzehn Jahren begann Lily Brett für eine australische Rockmusik-Zeitschrift zu schreiben. Sie interviewte und porträtierte zahlreiche Stars wie Jimi Hendrix oder Mick Jagger. Heute lebt die Autorin in New York. Sie ist mit dem Maler David Rankin verheiratet und hat drei Kinder (Quelle der biographischen Angaben: Suhrkamp Verlag).

Und trotz der beruflichen Karriere, trotz ihres Eintauchens in eine neue Welt: Lily Brett bleibt ein Kind des Lagers. Die Erlebnisse nehmen ihre Eltern, insbesondere die Mutter, mit, sogar bis an das andere Ende der Welt: Selbst in Australien, so macht es der zweite Teil des Gedichtbandes deutlich, ist Auschwitz immer spürbar. Und auch der nachfolgenden Generation wird diese Erfahrung eingebrannt in die Gene, auch die Nachkommen sind Gezeichnete, mit einer unsichtbaren Nummer auf dem Handgelenk.

Bild: Bettina Strauss, http://www.suhrkamp.de

Karg sind die „Auschwitz Poems“, meist nur ein Wort pro Zeile, als sei jedes Wort zu viel, als ringe die Autorin damit, die maschinelle Nüchternheit, die bei der Menschenvernichtung in Auschwitz herrschte, in wenige Worte zu fassen, die auf den Kern zielen: Ihre lebenslange Erschütterung über dies Geschehen, das sie von ihren Eltern erfuhr, weiterzugeben. Und so sind die Zeilen tatsächlich streckenweise kaum ertragbar, entkleidet jeder sprachlichen Metapher, grausam in ihrer Direktheit.

Renjas Baby (Auszug)

Spaltete
man
ihm
den Schädel

warf
es

auf
eine

andere
Mutter.

Die „Auschwitz Poems“ einer Nachfahrin zweier KZ-Überlebenden machen die Frage nach dem „Schreiben dürfen“ solcher Gedichte obsolet. Der schmale Band macht deutlich: Lily Brett hat diese Gedichte schreiben MÜSSEN. Die 1987 erschienen „Auschwitz Poems“ sind der Ausdruck eines lebenslangen Traumas, das auch die Kinder der Danach-Generation in seinem eisernen Griff hält. Noch lange wird dieser Einschnitt des Bösen nachwirken – jedoch bei den Opfern, nicht bei den Tätern, denen Verdrängung weitaus besser zu gelingen scheint. Und auch deswegen MÜSSEN Gedichte wie diese, die in ihrer bewusst gewählten Kunstlosigkeit vom Unfassbaren erzählen, geschrieben werden – weil sie das Verdrängen im Augenblick ihrer Lektüre unmöglich werden lassen.

Wer weiß jedoch, wenn ich nicht zuerst die Auschwitz Poems in der Hand gehabt hätte, sondern einer ihrer Romane, ob ich dann mich weiter mit Lily Brett beschäftigt hätte. So wortkarg die Poems, so umfangreich (und leider streckenweise auch ein wenig geschwätzig) die Romane.

Ich gestehe es ein, die Annäherung an Lilly Brett beziehungsweise die wohl stark autobiographisch gezeichnete Figur Ruth Rowax in „Zu viele Männer“ und „Chupze“ fiel mir nicht leicht. Die Frau in diesen beiden Büchern – trotz (oder eben gerade wegen) ihres Lebenswegs, trotz der Hypothek der „Nachgeborenen“ – sie ist anstrengend, sie nervt streckenweise. Auch trotz des unwiderstehlichen Humors. So sehr ist sie ein Gegenstück zu Ruth Klüger, der Sachlichen, der Klaren, die bereits in dieser Reihe Portraits jüdischer Lyrikerinnen vorgestellt wurde und die ich für ihre Nüchternheit bewundere.

Lily Brett – sie verkörpert in gewisser Weise die hyperaktive, hypernervöse, mondäne New Yorkerin, immer auf der Sinnsuche, immer leicht neurotisch. Das Kalorienzählen. Das ständige gedankliche Kreisen um Nahrungsaufnahme, das Knabbern an Gemüsestangen, das Lutschen an Verdauungstabletten. Das detaillierte Beschreiben von Äußerlichkeiten, vom Schnitt und Qualität der Kleidung, der Frage, wie die Haare sitzen. Das Überbemuttern des eigenen Vaters, der mit seinem Schicksal weitaus souveräner umzugehen weiß als seine Nachkommin. Nein, eine Sympathieträgerin ist sie für mich auf den ersten Blick in ihren Romanen nicht. Auch deshalb nicht, weil sie ein wenig zu sehr versucht, ein weiblicher Woody Allen des geschriebenen Worts zu sein – mit allen Aspekten, dem Kreisen um das eigene Judentum, den Ausbruchsversuchen aus den selbstgeschaffenen engen Kollektiven im Exil, das Eintauchen in die Boheme in N.Y. bis hin zur klassischen engen Verbindung zum eigenen Analytiker.

Doch hinter der Fassade lauert das kleine Kind, das offensichtlich nur eines versucht: Es der verstorbenen Mutter recht zu machen. Das vier Jahrzehnte, wie es in einem Gedicht heißt, braucht, um festzustellen, dass sie durchaus von der Mutter geliebt wurde. Das ein Leben lang an mit den traumatischen Ereignissen ringt, die von Generation zu Generation weitergegeben und nur mit der Zeit gemildert werden.

2012 sagt Lily Brett in einem Interview mit der „Zeit“ (hier der Link zum Interview in voller Länge):

„Meine Eltern haben das Ghetto von Łódź und Auschwitz überlebt. Füllig sein bedeutete damals, auf Kosten anderer zu leben. Und nach dem Krieg war meine Mutter sehr darauf bedacht, nicht dem Vorurteil zu entsprechen, Juden seien klein und fett. Meine Mutter verlor in der Schoah alle, die sie liebte. Sie verlor auch ihre Jugend, ihre Sprache, ihre Ausbildung, ihre Kultur. Es gab nichts mehr, was sie noch hätte verlieren können – außer ihrer Schönheit. Sie war tatsächlich außergewöhnlich schön, und so war ihr dies dann auch besonders wichtig.“

Dieses Wissen und zudem der Humor und die Fähigkeit zur Selbstironie versöhnen auch mit den Längen ihrer Bücher. Und letztendlich sind auch diese Romane ein Versuch, mit den Themen der Schuld, der Scham, fertigzuwerden, gegen die Opferrolle, das Schicksal, „Massel“ anzuschreiben, mit dem „Schlamassel“ der Überlebenden zu ringen.

In „Zu viele Männer“ beschreibt Lily Brett eine Reise ihrer Kunstfigur Ruth Rowax mit deren Vater nach Polen – um die Wurzeln ihrer Herkunft zu finden, aber auch um die Nachfahren der Täter zu sehen und vor allem getrieben davon, Erklärungen zu finden, Schuld und Scham abzustreifen.

„Was Ruth an ihrer Mutter und ihrem Vater sah, waren Schmerz und Schock. Sie standen noch immer unter Schock, so als könne keiner von beiden wirklich glauben, was sie durchlebt hatten. Ruth sah auch die Schuldgefühle ihrer Eltern. Schuldgefühle ob des eigenen Überlebens.“

Der über 90jährige Vater verarbeitet die Reise nach Polen jedoch weitaus besser als Ruth alias Lily selbst. Sogar für eine amouröse Anbändelung mit einer drallen, blonden 60jährigen findet Edek Zeit. Die Geschichte wird in „Chupze“ fortgesetzt – gegen den Widerstand der Tochter, die allmählich angesichts der Lebenslust und Tatfreude der älteren Generation jedoch auf den Boden kommt, eröffnet Edek mit seiner neuen Liebe ein Klops-Restaurant.

„Anderer Leute Väter sind immer in Ordnung“, sagte Ruth. „Außerdem kann ich kein rohes Fleisch essen. Es erinnert mich an brennendes Fleisch.“
„Werd endlich erwachsen!“ Sonja wurde beinahe laut. „Deine Eltern waren in Auschwitz, na und? Meine Mutter war in Theresienstadt, und ich kann gebackenes Hirn essen, geschmorte Nieren, gehackte Leber und alle möglichen Beine, Köpfe, Hälse und Füße. Du kannst nicht so auf den Holocaust fixiert bleiben.“

Nicht alles jedoch lässt sich von jedem gleichermaßen abschütteln, verarbeiten. Wie Interviews mit Lily Brett zeigen – die mittlerweile 68jährige Autorin, sie schreibt und schreibt erneut um dieses Thema herum, umkreist es, will es vielleicht von sich wegschreiben. Doch nirgend mehr so klar und karg wie in den „Auschwitz Poems“.

Bereits erschienene Beiträge über jüdische Lyrikerinnen:
Mascha Kaléko – ein Herbstleben
Hedwig Lachmann – die stille, unangepasste Dichterin
Selma Meerbaum-Eisinger – Blütenlese
Ilana Shmueli – die Stimme aus dem Exil
Rose Ausländer – die ungebrochene Rose
Ruth Klüger – die Unbestechliche
Lili Grün - neusachlich und lebenslustig

Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das (1932/2014).

„Er reist wie andere Opium rauchen oder Kokain schnupfen. Das war sein Laster. Er war abhängig von Schlafwagen und Passagierdampfern. Und nach jahrelangen unnötigen Fahrten durch die ganze Welt war er sich ganz sicher, daß weder ein noch so verführerischer Blick einer intelligenten Frau noch die Verlockung eines Geldschranks für ihn den teuflischen Charakter einer einfachen, rechteckigen, kleinen Zugfahrkarte hatten.“

Albert Londres, „Ein Reporter und nichts als das“, Die Andere Bibliothek.

londresLiest man Albert Londres` Reportagen, dann drängt sich der Vergleich zum Gonzo-Journalismus förmlich auf. Hier die Wikipedia-Definition:

„Der Gonzo-Journalismus wurde von dem US-amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Hunter S. Thompson Anfang der 1970er Jahre begründet. Charakterisiert wird diese Form des New Journalism durch das Wegfallen einer objektiven Schreibweise. Es wird aus der subjektiven Sicht des Autors berichtet, der sich selbst in Beziehung zu den Ereignissen setzt. So vermischen sich reale, autobiographische und oft auch fiktive Erlebnisse. Sarkasmus, Schimpfwörter, Polemik, Humor und Zitate werden als Stilelemente verwendet. Nach journalistischen Kriterien handelt es sich beim „Gonzo-Journalismus“ nicht um Journalismus, sondern um Literatur. Die Arbeitsweise entspricht nicht den Anforderungen an Journalisten, die zum Beispiel der deutsche Pressekodex vorgibt.“

Eigentlich müsste man sagen: Albert Londres (1884-1932) ist der geistige Vater eines Hunter S. Thompsons oder auch P.J. O`Rourke, der Gonzo-Großvater. Der Franzose war ein Reporter-Star seiner Zeit, Zeitgenosse des anderen rasenden Reporters, Egon Erwin Kisch (1885-1948). Während Kisch deutschen Lesern und Journalisten jedoch noch ein Begriff ist, nicht zuletzt durch den von Henri Nannen 1977 eingeführten Preis für aufklärenden, investigativen und sprachlich niveauvollen Journalismus (was man inzwischen doch in den gängigen Tageszeitungen und Magazinen sehr vermisst), wird Londres zwar in seinem Heimatland noch immer gewürdigt. Hier aber ist er weitgehend unbekannt beziehungsweise wieder vergessen.

Tucholsky setzte dem Weltreporter 1925 in der „Weltbühne“ (http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1925/Bei+den+Verr%C3%BCckten?hl=albert+londres) ein Andenken – doch es musste fast 90 Jahre dauern, bis einige seiner Reportagen in deutscher Sprache erschienen. Vor allem „Die Andere Bibliothek“ kann sich einmal mehr dieses Verdienst anheften. „Ein Reporter und nichts als das“ bündelt drei Reportagen des Franzosen, die verdeutlichen, warum er ein Wegbereiter des Gonzo-Journalismus, aber vor allem auch ein Vorbild für jeden ist, der die literarisch gehobene politische Reiseberichterstattung pflegt, beispielsweise Richard Kapuscinski Jahrzehnte später.

„Albert Londres ist eine Nummer für sich. Man stelle sich einen Egon Erwin Kisch vor, der nicht aus Prag stammt – das geht nicht –, also man denke sich einen gebildeten Mann, der von einer großen Reporterleidenschaft wirklich besessen durch die Welt getrieben wird. Londres ist ein Reporter und nichts als das: keine langatmigen Untersuchungen, keine exakten Dokumente, sondern: Wo ist etwas los? Ich will dabei sein! Ihr werdet lesen“, so urteilt Tucholsky alias Peter Panter 1925 in der „Weltbühne“.

Die drei Reportagen – „China aus den Fugen“ (1922), „Ashaver“ (1929/1930) und „Perlenfischer“ (1931) – sind weniger journalistische Kunststücke als literarische Juwelen. Brillant geschrieben, von einer stilistischen Eleganz und formalen Vielfalt geprägt, reißen sie den Leser mitten hinein ins jeweilige Herz der Finsternis, nehmen ihn mit auf die Reise und übertragen diese Mischung aus kontemplativen Flanieren, Schauen und Beobachten und der Atemlosigkeit, wenn die Ereignisse sich überstürzen und der Reporter sich plötzlich mitten im Auge des Sturms befindet.

Unbeteiligt, unvoreingenommen, aber niemals distanziert blickt Londres, der seine Reporterkarriere beim Matin begann, später bei Le Petit Journal und bei Excelsior zu einem der bestbezahlten seiner Zunft wurde, auf die örtlichen Begebenheiten, auf die politischen Unruhen, die Ränke der Machthaber, das alltägliche Leid der Unterdrückten, gemäß seinem Wahlspruch: „Notre rôle n’est pas d’être pour ou contre, il est de porter la plume dans la plaie. - Unsere Rolle besteht weder in einem Dafür noch einem Wider, wir müssen die Feder an die Wunde setzen.”

Dies tut Londres mit etlichen Berichten, die für Aufsehen, politische Diskussionen und Veränderungen sorgen, sei es über die französischen Straflager in Französisch-Guayana, die Zustände in Nervenheilanstalten oder aber auch sein Bericht über die Tour de France, wo er als einer der ersten einen Dopingfall aufdeckt.

Zwar betont er von sich selbst, ein Reporter sei stets unvoreingenommen, kenne keine Linie, außer der einzigen, der Eisenbahnlinie – doch Londres, so mag man wie Marko Martin im Nachwort des Buches vermuten, ist ein „Herzens-Anarchist“. Zuweilen verlässt er die Position des Beobachters und wirbelt gehörig mit, rettet nebenbei eine Kurtisane (China aus den Fugen) oder ermahnt die Perlenketten tragenden Damen angesichts ihres Schmucks (Perlenfischer) nicht zu vergessen, wieviel Blut das Geschmeide die ausgebeuteten Perlentaucher kostet. Auch wenn sich Albert Londres wohl gerne weltläufig und leicht kaltschnäuzig gab – er war nicht „nur“ ein Reporter, sondern mehr als das – spürbar wird dies in der umfangreichsten der drei Reportagen, in „Ashaver ist angekommen“. Obwohl kein Jude, wird die Sympathie des Reporters für das jüdische Volk in diesem Bericht, der ihn rund um die Welt führt, mehr als deutlich. Schon das Unternehmen an sich ist von einem sagenhaften journalistischen Ehrgeiz – Londres reist 1929 über London in die Tschechei, die Karpaten und weiter via Czernowitz, Lemberg und Warschau nach Palästina. Er schildert die bedrückende Situation der Ostjuden, die Armut, die Ausgrenzung, die ewige Flucht, aber auch die Kluft zwischen orthodoxem Judentum und den jungen Zionisten, für die Palästina gleichzeitig Sehnsuchtsort und Heilsversprechen ist.

Auch für Londres ist dies Endpunkt der Reise, dort angekommen, gerät er mitten hinein in das politische Spannungsfeld zwischen Engländern, Arabern und Juden. Die Reportage entstand weniger Jahre vor Londres Tod, der 1932 bei einem Schiffsunglück im Golf von Aden ums Leben kam, und ist sicher eines seiner Meisterstücke. Zudem ist es eine eingehende Abbildung der bedrückenden Lebenssituation der osteuropäischen Juden kurz vor dem Massenmord.

„Polen, Rumänien sind aus Rußland hervorgegangen. Aber Polen und Rumänien haben aus Rußland ihren Vorrat an Antisemitismus erworben. Ein Jude ist dort immer ein Jude. Unter Umständen ist er ein Mensch, aber in jedem Fall ist er weder Pole noch Rumäne. Und wenn er Mensch ist, dann muss man ihn daran hindern, groß zu werden. Von der ganzen Geschichte der Juden hat Osteuropa nur die von Hiob behalten. (…). Das jüdische Problem ist kompliziert, aber ich glaube, daß es sich in einer Frage nach der Luft zusammenfassen läßt. Atmen oder nicht atmen können. Nicht mehr und nicht weniger.“

Londres, Albert, „Ein Reporter und nichts als das“, Aus dem Französischen von Petra Bail und Dirk Hemjeoltmanns (Ahasver ist angekommen), Die andere Bibliothek, Bandnummer: 348, ISBN: 9783847703488.

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (5): Rose Ausländer (1901-1988)

Kalligraphie des Neujahrs-Gedichtes von Rose Ausländer durch Petra S.-L.

Im neuen Jahr
grüße ich
meine nahen und
die fernen Freunde
grüße die
geliebten Toten
grüße alle
Einsamen
grüße die Künstler
die mit
Worten Bildern Tönen
mich beglücken
grüße die
verschollenen Engel
grüße mich selber
mit dem Zuruf
Mut

Rose Ausländer (1901-1988)

Sie ist unter den Lyrikerinnen aus der Bukowina – bereits vorgestellt wurden hier Selma Meerbaum-Eisinger und Ilana Shmueli – die Bekannteste: Rose Ausländer. An einem Punkt verknüpfen sich die Schicksale der drei Frauen: 1941 wird die jüdische Bevölkerung in Czernowitz von den Nationalsozialsten und deren rumänischen Schergen in einem Ghetto zusammengetrieben. Dem Transport in ein Arbeitslager entkommt Rose Ausländer, weil sie im Ghetto in Kellerverstecken untertaucht. Unter den einstmals 60.000 Juden in Czernowitz ist sie eine der wenigen Überlebenden.

Hunger, Arbeit, Todesnot – der Gruppe um Rose Ausländer und Paul Antschel, der sich später Paul Celan nennt, helfen Gedichte, um diese Zeit zu überstehen. Rose Ausländer, die Älteste unter ihnen, hat da bereits veröffentlicht, Lebens- und Welterfahrung gesammelt. „Schreiben war Leben. Überleben!“ notiert sie später.

Sie wird 1901 als Rosalie Beatrice Scherzer im damals noch österreichischen Czernowitz geboren. Schon als Schülerin kommt sie mit ihren Eltern nach Budapest und Wien, kehrt aber immer wieder in ihre multikulturelle, geistig blühende Heimatstadt zurück, wo sie 1919 ein Gaststudium der Literatur und Philosophie an der Universität beginnt.

Die Universität Czernowitz.

„Warum schreibe ich? Vielleicht weil ich in Czernowitz zur Welt kam, weil die Welt in Czernowitz zu mir kam. Jene besondere Landschaft. Die besonderen Menschen. Märchen und Mythen lagen in der Luft, man atmete sie ein.“, so äußert sie sich später über ihre geistige Heimat.

Und erinnert an die jiddischen Dichter Elieser Steinberg und Itzig Manger, die deutschsprachigen Autoren Paul Celan und Alfred Margul-Sperber, der sie entdeckte.
Und erinnert damit an eine einmalige Kulturlandschaft, die zerschlagen wurde, die man heute wieder zu beleben sucht (siehe das Projekt www.zeitzug.com) – doch Czernowitz, inzwischen ukrainisch, wieder in Zeiten politischer Unwägbarkeiten.

Lassen uns nicht

Mein Volk

Mein Sandvolk
mein Grasvolk

wir lassen uns nicht
vernichten

Bereits mit 17 schreibt Rose Ausländer Verse, Ideen in ihr Tagebuch, steht fest, „dass Lyrik mein Lebenselement war“. Doch zunächst kommen die Erfahrungen, dann die Literatur. 1920, nach dem Tod des Vaters wandert sie gemeinsam mit dem Studienkollegen Ignaz Ausländer in die USA aus. Dort arbeitet sie als Redakteurin und veröffentlicht bereits ihre ersten Gedichte. 1926 erhält sie die amerikanische Staatsbürgerschaft – die sie 1937 wegen ihrer langen Abwesenheit wieder verliert. Ob die Staatsbürgerschaft sie vor dem Ghetto bewahrt hätte? Und schließlich die Frage, die einen seltsamen, beinahe zynischen Unterton hat – was hätte dies für ihre Lyrik später bedeutet, ein Betrachten des Wahnsinns aus der Ferne?

„Wir treffen uns
hinter der Heimat
im Haus mit
gebrochenem Flügel“

schreibt sie in „Entfremdung“.

„Alle Dichter schöpfen in ihren Texten aus ihrem Erleben. Eine so enge Verknüpfung von Leben und Werk wie bei Rose Ausländer ist aber ungewöhnlich, selten, vielleicht einmalig“, meint Helmut Braun, Herausgeber ihrer Gedichte beim S. Fischer Verlag. Braun macht unter den fast 3.000 Gedichten, die Rose Ausländer in ihrem langen Leben schrieb, mehrere Hauptthemen, Kapitel, aus – Werke über die Kindheit und Jugend in der Bukowina, die Gedichte über das Judentum, über die Shoa-Erfahrung und das Exil, Texte über das Schreiben und die Heimat Sprache sowie Gedichte über wesentliche, existentielle Lebenserfahrungen – die Liebe, das Älterwerden, den Tod.

Die Liebe zur Mutter, die auch Heimat ist, führt die junge Frau zurück nach Europa, bis 1941 veröffentlicht Rose Ausländer weiter, lehrt Englisch, arbeitet als Übersetzerin, reist nach Paris, New York, wird geschieden, verliebt und trennt sich erneut – das Leben einer jungen, emanzipierten Frau, so erscheint es. Der Krieg, die Rassenverfolgung setzt dem allem ein Ende.

Nach der Shoa-Erfahrung ist auch ihr Schreiben nicht mehr dasselbe. Rose Ausländer überlebt, kehrt zurück in die USA – und verfasst ihre Gedichte bis 1956 ausschließlich in englischer Sprache. Es scheint, als habe sie neben der geographischen Heimat, der Mutter, die 1947 verstorben ist, auch die Heimat der deutschen Sprache verloren. „Warum schreibe ich seit 1956 wieder deutsch? Mysteriös, wie sie erschienen war, verschwand die englische Muse. Kein äußerer Anlass bewirkte die Rückkehr zur Muttersprache. Geheimnis des Unterbewusstseins.“

Mutterland

Mein Vaterland
ist tot
sie haben es begraben
im Feuer

Ich lebe
in meinem Mutterland
Wort

Die Annäherung an das Land der Täter kann nur wieder schrittweise erfolgen. 1957 unternimmt sie eine erste Europareise, Rumänien und Deutschland meidet sie. 1964 übersiedelt sie nach Wien, ein Jahr später dann in die Bundesrepublik.  Ab 1972 lebt sie im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf, dem Elternheim der jüdischen Gemeinde, wo sie nach langer Bettlägerigkeit am 3. Januar 1988 stirbt.

Der Dichter

fügt wieder zusammen
das zerstückelte Lied

Von Splittern zerrissen
sein Wort
trägt fort der Blutstrom

treibt es
zum Herzen

Verwundet
kittet er
die zersprungene
Scheibe
Zeit

Trotz ihrer angegriffenen Gesundheit im Alter zählen ihre letzten Jahre mit zu den produktivsten – das Schreiben ist ihr ein Bedürfnis, „ein Trieb“. Helmut Braun, der ihren literarischen Nachlass verwaltet und Rose Ausländer ab den 70er Jahren eigentlich erst richtig bekannt gemacht hat, war fasziniert von der ungeheuren Kreativität und Kraft dieser Dichterin, die auch angesichts des Sterbens dem Tod noch Worte abtrotzte.

„Warum schreibe ich?
Weil ich, meine Identität suchend, mit mir deutlicher spreche auf dem wortlosen Bogen.“

Die Werkausgabe erscheint bei den S. Fischer Verlagen: http://www.fischerverlage.de/autor/rose_auslaender/183

Zuletzt noch der Hinweis auf ein unterstützenswertes Projekt – die Rose Ausländer-Stiftung: http://www.roseauslaender-stiftung.de/

Bereits erschienene Beiträge über jüdische Lyrikerinnen:
Mascha Kaléko - ein Herbstleben
Hedwig Lachmann - die stille, unangepasste Dichterin
Selma Meerbaum-Eisinger - Blütenlese
Ilana Shmueli – die Stimme aus dem Exil

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (3): Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942)

Die Innenstadt von Czernowitz, einstmals blühende Kulturstadt und Heimat großer Dichter.

Poem (Auszug)

Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein.
Nein…

Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942).

Das Lachen, das Lieben, das Kämpfen, das Hassen – für all dieses blieb Selma Meerbaum-Eisinger nur eine kurze Lebensspanne vergönnt. Gerade einmal 18 Jahre alt durfte diese junge Frau werden, die inzwischen zu den großen Dichtern aus Czernowitz (heute in der Ukraine gelegen) gezählt wird: Wie Paul Celan und Rose Ausländer stammt sie aus dieser multikulturellen, vielsprachigen osteuropäischen, vor allem jüdisch geprägten Gemeinde, die einst Hauptstadt des Kronlandes Bukowina der österreichisch-ungarischen Monarchie war. Anders als Paul Celan, mit dem sie verwandt war, und Rose Ausländer überlebt Selma Meerbaum-Eisinger den Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Rassenideologie jedoch nicht. Nach dem Einmarsch rumänischer und deutscher Truppen im Juli 1941 wurde Selmas Familie in das Ghetto von Czernowitz gezwungen und bald darauf ins Arbeitslager Michailovka nach Transnistrien verschleppt. Dort stirbt Selma Meerbaum-Eisinger am 16. Dezember 1942 entkräftet am Flecktyphus. Was von ihr bleibt, sind 58 Gedichte.

Ja (1941)

Du bist so weit.
So weit wie ein Stern, den ich zu fassen geglaubt.
Und doch bist du nah -
nur ein wenig verstaubt
wie vergangene Zeit.
Ja.

Du bist so groß.
So groß wie der Schatten von jenem Baum.
Und doch bist du da -
nur blaß wie ein Traum
in meinem Schoß.
Ja.

Bis 1980 dauert es, bis dieses literarische Vermächtnis in Deutschland veröffentlicht wird. Der deutsche Literaturhistoriker Jürgen Serke gab 1980 diese Gedichte unter dem Titel Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund im renommierten Verlag Hoffman und Campe, Hamburg, mit seinem Essay Geschichte einer Entdeckung heraus. Zwei von Selmas Freundinnen, die inzwischen in Israel lebten, bewahrten die Gedichte auch in ihrer neuen Heimat auf. Hersch Segal, einst Klassenlehrer des Mädchens im jüdischen Lyzeum von Czernowitz, brachte die Poeme schließlich 1976 in einer kleinen Auflage im Privatdruck heraus. Diese „Blütenlese“ - so hatte Selma ihr blaues Album, in das sie die Zeilen schrieb, genannt - gelangt schließlich über die Familie Paul Celans an Hilde Domin. Und die große jüdische Lyrikerin sorgt letztlich dafür, dass Serke und andere von diesen Gedichten erfahren.

Ein Denkmal erinnert an die ermordeten Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Czernowitz.

Fast vier Jahrzehnte benötigte es, bis Selma Meerbaum-Eisinger dem Vergessen entrissen wurde. Unbefangen, unbeeindruckt lesen kann man ihre Zeilen heute nicht - nicht, wenn man weiß, welches Schicksal sie erwartete. Zunächst sind die Gedichte der jungen Frau Natur- und Liebesgedichte - gewidmet ihrem ein Jahr älteren Freund Lejser Fichman, den sie in der zionistischen Jugendbewegung kennengerlernt hatte. Selma, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, träumt mit ihm von einer besseren Welt. Die Auswanderung nach Palästina ist ein Traum, ein Ziel. Doch in allen Zeilen liegt schon diese Ahnung inne, dass das Leben für diese beiden jungen Menschen etwas anderes bereithält.

Lied (1939)

Heute tatest du mir weh.
Rings um uns war Schweigen nur,
Schweigen nur und Schnee.
Himmel war, nicht wie Azur,
blau jedoch und voll mit Sternen.
Windeslied erklang aus fernsten Fernen.

Heute warst du mir ein Schmerz.
Häuser waren da, so weiß verschneit,
alle in des Winters Kleid.
Ein Akkord in tiefer Terz
war in unsrer Schritte Klang.
Bahnsirenen heulten lang…

Heute war es wunderschön.
Schön wie tiefverschneite Höh’n,
eingetaucht im Abendglutenring.

Heute tatest du mir weh.
Heute sagtest du mir: geh!
Und ich - ging.

Czernowitz, einst noch rumänisch, wird an die Sowjetunion abgetreten. Die Hoffnung, dies sei für die jüdische Bevölkerung die Rettung, trügt - bis 1941 werden Tausende nach Sibirien verschleppt. 1941 wird Czernowitz erneut von den Rumänen besetzt - und die Verfolgung der Juden nimmt ihren ganzen grausamen Verlauf: Verlust der Bürgerrechte, Einführung des gelben Judensterns, Zwangsarbeit, Ghettoisierung, Deportation. Lejser Fichman stirbt auf der Flucht, Selma, ihre Mutter und der Stiefvater verlieren im Arbeitslager ihr Leben.

Die Gedichte zeugen von einem hellwachen, aufgeweckten, neugierigen und lebensfrohen Geist, sie zeigen die Handschrift eines Mädchens, das zwar noch jung, aber schon von ungeheurer Sensibilität war. Ihr Einfühlungsvermögen spricht für eine große Reife. Manches wirkt vielleicht sprachlich noch ein wenig aus dem Takt, ein wenig zu schwärmerisch. Doch selbst im Moment des kritischen Lesens spürt man dies große Talent. Und die Frage steht im Raum: „Was hätte aus ihr noch werden können?“

Hilde Domin schrieb über Selma Meerbaum-Eisinger und ihre Begabung: „Trotz des >Sonderschicksals< ist dies ein Werk, das deutlich ins Gut der deutschen Poesie gehört, nicht der spezifisch jüdischen. Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell und so bedroht.“

Poem (1941)

Die Bäume sind von weichem Lichte übergossen,
im Winde zitternd glitzert jedes Blatt.
Der Himmel, seidig-blau und glatt,
ist wie ein Tropfen Tau vom Morgenwind vergossen.
Die Tannen sind in sanfte Röte eingeschlossen
und beugen sich vor seiner Majestät, dem Wind.
Hinter den Pappeln blickt der Mond aufs Kind,
das ihm den Gruß schon zugelächelt hat.

Im Winde sind die Büsche wunderbar:
bald sind sie Silber und bald leuchtend grün
und bald wie Mondschein auf lichtblondem Haar
und dann, als würden sie aufs neue blühn.

Ich möchte leben.
Schau, das Leben ist so bunt.
Es sind so viele schöne Bälle drin.
Und viele Lippen warten, lachen, glühn
und tuen ihre Freude kund.
Sieh nur die Straße, wie sie steigt:
so breit und hell, als warte sie auf mich.
Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt
die Sehnsucht, die sich zieht durch mich und dich.
Der Wind rauscht rufend durch den Wald,
er sagt mir, daß das Leben singt.
Die Luft ist leise, zart und kalt,
die ferne Pappel winkt und winkt.

Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein!
Nein.
Das Leben ist rot,
Das Leben ist mein.
Mein und dein.
Mein.

Warum brüllen die Kanonen?
Warum stirbt das Leben
für glitzernde Kronen?

Dort ist der Mond.
Er ist da.
Nah.
Ganz nah.
Ich muß warten.
Worauf?
Hauf um Hauf
sterben sie.
Stehn nie auf.
Nie und nie.
Ich will leben.
Bruder, du auch.
Atemhauch
geht von meinem und deinem Mund.
Das Leben ist bunt.
Du willst mich töten.
Weshalb?
Aus tausend Flöten
weint Wald.

Der Mond ist lichtes Silber im Blau.
Die Pappeln sind grau.
Und Wind braust mich an.
Die Straße ist hell.
Dann…
Sie kommen dann
und würgen mich.
Mich und dich
tot.
Das Leben ist rot,
braust und lacht.
Über Nacht
bin ich
tot.

Ein Schatten von einem Baum
geistert über den Mond.
Man sieht ihn kaum.
Ein Baum.
Ein
Baum.
Ein Leben
kann Schatten werfen
über den
Mond.
Ein
Leben.
Hauf um Hauf
sterben sie.
Stehn nie auf.
Nie
und
nie.

Weitere Beiträge über jüdische Lyrikerinnen:
Mascha Kaléko - ein Herbstleben
Hedwig Lachmann - die stille, unangepasste Dichterin

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (2): Hedwig Lachmann (1865-1918)

Feature

Bild: Rose Böttcher

Winterbild

In meinem Zimmer ein paar frische Blumen,
Die allen Wintermissmut mir vertreiben.
Ein Vöglein pickt vor meinem Fenster Krumen
Und guckt dabei zutraulich durch die Scheiben.

In Stroh und Bast die Bäume eingeschlagen,
Damit der strenge Frost sie nicht berühre,
Die Beete wohl verwahrt vor kalten Tagen –
Und, blossen Haupts, ein Bettler vor der Türe.

Hedwig Lachmann (1865-1918)

Prägen Landschaften die Menschen, die in ihnen leben?
Ich meine: In gewisser Weise schon.
Das Bild wurde in jener Gegend aufgenommen, in der die jüdische Dichterin Hedwig Lachmann aufwuchs und nach einem wechselvollen Leben auch starb. Das Kleinräumige, das nach Weite schreit, das Winterkarge, das sich im Sommer fast schon wieder in das Kitschig-Liebliche wandeln kann, das Bodenständige, das Zurückgenommene  - all das ist in dieser Landschaft. Und es ist in den Gedichten Lachmanns zu spüren, die immer wieder in diese schwäbische Gegend zurückkehrte: Hier war ihre Familie, hier ihre Heimat.

Ebenso sind in den Gedichten also auch die Sehnsucht, die menschliche Wärme, eine stille Herzensklugheit, wie sie im “Winterbild” offenbart wird, zu spüren. Für die Landschaft ist gesorgt vor dem Frost, der Bettler aber geht unbedeckt.

Diese Mischung aus leiser Melancholie und Mitgefühl ist ein Kennzeichen dieser Dichterin, die dem Vergessen zum Opfer fiel. Wer nur diese Seite ihrer Lyrik kennenlernt, erhält jedoch ein falsches, einseitiges Bild: Hedwig Lachmann war ebenso eine engagiert politisch denkende Frau, eine, die ihren Weg wählte und ging, jedoch ohne viel Aufhebens darum zu machen. Mir scheint, sie war eine stille Unangepasste - eine, die früh selbständig war, die zum selbständig Denken erzogen worden war und durchaus auch deshalb nicht den einfachsten ihr dargebotenen Weg einschlug.

Hedwig Lachmann kam im August 1865 in Pommern zur Welt. Sie war die Älteste der sechs Kinder des Kantors Isaac Lachmann und dessen Frau Wilhelmine. Die Familie zieht 1873 nach Hürben bei Krumbach um. In diesem  schwäbisch-bayerischen Ort existierte 1675 bis 1942 eine meist sehr große jüdische Gemeinde, allein um 1840 gehörten zu ihr 652 Mitglieder. Bereits um 1900 war die Gemeinde jedoch auf 123 Personen gesunken. 40 Jahre später überleben nur wenige Hürbener Juden, die rechtzeitig auswandern konnten, den Nationalsozialismus.

Als Hedwig Lachmann nach Hürben kommt, ist die Gemeinde bereits klein, aber intakt. Ihr Vater ist dort ebenfalls als Kantor und Lehrer tätig. Sie selbst besucht die Mädchenschule in Krumbach und legt dank ihrer Sprachbegabung bereits mit 15 Jahren ein Lehrerinnen-Examen in Augsburg ab. 1882 - also gerade erst 17 Jahre alt - übernimmt sie ihre erste Stellung als Gouvernante in England, dann folgen Aufenthalte in Dresden, ab 1887 in Budapest, ab 1889 schließlich lebt sie in Berlin.

Schon zu dieser Zeit schrieb Lachmann eigene Gedichte und arbeitete ab und an journalistisch. 1891 erscheint ihr erstes Buch, “Ungarische Gedichte”, vor allem Nachdichtungen von Alexander Petöfi. Gefördert wurde ihr Talent vor allem von Richard Dehmel, mit dem sie ab 1892 einen intensiven Briefwechsel führt. Mit dem Lyriker verbindet sie eine komplizierte Beziehung - er, damals noch verheiratet mit der Märchendichterin Paula Oppenheimer, sehnt sich nach einer Ménage à trois, will die Lachmann nicht nur platonisch lieben. Sie schreckt davor zurück - und entzieht sich der Situation durch ihren Umzug nach Budapest.Die Freundschaft zu Dehmel zerbricht endgültig 1914, als dieser sich, wie soviele andere Intellektuelle, vom Taumel der Kriegsbegeisterung mitreißen ließ. Er ließ sich, so schreibt sie an einen Freund, “von der Sturzwelle der nationalen Leidenschaft fortreißen”, er habe “seinen Beruf verkannt.”

Auch wenn Hedwig Lachmann sich selbst nicht als Anarchistin bezeichnete, politisch Stellung nahm sie gleichwohl. Vor allem für einen unbedingten Pazifismus. Ihr Antikriegsgedicht ist auch als entschiedene Reaktion auf den blinden Nationalismus der Vorkriegsjahre zu verstehen:

Mit den Besiegten

Preist Ihr den Heldenlauf der Sieger, schmückt
Sie mit dem Ruhmeskranz, Euch dran zu weiden -
Ich will indessen, in den Staub gebückt,
Erniedrigung mit den Besiegten leiden.

Geringstes Volk! verpönt, geschmäht, verheert
Und bis zur Knechtschaft in die Knie gezwungen -
Du bist vor jedem stolzeren mir wert,
Als wär’ mit dir ich einem Stamm entsprungen!

Heiß brennt mich Scham, wenn das Triumphgebraus
Dem Feinde Fall und Untergang verkündet,
Wenn über der Zerstörung tost Applaus
Und wilder noch die Machtgier sich entzündet.

Weit lieber doch besiegt sein, als verführt
Von eitlem Glanz – und wenn auch am Verschmachten,
Und ob man gleich den Fuß im Nacken spürt -
Den Sieger und das Siegesglück verachten.

Bildquelle: https://libraries.ucsd.edu/blogs/sshl/german-tragedies/
Bildquelle: https://libraries.ucsd.edu/blogs/sshl/german-tragedies/

Im Frühjahr 1899 heiratet sie schließlich den Pazifisten und Anarchisten Gustav Landauer und zieht mit ihm zunächst nach England. Erich Mühsam (siehe hier ein Beitrag auf Sätze&Schätze), ein gemeinsamer Freund, besorgt dem Paar  1902 eine Wohnung in Hermsdorf bei Berlin. Die beiden geben sich großen Halt: “Sie waren zwei Menschen wie auf Flügeln, und sie waren zusammen eine Einheit”, sagte Hermann Sinsheimer.

Aus deiner Liebe …

Aus deiner Liebe kommt mir solch ein Segen,
Sie macht mein Herz so sorglos und so fest,
Ich kann so ruhig mich drin niederlegen,
Wie sich ein Kind dem Schlafe überlässt.

Ich geh dahin von Zuversicht getragen,
Seit neben deiner meine Seele schweift;
So, wie man wohl an schönen Sommertagen
Durch reife Ährenfelder sinnend streift.

Da gleiten sanft die Finger über Blüten
Und Halme hin, wie eine Mutter pflegt,
Und alles Leben möchte man behüten,
Das seine heil’ge Saat zum Lichte trägt.

1902 veröffentlicht Hedwig Lachmann wieder eigene Gedichte - zuvor war sie vor der Außenwelt vor allem durch ihre Übersetzungen von Poe, Oscar Wilde und Balzac hervorgetreten. Einige dieser Übertragungen sind durchaus noch  in Gebrauch: So Balzacs „Frau von 30 Jahren“, erschienen als Fischer Klassik Taschenbuch.

1917 ziehen die Landauers wegen der schlechten Ernährungslage in Berlin nach Bayern – Hedwig kehrt an den Ort ihrer Kindheit zurück. Am 21. Februar 1918 stirbt sie in Krumbach an einer Lungenentzündung. Der tieferschütterte Landauer gibt im Jahr nach ihrem Tod ihre “Gesammelten Gedichte” bei Kiepenheuer heraus. Landauer selbst wird 1919, nach dem Scheitern der Münchner Räterepublik, von Soldaten ermordet.

Hedwig Lachmann hat viele wunderbare Gedichte hinterlassen, die es wieder zu entdecken gilt. Und sie gab ihr Talent trotz des viel zu kurzen Lebens weiter: Ihr Enkel ist Mike Nichols, geboren 1931 in Berlin als Michael Igor Peschkowsky, der als Regisseur unter anderem mit “Die Reifeprüfung”, “Catch 22″ und “Silkwood” für gutes Kino sorgte.

Ich plane eine kleine Reihe mit jüdischen Lyrikerinnen. Neben Hedwig Lachmann wurde bereits Mascha Kaléko vorgestellt:
http://saetzeundschaetze.com/2013/11/16/mascha-kaleko-ein-herbst-leben/

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (1): Mascha Kaléko (1907-1975)

Bild

Bild: Iris Jahnke

Herbstabend (Auszug)

Nun gönnt sich das Jahr eine Pause.
Der goldne September entwich.
Geblieben im herbstlichen Hause
Sind nur meine Schwermut und ich.

Mascha Kaléko
geboren 7. Juni 1907 in Chrzanów (Schidlow), Galizien, Polen
gestorben 21. Januar 1975, in Zürich, Schweiz

 EIn Beitrag von Klaus Krolzig

Nach ihren frühen Erfolgen mit Gedichten in der Tradition Heines und Tucholskys wurde Mascha Kaléko von den Nazis zur Aufgabe ihrer Heimat und ihrer Karriere gezwungen. Das Gefühl, Außenseiterin zu sein, kannte sie seit ihrer Kindheit, seit ihre Familie aus dem armen Galizien nach Deutschland gekommen war. Aber sie passte sich schnell an, beherrschte den Berliner Dialekt bald perfekt - wie ihre ersten Gedichte zeigen.

Nach der Schulzeit arbeitete sie ab dem 16. Lebensjahr als Sekretärin und verarbeitete ihre Erlebnisse in ihren reizvollen und originellen frühen Gedichten, die erst in Zeitungen erschienen und dann bei Rowohlt unter den Titeln Das lyrische Stenogrammheft (1933) und Das kleine Lesebuch für Große (1935). Kalékos Songs waren so erfolgreich wegen ihrer ungewohnten Verbindung von Berliner Schnoddrigkeit und der Wärme und Melancholie des Ostjudentums; sie wurden von ihr selbst und Chansonsängerinnen wie Claire Waldoff und Rosa Valetti im Radio und in Cabarets vorgetragen. Nach ihrem Verbot durch die Nazis wurden die Songs abgeschrieben und heimlich verbreitet.

Bild1928 heiratete Mascha Saul Kaléko, einen Philologen, von dem sie sich nach zehn Jahren scheiden ließ, um den Musikwissenschaftler und Dirigenten Chemjo Vinaver zu heiraten, Vater ihres Sohnes Evjatar und Spezialist für chassidische Chormusik.

1938 emigrierte die Familie nach New York. Mascha verdiente Geld mit Werbetexten und machte die Öffentlichkeitsarbeit für den Chor ihres Mannes. In Verse für Zeitgenossen verarbeitet Kaléko ihre Exilerfahrungen in eindringlichen satirischen Gedichten. Ihr Comeback hatte 1956 mit dem Wiederabdruck des Lyrischen Stenogrammhefts eingesetzt; nach zwei Wochen stand es auf der Bestsellerliste, und Kaléko machte erfolgreiche Lesereisen durch Europa.

1960 zog Kaléko wegen der Arbeit ihres Mannes mit nach Jerusalem, aber sie wurde dort nie richtig heimisch. Obwohl sie in den 60er und frühen 70er Jahren weiter veröffentlichte, war das Comeback doch nur kurz gewesen; wieder geriet sie in Vergessenheit. Mascha und Chemjo waren beide nicht sehr gesund, und 1968 starb plötzlich ihr Sohn, der in den USA ein erfolgreicher Dramatiker und Regisseur geworden war. Nach Chemjos Tod 1973 verstärkte sich Maschas Isolation immer mehr. Sie starb an Magenkrebs während einer Reise durch Europa.

Von 1966 stammt dieses Gedicht – ein Gedicht aus dem Herbst eines Menschenlebens:

Das Rezept (Auszug)

Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
und der Anzug im Schrank.

(…)
Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.

Ihr Ton ist unverwechselbar. Auch wenn Mascha Kaléko oft mit Erich Kästner, Joachim Ringelnatz und Kurt Tucholsky verglichen, mit ihnen in denselben Topf der Zwanziger-Jahre-Lyriker geworfen wird, erkennt man ihre Gedichte sofort. Das liegt nicht nur am weiblichen “lyrischen Ich”, sondern an den fast immer ein wenig düster grundierten Versen mit Witz und ironischem Blick auf allerlei Alltagsprobleme. Dahinter lauern oft Verlustängste, Sehnsüchte nach Heimat und Geborgenheit.

Wenn Thomas Mann in Bezug auf Mascha Kaléko von “aufgeräumter Melancholie” spricht, hat er sich wohl von der Fassade blenden lassen, während Karl Krolow mit seinem Diktum, bei ihr sei “Gefühl das Gefühl der Ertrinkenden”, ein wenig zu sehr dramatisiert. Vielleicht liegt, wie so oft, die Wahrheit in der Mitte oder besser: im Sowohl-als-auch. Tatsächlich war es Marcel Reich-Ranicki, der die schlicht vergessene Kaléko vor einigen Jahren rehabilitierte und über ihre Poesie schrieb: “kess und keck, frech und pfiffig, schnoddrig und zugleich sehr schwermütig, witzig und ein klein wenig weise”.

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Beim Deutschen Taschenbuchverlag erschien 2012 die erste kommentierte Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Mascha Kaléko: http://www.dtv.de/mascha_kaleko_saemtliche_briefe_und_werke_1251.html

Ein wunderbarer Beitrag über Mascha Kalékos Berlin ist auf diesem lesenswerten Blog zu finden: http://aroomforonesown.wordpress.com/2014/06/21/mascha-kalekos-berlin/

Und unter dieser Rubrik gibt es weitere Portraits jüdischer Lyrikerinnen: http://saetzeundschaetze.com/category/frauen-literatur/portraits-judischer-lyrikerinnen/

Udo Bayer: Carl Laemmle und die Universal – eine transatlantische Biografie (2013).

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„Im Gesamtzusammenhang der rekonstruierbaren Fakten lassen sich Laemmles Auswanderungsmotive mit großer Wahrscheinlichkeit so rekonstruieren, dass er einerseits die nur bescheidenen beruflichen Aussichten mit den vermuteten Chancen in Amerika vergleicht, das zudem der Familie nicht ganz fremd ist und zusätzlich noch die Verlockungen einer den Jugendlichen faszinierenden Welt des Abenteuerlichen verspricht. So betrachtet fällt er auch aus der Typisierung heraus, die Hertzberg für die jüdischen Einwanderer Amerikas gibt. „Eine unglückliche europäische Vergangenheit“ Laemmles gibt es nicht, denn hiergegen spricht schon seine spätere Anhänglichkeit an seine Geburtsstadt.“

Dr. Udo Bayer, „Carl Laemmle und die Universal – eine transatlantische Biografie“, Verlag Königshausen & Neumann, 2013, ISBN 978-3-8260-5120-3.

Von dem hier die Rede ist, ist Carl Laemmle, 1867 in der oberschwäbischen Kleinstadt Laupheim geboren – einer, der sich 17jährig aufmacht, um in Amerika sein Glück zu machen, und wenige Jahre später mit anderen gemeinsam den Grundstein zur „Traumfabrik“ legt: Carl Laemmle gründete 1912 über die Universal Pictures diese Kunststadt namens Hollywood.

Laemmles Geschichte ist jedoch weit mehr als die einer besonders erfolgreichen Auswanderung. Seine Biographie ist auch ein wesentlicher Teil der Geschichte des Judentums in Oberschwaben und Bayern – von der Ansiedlung in den schwäbischen Gemeinden, in denen die jüdischen Familien mit beschränkten Rechten als „Fremdkörper“ ihre Existenz aufbauten (noch heute gibt es in Laemmles Geburtsstadt beim Standort der ehemaligen Synagoge einen „Judenberg“) über die langsame Assimilation, Integration und Emanzipation, bedingt vor allem durch den wirtschaftlichen Erfolg der jüdischen Gemeinden, über die Auswandungsbewegung ab den 1860er Jahren bis hin zum Holocaust. Laemmle, der seinem Geburtsort sein Leben lang verbunden blieb, ihn besuchte und finanziell als Mäzen auftrat – so stiftete er das Volksbad, gründete eine Armenstiftung und half durch zahlreiche Spenden – verhalf mehr als 300 Juden mit so genannten Affidavits zur Flucht aus Deutschland während des NS-Regimes. Ein Zeichen setzte er auch in seiner Arbeit: So produzierte er nicht nur Kassenschlager wie „Das Phantom der Oper“ oder den „Glöckner von Notre-Dame“, sondern (bzw. sein Sohn Julius) auch „Im Westen nichts Neues“ nach dem Roman von Erich Maria Remarque. Buch und Film – beides die Anti-Kriegsklassiker per se – wurden im Deutschen Reich verboten.

Lange blieb die Geschichte Laemmles auch in seiner Heimatstadt verborgen. Engagierte Bürgerinnen und Bürger widmen sich dort seit Jahren der Aufarbeitung des Schicksals der jüdischen Gemeinde, die im württembergischen Laupheim zeitweise eine der größten Gemeinden des Königreichs war. Sie geht auf einige jüdische Familien aus Illereichen und Buchau zurück, die 1724 durch Reichsfreiherr Anton v. Welden als Schutzjuden in Laupheim „zur Belebung des Laupheimer Markts” angesiedelt wurden.

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Gedenktafel am Geburtshaus in Laupheim, Landkreis Biberach a.d. Riß

Auch Dr. Udo Bayer, Gymnasiallehrer im Ruhestand, widmet sich seit Jahren der Erforschung dieses Aspekts der Lokalgeschichte. Seit 1988 recherchierte er insbesondere zum Leben Carl Laemmles – akribisch und mit hohem Aufwand. Denn von Laemmle selbst sind nur wenige Zeugnisse erhalten, zudem gab es bislang nur eine als Auftragsarbeit 1931 verfasste Biographie des Filmmoguls mit Wurzeln im Schwabenland. Mit seinem Buch schließt Dr. Bayer eine Lücke – in der Filmgeschichte und der jüdischen Geschichte. Bayer zeichnet ebenso den auf tragische Weise parallel einhergehenden Niedergang nach – die Universal Pictures kommen in finanzielle Schwierigkeiten just zu jener Zeit, als Laemmle in der alten Heimat mehr und mehr zur persona non grata, zum „Filmjuden“ gebrandmarkt wird. Durch die Weltwirtschaftskrise ins Strudeln geraten, muss Laemmle 1936 sein Unternehmen verkaufen. 1939 stirbt er an einem Herzinfarkt in seiner Villa in Beverly Hills.

In Laupheim wird die erst seit 1927 so getaufte Carl-Laemmle-Straße 1933 wieder umbenannt – nichts darf an den früheren Gönner und Wohltäter der Stadt erinnern. Noch in den 90erJahren löst der Vorschlag, das örtliche Gymnasium nach dem berühmtesten Sohn der Stadt zu nennen, hitzige Debatten aus. Heute gibt es in Laupheim Museum zur Geschichte von Christen und Juden (ein Zweig des Haus der Geschichte Baden-Württembergs), eine Abteilung ist Carl Laemmle gewidmet. www.museum-laupheim.de

Unweit davon ist der jüdische Friedhof zu finden (die Synagoge wurde in der so genannten „Reichskristallnacht“ abgebrannt). An den Grabstätten zeigt sich die enge Verflechtung der jüdischen Familien in Laupheim, auch zu den anderen schwäbischen Gemeinden – so sind hier auch Gedenken an die Verwandten des gebürtigen Ulmers Albert Einstein zu finden. Einstein und Laemmle – zwei Schwaben in Amerika, die dort bei Begegnungen ihr „Schwäbisch“ pflegten (siehe: http://saetzeundschaetze.com/2013/11/13/albert-einstein-und-carl-laemmle-im-gesprach/).

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Jüdischer Friedhof in Laupheim. Bild: Michael Böllinger

Eine der vielen tragischen Geschichten dieser Zeit erzählen auf diesem Friedhof drei Grabsteine, die durch ihre Nähe zueinander auffallen. Sie sind mehr noch als spätere cineastische Erzeugnisse der Traumfabrik zur Shoah für mich ein Sinnbild für den bestialischen Wahnsinn dieser Zeit.

Es ist die Geschichte der Schwestern Sally, Jette und Therese Kirschbaum. Die hochbetagten Schwestern, die ohne weitere Verwandte in Laupheim verblieben und unter den letzten Überlebenden der jüdischen Gemeinde waren, wählten angesichts der drohenden Deportierung den Freitod.

Unter http://steinheim-institut.de/cgi-bin/epidat?sel=lau&inv=388 findet man nur folgende Auskunft: „Die drei betagten Schwestern, Betreiberinnen einer kleinen Gemischtwarenhandlung, wählten an drei aufeinanderfolgenden Tagen den Freitod, nachdem sie ihres Heimes verwiesen und in Baracken zwangsumgesiedelt wurden. Sie sind unter den Laupheimer Opfern der Nationalsozialisten verzeichnet.“

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 flohen 126 von 235 jüdischen Einwohnern ins Ausland, die meisten von ihnen nach der sogenannten Reichspogromnacht im November 1938. In dieser Nacht wurde auch die Laupheimer Synagoge in Brand gesteckt. Im folgenden Jahr wurden die noch verbliebenen jüdischen Bürger innerhalb von Laupheim in das Barackenlager Wendelinsgrube zwangsumgesiedelt und in den Jahren 1941 und 1942 schließlich in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Nach dem letzten von vier Transporten am 19. August 1942 hörte die jüdische Gemeinde in Laupheim auf zu existieren.

Soweit man weiß, haben nur zwei Mitglieder der einstmals blühenden jüdischen Gemeinde den Nationalsozialismus überlebt. Umso wichtiger das Engagement von Menschen wie Dr. Udo Bayer, die die Erinnerung wachhalten.

Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen (2012)

„Und Viktor saß auf einem Stuhl neben dem Küchenherd, der einzige Platz im Haus, wo es warm war. Jeden Tag verfolgte er in der Times die Nachrichten über den Krieg, an Donnerstagen las er die Kentish Gazette. Er las Ovid, besonders die “Tristia”, die Gedichte aus dem Exil. Beim Lesen strich er sich mit der Hand über das Gesicht, damit die Kinder nicht sahen, welche Wirkung der Dichter auf ihn hatte. Er las beinahe den ganzen Tag über, außer wenn er seinen kurzen Spaziergang die Blatchingdon Road hinauf und zurück unternahm oder ein Schläfchen hielt. Gelegentlich ging er den ganzen Weg ins Stadtzentrum in Halls Antiquariat, wo der Buchhändler Mr. Pratley besonders freundlich zu Viktor war, während der die Bände von Galsworthy, Sinclair Lewis und H. G. Wells befühlte.
Manchmal erzählte er den Buben, wenn sie aus der Schule heimkamen, von Aeneas und seiner Rückkehr nach Karthago. Dort sind an die Wände Szenen aus Troja gemalt. Erst dann, konfrontiert mit den Bildern dessen, was er verloren hat, kann Aeneas endlich weinen. “Sunt lacrimae rerum”, sagt Aeneas. Es sind die Tränen der Dinge, liest Viktor dort am Küchentisch, während die Buben ihre Algebra-Aufgaben erledigen.“

Edmund de Waal, “Der Hase mit den Bernsteinaugen”, 2012, Zsolnay Verlag

Die Tränen des Aeneas kann auch Viktor Ephrussi teilen – so unendlich viel hat er verloren im von den Nationalsozialisten angeschlossenen Österreich: Seine Frau, Freunde und Familienmitglieder, sein Vermögen, Haus und Besitz. Aber vor allem auch sein Vertrauen darin, trotz der jüdischen Herkunft als vollwertiges Mitglied in der Gesellschaft angekommen zu sein. Edmund de Waal erzählt die Geschichte seiner Familie über Generationen und Lebenswege hinweg – von Odessa über Paris und Wien bis hin zu den Exilorten in England und Japan. Leitfiguren dabei bilden 264 Netsuke, Miniatur-Schnitzereien aus Holz und Elfenbein aus Japan.Sie liegen in der Vitrine des britischen Keramikkünstlers Edmund de Waal, Nachkomme der jüdischen Familie Ephrussi.

Auf welchen - teilweise abenteuerlichen - Wegen sie dorthin gelangten, schildert de Waal in diesem Familienalbum. Angekauft von einem kunst- und feinsinnigen Vorfahren im Paris der Belle Epoque wird die Sammlung der filigranen japanischen Kostbarkeiten im Wien der Jahrhundertwende vom Dekorationsobjekt und Liebhaberei zum Kinderspielzeug, das ein arisches Stubenmädchen schließlich versteckt in einer Matratze vor der Beutegier der Nationalsozialisten rettet.

Die Netsuke – der titelgebende Hase mit den Bernsteinaugen ist einer davon – sind der Leitfaden für diese dramatische Familiensaga. Sie sind auch ein Symbol dafür, wie eine jüdische Familie, gleich wo, ob Paris, Wien oder andernorts, und gleich viel, wie hoch der Preis für die Assimilierung war, immer wieder auf Antisemitismus stößt. De Waal unterlegt dies mit fundiert recherchierten Informationen – erschreckend zu erfahren, wie auch anerkannte französische Künstler, beispielsweise die Goncourt-Brüder, verbal gegen das Judentum hetzten.

Die Ephrussi, von denen de Waal erzählt, waren einst an Reichtum und Einfluss den Rothschilds ebenbürtig. Mit dem österreichischen Anschluss setzte der Niedergang ein – das Bankhaus und das gesamte Vermögen wurden arisiert, Teile der Familie ermordet, andere in die ganze Welt verstreut.

„Der Hase mit den Bernsteinaugen“ gleicht einem literarischen Netsuke: Auf kleinstem Raum komprimiert de Waal die Wanderungen einer Familie durch Europa, kombiniert Kunstreflektionen, Zeitgeschichte und Biographisches, zeigt die Entwicklung des europäischen Judentums exemplarisch an einer, an seiner Familie auf. Dies macht das Buch nicht unbedingt leicht lesbar – aber auch der Wert eines Netsuke erschließt sich nicht auf den ersten Blick.

Installation Lichtzwang, 2014, Edmund de Waal

Edmund de Waal, 1964 in Nottingham geboren, studierte in Cambridge. Er ist Professor für Keramik an der University of Westminster. „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ erschien 2011 im Original, die deutschsprachige Ausgabe dann beim Zsolnay Verlag und als Taschenbuch bei dtv.

Die kreativen Arbeiten des Autorenkünstlers de Waal kann man hier bewundern:  http://www.edmunddewaal.com/