#VerschämteLektüren (11): Die Beatgeneration und ihre Sudelbücher

Auf seinem Blog “Beatgeneration” stellt Matthias die Schriftsteller vor, die die amerikanische Subkultur literarisch erfassten und prägten: Jack Kerouac, Allen Ginsberg, William S. Burroughs bis hin zum “dirty old man” Charles “Hank” Bukowski. Da meint man doch (jedenfalls ich als unverdorbenes bayerisches Landei), es könne keine verschämten Lektüren mehr geben. Aber nichts da - auch Matthias zieht was unter der Bank hervor:

Anders als Gerhard Emmer im vorigen Beitrag musste ich zum Thema #VerschämteLektüren nicht «eine Weile vor der Bücherwand stehen» und überlegen, was zum Thema passen könnte. Es sind eindeutig die Jerry Cotton Kriminal-Romane aus der Reihe des Bastei-Verlages, die ich in den 70ern unter der Schulbank konsumierte, weil sie zu Hause für einen Skandal gesorgt hätten. «Stehen» (ich gestehe: wie unter der Schulbank) würde auch allenfalls ich selbst, handelte es sich doch um eine Hefte einer Reihe, die schon rein physikalisch betrachtet keine Standfestigkeit aufwies und die heute nicht einmal in meinen «Archiven» zu finden sind, geschweige denn auf einem Regalbrett oder unter dem Küchentisch - obschon: ich habe nichts zu verbergen …

Heute ist «Jerry Cotton Classic» eine neue Reihe, in der teilweise lang verschollene Jerry Cotton-Romane aus der Frühzeit der Serie wieder dem Publikum zugänglich gemacht werden. Die Romane spielen in einer Zeit, in der Jerry und Phil noch geraucht, Hüte getragen und sich den einen oder anderen Whiskey genehmigt haben. Das Internet war damals genauso Zukunftsmusik wie Handys und Computer.

«Ab hier ermitteln Sie» - in den Krimiserien von Bastei (Shop, Leseprobe, Archiv):
http://www.bastei.de/indices/index_allgemein_209.html

Eine weitere Parallele zu Emmer steht im Raum. War es doch die Lektüre/das Vorlesen auf dem Hocker neben der Badewanne: Die Prosa des «dirty old man» (http://beatgeneration.be/category/bukowski/), und den von Emmer ausgeklammerten «Naked Lunch» (http://beatgeneration.be/category/burroughs/), die eine Beziehung beendete (London 1997, begonnen mit «Alice’s Adventures in Wonderland»). Da traf der deutsche Fan des Andernacher Poeten auf die Frau, die es immerhin bis zur Hälfte des Zauberberges schaffte (meiner 11-fachen #nichtVerschämteLektüre) und dann aufgab.

Ich las weiter in den «Sudelbüchern» von Gernhardt u.a.:

«Die Schönheit gibt uns Grund zur Trauer, die Hässlichkeit erfreut durch Dauer.» (Aus: «Nachdem er durch Metzingen gegangen war» von Robert Gernhardt). Oder: Rettet die Welt vor schlechten Frisuren.

Und hier geht es lang zur Beatgeneration: http://beatgeneration.be/

Vicki Baum: Menschen im Hotel (1929).

September_Augsburg 021“Es ist eine dumme Fabel, daß Hotelstubenmädchen durch die Schlüssellöcher schauen. Hotelstubenmädchen haben gar kein Interesse an den Leuten, die hinter Schlüssellöchern wohnen. Hotelstubenmädchen haben viel zu tun und sind angestrengt und müde und alle ein wenig resigniert, und sie sind vollauf beschäftigt mit ihren eigenen Angelegenheiten. Kein Mensch kümmert sich um den anderen Menschen im großen Hotel, jeder ist mit sich allein in diesem großen Kaff, das Doktor Otternschlag nicht so übel mit dem Leben im allgemeinen in Vergleich stellte. Jeder wohnt hinter Doppeltüren und hat nur sein Spiegelbild im Ankleidespiegel zum Gefährten oder seinen Schatten an der Wand. In den Gängen streifen sie aneinander, in der Halle grüßt man sich, manchmal kommt ein kurzes Gespräch zustande, aus den leeren Worten dieser Zeit kümmerlich zusammengebraut. Ein Blick, der auffliegt, gelangt nicht bis zu den Augen, er bleibt an den Kleidern hängen. Vielleicht kommt es vor, daß ein Tanz im gelben Pavillon zwei Körper nähert. Vielleicht schleicht nachts jemand aus seinem Zimmer in ein anderes. Das ist alles. Dahinter liegt eine abgrundtiefe Einsamkeit.”

Vicki Baum, „Menschen im Hotel“, 1929

Vicki Baum musste es wissen, was Hotelstubenmädchen tun: Die Autorin, zeitlebens für ihre Diszipliniertheit bekannt, arbeitete selbst wochenlang in einem Hotel, um für ihren Roman zu recherchieren. Die Mühe machte sich bezahlt: Mit “Menschen im Hotel“ (der Untertitel „Ein Kolportageroman mit Hintergründen“ wurde in den Nachkriegsauflagen unterschlagen) erreichte die gebürtige Österreicherin endgültig ihren literarischen Zenit.

Der Erfolg kam mit Ansage: Baum, die damals beim größten europäischen Verlag, Ullstein, als Redakteurin für mehrere Zeitungen schrieb, hatte bereits im Jahr zuvor mit dem Roman „stud. Chem. Helene Willfüer“ einen Bestseller gelandet. Das Buch im Stil der neuen Sachlichkeit stieß vor allem beim weiblichen Lesepublikum auf Interesse: Erzählt wird von einer jungen Studentin, die ungewollt schwanger wird und sich vergeblich um eine Abtreibung bemüht. Alleinerziehend macht sie dann dennoch beruflich ihren Weg und findet zudem ihr privates Glück. Die Mischung aus Melodram, Unterhaltung und leiser Gesellschaftskritik traf voll auf das Zeitgefühl der Weimarer Republik, vor allem die jungen, modernen Frauen fanden sich in den Büchern Baums wieder. Nach dem ersten Erfolg puschte der Ullstein Verlag die 1888 in Wien geborene Autorin – zu „Menschen im Hotel“ gab es eine richtiggehende Marketingkampagne, in der auch die Schriftstellerin selbst in den Vordergrund gerückt wurde. „Home stories“ und Anzeigen mit dem Gesicht einer Autorin: Das war noch relativ neu.

Endgültig trat das Buch seinen Siegeszug an, als es nicht nur als Theaterstück auf die Berliner Bühnen kam, sondern auch nach London und an den Broadway – Vicki Baum reiste 1931 zur Theaterpremiere nach New York und blieb für volle sieben Monate, auch, um die Filmrechte unter Dach und Fach zu bringen und ein Drehbuch für Hollywood zu verfassen. Durch die Verfilmung von „Grand Hotel“ mit Greta Garbo in der Hauptrolle wurde der Roman endgültig unsterblich. Ein Ruhm, von dem Vicki Baum, die aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln 1932 endgültig in die USA übergesiedelt war, ein Leben lang zehren sollte: Denn obwohl weiterhin ungeheuer kreativ und produktiv, konnte sie diesen „Coup“ nicht wiederholen.

Doch an Publicity und Verfilmung allein liegt es nicht, dass „Menschen im Hotel“ auch heute noch lesenswert und ein durchaus bemerkenswertes Buch ist. In ihren 1962 postum erschienenen Memoiren (Vicki Baum verstarb 1960 in Los Angeles) Es war alles ganz anders“ schreibt sie über sich leicht selbstironisch und nicht ohne Bitterkeit als “erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte”. Denn obwohl ungeheuer populär und durchaus auch von Kollegen wie Alfred Döblin und den Geschwistern Erika und Klaus Mann anerkannt, blieb Vicki Baum mit einem Stigma behaftet, das es insbesondere in der deutschen Literatur gibt: Dem der „Trivialität“. Anders als in den englischsprachigen Ländern wird hierzulande nach wie vor streng unterschieden – und Unterhaltungsliteratur kann per se nicht literarisch qualitätsvoll sein, vice versa ist „richtige“ Literatur alles, aber bloß nicht unterhaltend!

Dabei traf „Menschen im Hotel“ nicht nur den Nerv der Zeit, sondern kann auch – neben „Berlin Alexanderplatz“ (Besprechung hier: http://saetzeundschaetze.com/2013/11/04/berlin-alexanderplatz-asphaltdschungel-beschritten-von-alfred-doblin/), das im selben Jahr erschien – als einer der großen Berlin-Romane und als ein Dokument des Zeitgefühls der Weimarer Republik bezeichnet werden. Manche Szene zwischen Lebensgier und Niedergang: Sie könnte auch heute spielen, ist zeitlos modern.

Da pulsiert die Großstadt, die Hektik, die Jagd nach Vergnügen und Geld, das Chaos, die Turbulenz, dies alles hat Vicki Baum mit raschen Szenenwechseln, Beschreibungen im Stakkato und atemlosen, schwindelerregenden Passagen – so eine Fahrt über die Avus – perfekt eingefangen:

„Gaigern hatte die Finger voller Ungeduld, sie prickelte wie Kohlensäure zwischen seinen Händen und dem Steuer. An den Straßenkreuzungen hingen rote, grüne, gelbe Lampen, standen Schupoleute und drohten ihm halb lachend mit dem Arm. Menschenscharen bei Straßenecken, vorbei an Obstwagen, Plakatwänden und ängstlichen alten Damen, die zur falschen Zeit über den Fahrdamm trippelten, schwarz und langröckig mitten im März. Die Sonne war feucht und gelb auf dem Asphalt. Wenn ein schwerfälliges Autobustier den Weg verlegte, dann schrie der kleine Viersitzer mit zwei Hupen: wie ein Gebell von gereizten Hunden klang es. (…)

Kringelein starrte Berlin an, das zu Streifen gezerrt an dem Wagen vorüberrannte.“

Während es in Döblins „Berlin Alexanderplatz“ jedoch keine Hoffnung für den Franz Biberkopf und seine Mitstreiter gibt, wo Massenarbeitslosigkeit, Inflation, Verelendung in expressionistisches Grau münden, erzählt Baum eher konventionell, wenn auch durchaus neusachlich, aber eben mit einem Hang zum Melodram. Dennoch: Später wurden lediglich die sentimentalen Töne des Romans hervorgehoben, der ironisch-distanzierte Blick, den Baum wirft auf die Zeitläufte, auf die Politik, aber auch auf ihre Figuren, die bestimmte „Typen“ vertreten, wurden von der Kritik nicht mehr wahrgenommen.

Da ist die alternde Primaballerina, die verzweifelt versucht, ihre Jugendlichkeit zu bewahren (eine durchaus moderne Figur), der Gentlemandieb Freiherr von Gaigern (ein Vorläufer des Felix Krull), der Spießer Preysing, der über seine eigene Gier und Unfähigkeit stolpert, der gutherzige, aber von den Verhältnissen geknechtete Hilfsbuchhalter Kringelein und schließlich „Flämmchen“, eine typische Frauenfigur der neuen Sachlichkeit, wie sie auch im kunstseidenen Mädchen von Irmgard Keun oder bei Lili Grün (Portrait hier: http://saetzeundschaetze.com/2014/02/21/judische-lyrikerinnen-im-portrait-7-lili-grun-neusachlich-und-lebenslustig/)beschrieben wird: Die Stenotypistin, das Ladenmädchen, das sein Glück machen will, gutherzig, aber von einem erotischen Pragmatismus geleitet:

„Sie hatte eine umfangreiche Bilanz zu machen. Der Verzicht auf das angefangene Abenteuer mit dem hübschen Baron stand darin, Preysings schwerfällige fünfzig Jahre, sein Fett, seine Kurzatmigkeit. Kleine Schulden da und dort. Bedarf an neuer Wäsche, hübsche Schuhe – die blauen gingen nicht mehr lange. Das kleine Kapital, das notwendig war, um eine Karriere zu beginnen, beim Film, bei der Revue, irgendwo. Flämmchen überschlug sauber und ohne Sentimentalität die Chancen des Geschäftes, das ihr geboten wurde.“

Der Roman konzentriert die Handlung auf vier Tage und vier Nächte – und schon bald sind Glanz und Glamour, die die Oberfläche im luxuriösen Hotel prägen, durchschaut, kommen die materiellen und die psychischen Nöte zum Vorschein. Insbesondere repräsentiert durch Doktor Otternschlag, dem gezeichneten Kriegsteilnehmer, der einsam Tag für Tag in der Lobby auf Post und menschliche Zuwendung wartet:

Gaigern empfand verwundert, daß dieser blödsinnige Doktor Otternschlag eine Art von Haß gegen ihn zu haben schien. „Das mag Geschmackssache sein“, sagte er leichthin. „Ich habe es nicht so eilig. Mir gefällt das Leben nun einmal. Ich finde es großartig.“

„So. Großartig finden Sie es? Sie waren doch auch im Krieg. Und dann sind Sie heimgekommen, und dann finden Sie es großartig? Ja, Mensch, wie existiert ihr denn alle? Habt ihr denn alle vergessen? Gut, gut, wir wollen nicht davon sprechen, wie es draußen war, wir wissen es ja alle. Aber wie denn? Wie könnt ihr denn zurückkommen von dort und noch sagen: Das Leben gefällt mir? Wo ist es denn, euer Leben? Ich habe es gesucht, ich habe es nicht gefunden. Manchmal denke ich mir: Ich bin schon tot, eine Granate hat mir den Kopf weggerissen, und ich sitze als Leiche, verschüttet die ganze Zeit im Unterstand von Rouge-Croix. Da habense den Eindruck, wahr und wahrhaftig, den mir das Leben macht, seit ich von draußen zurückgekommen bin.“

Ein literarischer Verdienst von Vicki Baum ist es zudem, dass sie die sogenannte „group novel“ gesellschaftsfähig machte: „Menschen im Hotel“ ist einer der ersten „Gruppenromane“ der Unterhaltungsliteratur, in dem eben nicht eine oder zwei Hauptfiguren im Vordergrund stehen, sondern Menschen wie Schauspieler auf einer Drehbühne aufeinandertreffen, deren Wege sich kreuzen, deren Schicksal miteinander zunächst lose verknüpft und dann enger verwebt werden. So wurde „Menschen im Hotel“ auch zu einer Vorlage, die bis heute im TV gerne aufgegriffen wird – seien es Arztserien oder ähnliche „soaps“, sie haben ihre literarische Wurzel hier.

Die Figuren in „Menschen im Hotel“ sind Prototypen, das Privatschicksal, so schrieb der Literaturkritiker Werner Fuld, wird zum Massenartikel, zum Klischee, zur Kolportage. Dass der Kolportageroman jedoch auch Hintergründe (nochmals ein Hinweis auf den ursprünglichen Untertitel) zu bieten hat, das liegt an der eigentlichen „Hauptfigur“ des Roman: Das Hotel, das ähnlich wie bei Joseph Roths „Hotel Savoy“ (Besprechung hier: http://saetzeundschaetze.com/2014/07/03/joseph-roth-hotel-savoy-das-hotel-als-sinnbild-einerr-zerfallenden-epoche/) die Rolle des Katalysators spielt, das der Schauplatz ist, an dem sich aus den Figurenschemen langsam Menschen mit ihren Nöten und Ängsten herausschälen. Diese Nöte hängen eng mit den Verhältnissen einer Gesellschaft am Abgrund zusammen. Ein Hotel, in dem Getriebene und Herrenmenschen aufeinander treffen:

„Was hier in diesem Hotelzimmer aus ihm hervorbrach, war alles in allem die Klage des zarten und erfolglosen Menschen gegen den andern, der einfach und mit etwas Brutalität seinen Weg macht, eine wahre, aber ungerechte und höchst lächerliche Klage…“

Nicht zuletzt führte neben ihrer jüdischen Herkunft auch dieser kritische Blick auf die Zeit, der von den „Trivialitäts-Kritikern“ oftmals unterschlagen wird, mit dazu, dass die Bücher von Vicki Baum von den Nazis auf den Index gesetzt, die Schriftstellerin selbst als „Asphaltliteratin“ bezeichnet wurde und sie schließlich mit ihrer Familie den Weg in das Exil nahm.

Hans Pleschinski: Königsallee (2013).

Bild

„Es glich einem Wunder, daß in der Flußmetropole überhaupt noch eine Schindel auf den Dachstühlen, eine Hauswand senkrecht und eine Glasscherbe in den Fensterrahmen geblieben war. Ein vierteltausend Angriffe  – anfangs nachts, später auch bei Sonnenschein – hatten die Stadt umgepflügt. Um die sechstausend Menschen, Einheimische, zu den Fabriken Herverschleppte aus dem Osten, waren auf den Straßen zerfetzt, unter Gemäuer begraben worden, in ausglühenden Schutzräumen erstickt und verschmort. Lodernd waren Lancaster-Bomber in den Rhein gestürzt. In den Cockpits der Feinde, der Bezwinger, der Befreier war noch unter Wasser ein Flammen und verzweifeltes Gestikulieren zu erkennen gewesen.

Kein Wort konnte die Geschehnisse erfassen und zur Ruhe bringen.Das Ausmaß und die Tiefe der Wunde waren vielleicht noch längst nicht erkannt. Wie viele Jahre müßten vergehen? – Zerstörung, Schande waren nun das Erbe der Nation. Wann käme eine neue, bessere Vermischung ihrer Substanz? Daß man als Deutscher wieder zu dem würde, was man ehedem gewesen war: Bürger der Welt, tüchtiger Arbeiter, Faulenzer vor dem Herrn, Verkehrspolizist oder Verliebte ohne Schattenreich im Nacken.

Gottlob gab es den Alltag. Auch wenn er die Nerven aufs außerste strapazierte.“

Das ist Düsseldorf im Jahre 1954, als Thomas Mann in Hans Pleschinskis Roman „Königsallee“ ein déjà vu hat.

Ein Beitrag von Klaus Krolzig

“Geliebte Lippen, die ich küßte.” Mit diesem Tagebucheintrag vom 20. Februar 1942 offenbarte Thomas Mann so deutlich wie nie zuvor seine homoerotischen Neigungen zu dem 17-jährigen Klaus Heuser, den er 1927 bei einem Sylt-Aufenthalt kennengelernt hatte. “Menschlich gesehen war dies meine letzte Leidenschaft, und es war meine Glücklichste”, schrieb er bereits am 9. September 1933.

Was sich genau zwischen dem 52-jährigen Schriftsteller und dem jungen Klaus Heuser abgespielt haben könnte, kann man nur mutmaßen. Denn Thomas Mann hat seine Tagebücher aus den Jahren 1922-1932 vernichtet. So groß war die Angst, sie könnten in falsche Hände geraten und gegen ihn verwendet werden.

Die Spuren dieser Sommerliebe haben den großen Thomas-Mann-Kenner Hans Pleschinski zu “Königsallee” inspiriert, einem unterhaltsamen und manchmal auch berührenden Roman. Die Handlung spielt im Jahre 1954, als Mann ein Jahr vor seinem Tod zum ersten Mal nach seiner Emigration Düsseldorf besucht, um dort eine Lesung abzuhalten. Zufällig hält sich zum gleichen Zeitpunkt auch Klaus Heuser in Düsseldorf, seiner Geburtsstadt, auf. Nach 18 Jahren Asien-Aufenthalt besucht er zusammen mit seinem Lebensgefährten Anwar seine Eltern.

Die Ankunft Thomas Manns im Breidenbacher Hof beschreibt Hans Pleschinski wie folgt:

Im Blitzgewitter näherten sich als dunkle Umrisse, dann überbelichtet, zwei kleinere und eine größere Erscheinung. Erst allmählich ahnten und gewahrten die Anwesenden… es waren die Nobelpreis-Eltern mit der Tochter. Thomas Mann trug Hut, einen beigefarbenen Anzug, ein locker geschwungener Schal ließ die Fliege erkennen.

Der Berühmte! Welche Berühmtheit! Gelesen und ungelesen. Der Schöpfer von Hans Castorp, der Erfinder eines Zwiegesprächs zwischen dem Teufel und einem Komponisten, der Urheber von “Königliche Hoheit”, der Künster, der die Lübeck-Saga in die Welt gesetzt hatte, der Befürworter der Bombardierung Deutschlands, Gastgeber für Albert Einstein und Marlene Dietrich, die Humanitas in persona, der unanfechtbar Gerechte, der Magier, der aus Buchstaben auf Tausenden von Seiten das pharaonisch-biblische Ägypten auferstehen ließ, Josephs-Geschichten, der Heraufbeschwörer schwüler Lust … Der stilistische Meister, der den Führer zum “blutigen Darmwind eines erkrankten Volksrests” degradiert hatte.

Wie konnte ein Deutscher so weit aufsteigen. In solchen Zeitläuften. Höher hinaus als schier jeder. Dies alles war zuviel für die nur äußerlich barsche, insgeheim hoch kultivierte Baurätin von Düsseldorf. Sie griff am Kamin nach halt. “Lotte in Weimar”, ihr Lieblingsbuch, nun traf mit der ordinären Post nicht Charlotte Buff ein, um ihrem einstigen Geliebten Goethe ihr späte Aufwartung zu machen, mit deplaciert rosa Schleifchen am Kleid, jetzt kam der Dichter der melancholischen Begegnung selbst.

Bis dahin entspricht alles den Tatsachen. Aber Pleschinski manipuliert die Wirklichkeit, indem er Klaus und Anwar in das gleiche Hotel einziehen läßt, in dem auch Thomas Mann, seine Frau Katja und Tochter Erika untergebracht sind. Mit dem Resultat, daß die alte, nie gestillte Leidenschaft zwischen Thomas und Klaus wieder aufflammt, obwohl diese erneute Annäherung sich auf sehnsuchtsvolle Blicke und ein nächtliches Gespräch im Benrather Schloßpark beschränkt.

Bild

An der Darstellung expliziter Szenen ist Pleschinski nicht interessiert. Er ist ein viel zu großer Thomas-Mann-Verehrer, als daß er ihn ob des delikaten Themas der Lächerlichkeit preis gäbe. Es geht ihm vielmehr um eine Variation auf das Werk Thomas Manns. So spielt sich der Roman wie in “Lotte in Weimar” (der alte Goethe trifft nach vielen Jahren zufällig auf seine Jugendliebe Lotte) größtenteils in einem Hotel ab. Daneben wimmelt es in “Königsallee” nur so von literarischen Mann-Figuren und Anspielungen auf sein Werk, die sich in ihrer Gesamtheit nur dem passionierten Mann-Leser zu erkennen geben. Mit dem Versuch, auch noch im Stil Thomas Manns zu schreiben, hat sich Pleschinki dann doch etwas verhoben. Da wäre weniger wohl mehr gewesen.

An Mann’schem Humor und Ironie läßt es Pleschinski ebenso wenig fehlen. Klaus Heuser wird in seinem Zimmer von 3 Hotelgästen aufgesucht. Die erste ist Erika Mann, die ihn eindringlich ermahnt, nicht mit ihrem Vater Kontakt aufzunehmen, da die gesundheitlichen Folgen aufgrund seines gebrechlichen Zustands nicht abzusehen seien. Daneben fleht der Kritiker Ernst Bertram (ein guter Freund von Thomas Mann, der sich auf die Seite Hitlers geschlagen hat) Heuser  regelrecht an, er möge bei Thomas Mann für ihn ein gutes Wort einlegen. Und zum guten Schluß ist da noch der Sohn Golo Mann, der sich von seinen Eltern mißverstanden und gehaßt fühlt. Klaus Heuser soll für Golo’s neues Amerikabuch Reklame beim Vater machen.

So unterhaltsam diese Passagen auch sein mögen, der Zwang zum Kommödiantischen wirkt stellenweise langatmig und hat mich nicht immer überzeugt. Meisterhaft weiß Pleschinski am Ende von “Königsallee” die haßerfüllte  Stimmung wiederzugeben, die Thomas Mann in Deutschland entgegenschlug, als man ihn des Landesverrats durch Emigration bezichtigte.

Das Bild, das Pleschinski von Klaus Heuser in diesem Roman zeichnet, ist beeinflußt von bislang unbekannten, nicht veröffentlichen Briefen Heusers, die ihm von der Nichte zur Verfügung gestellt wurden.

Hans Pleschinski, Königsallee, C.H.Beck-Verlag, 394 Seiten, 19,95 €

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (1): Mascha Kaléko (1907-1975)

Bild

Bild: Iris Jahnke

Herbstabend (Auszug)

Nun gönnt sich das Jahr eine Pause.
Der goldne September entwich.
Geblieben im herbstlichen Hause
Sind nur meine Schwermut und ich.

Mascha Kaléko
geboren 7. Juni 1907 in Chrzanów (Schidlow), Galizien, Polen
gestorben 21. Januar 1975, in Zürich, Schweiz

 EIn Beitrag von Klaus Krolzig

Nach ihren frühen Erfolgen mit Gedichten in der Tradition Heines und Tucholskys wurde Mascha Kaléko von den Nazis zur Aufgabe ihrer Heimat und ihrer Karriere gezwungen. Das Gefühl, Außenseiterin zu sein, kannte sie seit ihrer Kindheit, seit ihre Familie aus dem armen Galizien nach Deutschland gekommen war. Aber sie passte sich schnell an, beherrschte den Berliner Dialekt bald perfekt - wie ihre ersten Gedichte zeigen.

Nach der Schulzeit arbeitete sie ab dem 16. Lebensjahr als Sekretärin und verarbeitete ihre Erlebnisse in ihren reizvollen und originellen frühen Gedichten, die erst in Zeitungen erschienen und dann bei Rowohlt unter den Titeln Das lyrische Stenogrammheft (1933) und Das kleine Lesebuch für Große (1935). Kalékos Songs waren so erfolgreich wegen ihrer ungewohnten Verbindung von Berliner Schnoddrigkeit und der Wärme und Melancholie des Ostjudentums; sie wurden von ihr selbst und Chansonsängerinnen wie Claire Waldoff und Rosa Valetti im Radio und in Cabarets vorgetragen. Nach ihrem Verbot durch die Nazis wurden die Songs abgeschrieben und heimlich verbreitet.

Bild1928 heiratete Mascha Saul Kaléko, einen Philologen, von dem sie sich nach zehn Jahren scheiden ließ, um den Musikwissenschaftler und Dirigenten Chemjo Vinaver zu heiraten, Vater ihres Sohnes Evjatar und Spezialist für chassidische Chormusik.

1938 emigrierte die Familie nach New York. Mascha verdiente Geld mit Werbetexten und machte die Öffentlichkeitsarbeit für den Chor ihres Mannes. In Verse für Zeitgenossen verarbeitet Kaléko ihre Exilerfahrungen in eindringlichen satirischen Gedichten. Ihr Comeback hatte 1956 mit dem Wiederabdruck des Lyrischen Stenogrammhefts eingesetzt; nach zwei Wochen stand es auf der Bestsellerliste, und Kaléko machte erfolgreiche Lesereisen durch Europa.

1960 zog Kaléko wegen der Arbeit ihres Mannes mit nach Jerusalem, aber sie wurde dort nie richtig heimisch. Obwohl sie in den 60er und frühen 70er Jahren weiter veröffentlichte, war das Comeback doch nur kurz gewesen; wieder geriet sie in Vergessenheit. Mascha und Chemjo waren beide nicht sehr gesund, und 1968 starb plötzlich ihr Sohn, der in den USA ein erfolgreicher Dramatiker und Regisseur geworden war. Nach Chemjos Tod 1973 verstärkte sich Maschas Isolation immer mehr. Sie starb an Magenkrebs während einer Reise durch Europa.

Von 1966 stammt dieses Gedicht – ein Gedicht aus dem Herbst eines Menschenlebens:

Das Rezept (Auszug)

Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.
Für die paar Jahre
wird wohl alles noch reichen.
Das Brot im Kasten
und der Anzug im Schrank.

(…)
Jage die Ängste fort
und die Angst vor den Ängsten.

Ihr Ton ist unverwechselbar. Auch wenn Mascha Kaléko oft mit Erich Kästner, Joachim Ringelnatz und Kurt Tucholsky verglichen, mit ihnen in denselben Topf der Zwanziger-Jahre-Lyriker geworfen wird, erkennt man ihre Gedichte sofort. Das liegt nicht nur am weiblichen “lyrischen Ich”, sondern an den fast immer ein wenig düster grundierten Versen mit Witz und ironischem Blick auf allerlei Alltagsprobleme. Dahinter lauern oft Verlustängste, Sehnsüchte nach Heimat und Geborgenheit.

Wenn Thomas Mann in Bezug auf Mascha Kaléko von “aufgeräumter Melancholie” spricht, hat er sich wohl von der Fassade blenden lassen, während Karl Krolow mit seinem Diktum, bei ihr sei “Gefühl das Gefühl der Ertrinkenden”, ein wenig zu sehr dramatisiert. Vielleicht liegt, wie so oft, die Wahrheit in der Mitte oder besser: im Sowohl-als-auch. Tatsächlich war es Marcel Reich-Ranicki, der die schlicht vergessene Kaléko vor einigen Jahren rehabilitierte und über ihre Poesie schrieb: “kess und keck, frech und pfiffig, schnoddrig und zugleich sehr schwermütig, witzig und ein klein wenig weise”.

Bild

Beim Deutschen Taschenbuchverlag erschien 2012 die erste kommentierte Gesamtausgabe der Werke und Briefe von Mascha Kaléko: http://www.dtv.de/mascha_kaleko_saemtliche_briefe_und_werke_1251.html

Ein wunderbarer Beitrag über Mascha Kalékos Berlin ist auf diesem lesenswerten Blog zu finden: http://aroomforonesown.wordpress.com/2014/06/21/mascha-kalekos-berlin/

Und unter dieser Rubrik gibt es weitere Portraits jüdischer Lyrikerinnen: http://saetzeundschaetze.com/category/frauen-literatur/portraits-judischer-lyrikerinnen/