Wien

Vicki Baum: Menschen im Hotel (1929).

September_Augsburg 021“Es ist eine dumme Fabel, daß Hotelstubenmädchen durch die Schlüssellöcher schauen. Hotelstubenmädchen haben gar kein Interesse an den Leuten, die hinter Schlüssellöchern wohnen. Hotelstubenmädchen haben viel zu tun und sind angestrengt und müde und alle ein wenig resigniert, und sie sind vollauf beschäftigt mit ihren eigenen Angelegenheiten. Kein Mensch kümmert sich um den anderen Menschen im großen Hotel, jeder ist mit sich allein in diesem großen Kaff, das Doktor Otternschlag nicht so übel mit dem Leben im allgemeinen in Vergleich stellte. Jeder wohnt hinter Doppeltüren und hat nur sein Spiegelbild im Ankleidespiegel zum Gefährten oder seinen Schatten an der Wand. In den Gängen streifen sie aneinander, in der Halle grüßt man sich, manchmal kommt ein kurzes Gespräch zustande, aus den leeren Worten dieser Zeit kümmerlich zusammengebraut. Ein Blick, der auffliegt, gelangt nicht bis zu den Augen, er bleibt an den Kleidern hängen. Vielleicht kommt es vor, daß ein Tanz im gelben Pavillon zwei Körper nähert. Vielleicht schleicht nachts jemand aus seinem Zimmer in ein anderes. Das ist alles. Dahinter liegt eine abgrundtiefe Einsamkeit.”

Vicki Baum, „Menschen im Hotel“, 1929

Vicki Baum musste es wissen, was Hotelstubenmädchen tun: Die Autorin, zeitlebens für ihre Diszipliniertheit bekannt, arbeitete selbst wochenlang in einem Hotel, um für ihren Roman zu recherchieren. Die Mühe machte sich bezahlt: Mit “Menschen im Hotel“ (der Untertitel „Ein Kolportageroman mit Hintergründen“ wurde in den Nachkriegsauflagen unterschlagen) erreichte die gebürtige Österreicherin endgültig ihren literarischen Zenit.

Der Erfolg kam mit Ansage: Baum, die damals beim größten europäischen Verlag, Ullstein, als Redakteurin für mehrere Zeitungen schrieb, hatte bereits im Jahr zuvor mit dem Roman „stud. Chem. Helene Willfüer“ einen Bestseller gelandet. Das Buch im Stil der neuen Sachlichkeit stieß vor allem beim weiblichen Lesepublikum auf Interesse: Erzählt wird von einer jungen Studentin, die ungewollt schwanger wird und sich vergeblich um eine Abtreibung bemüht. Alleinerziehend macht sie dann dennoch beruflich ihren Weg und findet zudem ihr privates Glück. Die Mischung aus Melodram, Unterhaltung und leiser Gesellschaftskritik traf voll auf das Zeitgefühl der Weimarer Republik, vor allem die jungen, modernen Frauen fanden sich in den Büchern Baums wieder. Nach dem ersten Erfolg puschte der Ullstein Verlag die 1888 in Wien geborene Autorin – zu „Menschen im Hotel“ gab es eine richtiggehende Marketingkampagne, in der auch die Schriftstellerin selbst in den Vordergrund gerückt wurde. „Home stories“ und Anzeigen mit dem Gesicht einer Autorin: Das war noch relativ neu.

Endgültig trat das Buch seinen Siegeszug an, als es nicht nur als Theaterstück auf die Berliner Bühnen kam, sondern auch nach London und an den Broadway – Vicki Baum reiste 1931 zur Theaterpremiere nach New York und blieb für volle sieben Monate, auch, um die Filmrechte unter Dach und Fach zu bringen und ein Drehbuch für Hollywood zu verfassen. Durch die Verfilmung von „Grand Hotel“ mit Greta Garbo in der Hauptrolle wurde der Roman endgültig unsterblich. Ein Ruhm, von dem Vicki Baum, die aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln 1932 endgültig in die USA übergesiedelt war, ein Leben lang zehren sollte: Denn obwohl weiterhin ungeheuer kreativ und produktiv, konnte sie diesen „Coup“ nicht wiederholen.

Doch an Publicity und Verfilmung allein liegt es nicht, dass „Menschen im Hotel“ auch heute noch lesenswert und ein durchaus bemerkenswertes Buch ist. In ihren 1962 postum erschienenen Memoiren (Vicki Baum verstarb 1960 in Los Angeles) Es war alles ganz anders“ schreibt sie über sich leicht selbstironisch und nicht ohne Bitterkeit als “erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte”. Denn obwohl ungeheuer populär und durchaus auch von Kollegen wie Alfred Döblin und den Geschwistern Erika und Klaus Mann anerkannt, blieb Vicki Baum mit einem Stigma behaftet, das es insbesondere in der deutschen Literatur gibt: Dem der „Trivialität“. Anders als in den englischsprachigen Ländern wird hierzulande nach wie vor streng unterschieden – und Unterhaltungsliteratur kann per se nicht literarisch qualitätsvoll sein, vice versa ist „richtige“ Literatur alles, aber bloß nicht unterhaltend!

Dabei traf „Menschen im Hotel“ nicht nur den Nerv der Zeit, sondern kann auch – neben „Berlin Alexanderplatz“ (Besprechung hier: http://saetzeundschaetze.com/2013/11/04/berlin-alexanderplatz-asphaltdschungel-beschritten-von-alfred-doblin/), das im selben Jahr erschien – als einer der großen Berlin-Romane und als ein Dokument des Zeitgefühls der Weimarer Republik bezeichnet werden. Manche Szene zwischen Lebensgier und Niedergang: Sie könnte auch heute spielen, ist zeitlos modern.

Da pulsiert die Großstadt, die Hektik, die Jagd nach Vergnügen und Geld, das Chaos, die Turbulenz, dies alles hat Vicki Baum mit raschen Szenenwechseln, Beschreibungen im Stakkato und atemlosen, schwindelerregenden Passagen – so eine Fahrt über die Avus – perfekt eingefangen:

„Gaigern hatte die Finger voller Ungeduld, sie prickelte wie Kohlensäure zwischen seinen Händen und dem Steuer. An den Straßenkreuzungen hingen rote, grüne, gelbe Lampen, standen Schupoleute und drohten ihm halb lachend mit dem Arm. Menschenscharen bei Straßenecken, vorbei an Obstwagen, Plakatwänden und ängstlichen alten Damen, die zur falschen Zeit über den Fahrdamm trippelten, schwarz und langröckig mitten im März. Die Sonne war feucht und gelb auf dem Asphalt. Wenn ein schwerfälliges Autobustier den Weg verlegte, dann schrie der kleine Viersitzer mit zwei Hupen: wie ein Gebell von gereizten Hunden klang es. (…)

Kringelein starrte Berlin an, das zu Streifen gezerrt an dem Wagen vorüberrannte.“

Während es in Döblins „Berlin Alexanderplatz“ jedoch keine Hoffnung für den Franz Biberkopf und seine Mitstreiter gibt, wo Massenarbeitslosigkeit, Inflation, Verelendung in expressionistisches Grau münden, erzählt Baum eher konventionell, wenn auch durchaus neusachlich, aber eben mit einem Hang zum Melodram. Dennoch: Später wurden lediglich die sentimentalen Töne des Romans hervorgehoben, der ironisch-distanzierte Blick, den Baum wirft auf die Zeitläufte, auf die Politik, aber auch auf ihre Figuren, die bestimmte „Typen“ vertreten, wurden von der Kritik nicht mehr wahrgenommen.

Da ist die alternde Primaballerina, die verzweifelt versucht, ihre Jugendlichkeit zu bewahren (eine durchaus moderne Figur), der Gentlemandieb Freiherr von Gaigern (ein Vorläufer des Felix Krull), der Spießer Preysing, der über seine eigene Gier und Unfähigkeit stolpert, der gutherzige, aber von den Verhältnissen geknechtete Hilfsbuchhalter Kringelein und schließlich „Flämmchen“, eine typische Frauenfigur der neuen Sachlichkeit, wie sie auch im kunstseidenen Mädchen von Irmgard Keun oder bei Lili Grün (Portrait hier: http://saetzeundschaetze.com/2014/02/21/judische-lyrikerinnen-im-portrait-7-lili-grun-neusachlich-und-lebenslustig/)beschrieben wird: Die Stenotypistin, das Ladenmädchen, das sein Glück machen will, gutherzig, aber von einem erotischen Pragmatismus geleitet:

„Sie hatte eine umfangreiche Bilanz zu machen. Der Verzicht auf das angefangene Abenteuer mit dem hübschen Baron stand darin, Preysings schwerfällige fünfzig Jahre, sein Fett, seine Kurzatmigkeit. Kleine Schulden da und dort. Bedarf an neuer Wäsche, hübsche Schuhe – die blauen gingen nicht mehr lange. Das kleine Kapital, das notwendig war, um eine Karriere zu beginnen, beim Film, bei der Revue, irgendwo. Flämmchen überschlug sauber und ohne Sentimentalität die Chancen des Geschäftes, das ihr geboten wurde.“

Der Roman konzentriert die Handlung auf vier Tage und vier Nächte – und schon bald sind Glanz und Glamour, die die Oberfläche im luxuriösen Hotel prägen, durchschaut, kommen die materiellen und die psychischen Nöte zum Vorschein. Insbesondere repräsentiert durch Doktor Otternschlag, dem gezeichneten Kriegsteilnehmer, der einsam Tag für Tag in der Lobby auf Post und menschliche Zuwendung wartet:

Gaigern empfand verwundert, daß dieser blödsinnige Doktor Otternschlag eine Art von Haß gegen ihn zu haben schien. „Das mag Geschmackssache sein“, sagte er leichthin. „Ich habe es nicht so eilig. Mir gefällt das Leben nun einmal. Ich finde es großartig.“

„So. Großartig finden Sie es? Sie waren doch auch im Krieg. Und dann sind Sie heimgekommen, und dann finden Sie es großartig? Ja, Mensch, wie existiert ihr denn alle? Habt ihr denn alle vergessen? Gut, gut, wir wollen nicht davon sprechen, wie es draußen war, wir wissen es ja alle. Aber wie denn? Wie könnt ihr denn zurückkommen von dort und noch sagen: Das Leben gefällt mir? Wo ist es denn, euer Leben? Ich habe es gesucht, ich habe es nicht gefunden. Manchmal denke ich mir: Ich bin schon tot, eine Granate hat mir den Kopf weggerissen, und ich sitze als Leiche, verschüttet die ganze Zeit im Unterstand von Rouge-Croix. Da habense den Eindruck, wahr und wahrhaftig, den mir das Leben macht, seit ich von draußen zurückgekommen bin.“

Ein literarischer Verdienst von Vicki Baum ist es zudem, dass sie die sogenannte „group novel“ gesellschaftsfähig machte: „Menschen im Hotel“ ist einer der ersten „Gruppenromane“ der Unterhaltungsliteratur, in dem eben nicht eine oder zwei Hauptfiguren im Vordergrund stehen, sondern Menschen wie Schauspieler auf einer Drehbühne aufeinandertreffen, deren Wege sich kreuzen, deren Schicksal miteinander zunächst lose verknüpft und dann enger verwebt werden. So wurde „Menschen im Hotel“ auch zu einer Vorlage, die bis heute im TV gerne aufgegriffen wird – seien es Arztserien oder ähnliche „soaps“, sie haben ihre literarische Wurzel hier.

Die Figuren in „Menschen im Hotel“ sind Prototypen, das Privatschicksal, so schrieb der Literaturkritiker Werner Fuld, wird zum Massenartikel, zum Klischee, zur Kolportage. Dass der Kolportageroman jedoch auch Hintergründe (nochmals ein Hinweis auf den ursprünglichen Untertitel) zu bieten hat, das liegt an der eigentlichen „Hauptfigur“ des Roman: Das Hotel, das ähnlich wie bei Joseph Roths „Hotel Savoy“ (Besprechung hier: http://saetzeundschaetze.com/2014/07/03/joseph-roth-hotel-savoy-das-hotel-als-sinnbild-einerr-zerfallenden-epoche/) die Rolle des Katalysators spielt, das der Schauplatz ist, an dem sich aus den Figurenschemen langsam Menschen mit ihren Nöten und Ängsten herausschälen. Diese Nöte hängen eng mit den Verhältnissen einer Gesellschaft am Abgrund zusammen. Ein Hotel, in dem Getriebene und Herrenmenschen aufeinander treffen:

„Was hier in diesem Hotelzimmer aus ihm hervorbrach, war alles in allem die Klage des zarten und erfolglosen Menschen gegen den andern, der einfach und mit etwas Brutalität seinen Weg macht, eine wahre, aber ungerechte und höchst lächerliche Klage…“

Nicht zuletzt führte neben ihrer jüdischen Herkunft auch dieser kritische Blick auf die Zeit, der von den „Trivialitäts-Kritikern“ oftmals unterschlagen wird, mit dazu, dass die Bücher von Vicki Baum von den Nazis auf den Index gesetzt, die Schriftstellerin selbst als „Asphaltliteratin“ bezeichnet wurde und sie schließlich mit ihrer Familie den Weg in das Exil nahm.

Jüdische Lyrikerinnen im Portrait (7): Lili Grün (1904-1942)

Geliebter Freund (Auszug)

„Zum Schluß meinst du, ich soll dir Antwort schreiben,
Natürlich nur in dein Geschäft,
Denn deine junge Frau, sie könnte drunter leiden,
Und wenn sie meinen Brief erwischt,
Dann ging`s Dir schlecht.

Geliebter Freund, ich hab` dir nichts zu sagen;
Denn du bist fremd und fern und alles ist vorbei.
Ich hab` dich sehr geliebt…Es ist vorüber,
Ich sprech` nicht gern davon…Kurz:
Schwamm darüber!

Es ist so eine typische Stimme der 1920er und 30er Jahre, die aus diesen Gedichten zu uns spricht: Ein bisschen schnodderig, ein bisschen frech, ein wenig melancholisch, ein wenig bitter-süß. Man meint, den Sound der Weimarer Republik im Ohr zu haben, wenn man Lili Grün liest. Und nicht zu Unrecht wird sie als Vertreterin der Neuen Sachlichkeit mit Irmgard Keun, Erich Kästner und Kurt Tucholsky verglichen.

Bild: Österreichische Nationalbibliothek

Nur: Wo Keun, Kästner und der Teobald Tiger heute noch ein Begriff sind, geriet Lili Grün in Vergessenheit. Wieder einmal in dieser Reihe über jüdische Lyrikerinnen die Geschichte einer mehrfachen Vernichtung - Lili Grün wurde von den Nazis deportiert und am Tag ihrer Ankunft im weißrussischen Lager Maly Trostinec ermordet. Und: „Vermutlich wurde Lili Grüns letzte Habe jedoch spätestens mit ihrer Deportation aus Wien 1942 vernichtet“, bedauert Anke Heimberg, die jetzt die Werke von Lili Grün, soweit noch erhalten, wieder herausgibt. Ihr und dem AvivA Verlag in Berlin ist es zu verdanken, dass die Schriftstellerin zumindest wieder über ihre Bücher in ihrer ganzen Lebenskraft erwacht. Mein Dank gilt an dieser Stelle zudem der Bücherliebhaberin Vera vom Blog Glasperlenspiel13, die mich auf Lili Grün aufmerksam gemacht hat.

Neben zwei Romanen - „Alles ist Jazz“ und „Zum Theater!“ - sind nun in dem Band „Mädchenhimmel!“ die Gedichte und Kurzgeschichten Lili Grüns zusammengetragen worden. Es entsteht ein Bild vor meinen Augen von einer jungen, temperamentvollen Frau, die die Fesseln überkommener alter Ver- und Gebote abstreifen will, die den „Notschrei einer allzu Braven“ ausstößt:

„Ach, ich geh` mir selber auf die Nerven,
Weil ich gar so artig bin,
Und voll untentwegter Pflichterfüllung
Steck` ich stets in meiner Arbeit drin.“

und deshalb aufbricht zu neuen Ufern am „Mädchenhimmel!“ und hinterher eine freches Lied singen darf:

Elegie bei einer Tasse Mokka (Auszug)

“Mein letzter Freund war ein Jurist.
Ich bin seit dieser Zeit gegen Juristen.
Juristen sind alle falsch, herzlos und bös,
Ich kann dieses Wort gar nicht hören, es macht mich nervös.
Darum wünsch` ich mir zum nächsten Verehrer
Beispielsweise einen Volksschullehrer.“

MŠdchenhimmel_CoverAll den blonden und zarten Stenotypistinnen, Verkäuferinnen und Bürofräuleins, die Lili Grün in ihren Gedichten verewigt und von deren Rendezvous nach Ladenschluss erzählt, haben  eines gemeinsam: Sie schwanken zwischen Lebenslust und Liebesleid, träumen vom Geldbriefträger, der die Millionen bringt und feinen Kleidern mit Dekolleté, gehen flüchtige Affären ein und sind doch vor allem auf der Suche nach der großen Liebe - auch wenn sie  die „Uralte Liebesmelodie“ singen, wohl wissend, dass alles seine Zeit und sein Ende hat.

„Ein Fräulein erwacht in einer fremden Wohnung“, die Liebe, sie ist manchmal ein „Kurzer Zwischenfall“, das Leben auch einmal ein „Langweiliger Tag“. Schon die Gedichttitel bringen das Zeitgefühl der 1920er zum Ausdruck: Eine Lebensgier und eine skeptische Sehnsucht, als ahnte man zugleich, dass die Zeiten nicht besser werden.

Lili, eigentlich Elisabeth, wurde 1904 als Jüngste der vier Kinder von Hermann und Regine Grün in Wien geboren. Ihr Mutter verlor sie früh, bereits 1915 - ein Verlust, der sie prägte, zumal wenige Jahre später, 1922, auch der Vater starb - er hatte sich an der Front ein chronisches Nierenleiden zugezogen. Das Theater wurde ihr Flucht- und Bezugspunkt, sie strebt eine Karriere als Schauspielerin an, es zieht sie - auch bedingt durch die Arbeitslosigkeit in Wien - nach Berlin. Anke Heimberg schreibt im Nachwort zu „Mädchenhimmel!“:

„Doch in der glitzernden Kulturmetropole Berlin wuchs mit der wirtschaftlichen Depression und den damit einhergehenden Spaßmaßnahmen beim Film und beim Theater die Zahl der ein Engagement suchenden KünstlerInnen ebenfalls kontinuierlich. (…). Wiederholt berichteten Berliner Zeitungen über die zunehmende Verelendung unter den SchauspielerInnen, deren Situation durch mangelhafte Ernährung, armselige Kleidung, äußerst bescheidene Wohnverhältnisse und chronische Erkrankungen, wie die weit verbreitete Armenkrankheit Tuberkulose, gekennzeichnet war.“

Dass in den goldenen Zwanzigern für die meisten wenig Gold auf der Straße lag, auch das blitzt bei aller Leichtigkeit in und zwischen den Zeilen immer wieder durch:

Einzelhaftpsychose (Auszug)

„Ich weiß nicht mehr, wie meine Stimme klingt,
Ich glaub`, ich habe seit Tagen nicht gesprochen.
Ob man sich etwas aus der Zeitung liest?
»In Neukölln hat einer seine Frau erstochen - - «
Ach nein, es ist schon besser, wenn man etwas singt.“

Statt großer Bühne findet Lili Grün jedoch Kontakt zum Kabarett, dort zum Brücke-Kollektiv um Julian Arendt, zu dem auch Erwin Straus, Margarethe Voß, Ernst Busch, Hanns Eisler und Erik Ode (Der Kommissar) gehörten. Lili Grün trägt eigene Gedichte vor - und findet auch Anklang bei den Presseleuten. Im Film-Kurier: »Lilly grün trägt Erotik, sehr persönlich und sehr belustigend«, in der Vossischen Zeitung lobt man ihre  »witzig-sentimentalen Gedichte«. Lili Grün, die damit beginnen kann, ihre Gedichte und Geschichten in renommierten Zeitungen zu veröffentlichen, leidet jedoch an Tuberkulose. Ihrer Gesundheit wegen kehrt sie 1933 nach Wien zurück - sowohl für sie ein persönliches, als auch ein politisches Schicksalsjahr. Denn sie kann zwar ihren ersten Roman veröffentlichen, doch mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Berlin ist der Weg für die Autorin - Jüdin, linksorientiert, in Handeln und Denken so gar nicht dem Bild vom deutschen Mädel entsprechend - schon vorgezeichnet. Verarmt und chronisch lungenkrank gelingt es ihr nicht, aus Österreich zu fliehen. 1942 wird sie mit dem Transport Nr. 23 aus Wien deportiert.

Eine weitere Stimme zum Schweigen gebracht, ein Leben gekappt, Sehnsüchte, die unerfüllt zurückbleiben:

Ich möchte wieder achtzehn Jahre sein…(Auszug)

„Ich möchte wiederum ein Tagebuch,
In das ich täglich niederschreibe,
Was leider nicht geschehen ist,
Und das ich in der stillen Hoffnung führe,
Daß es vielleicht doch einmal einer liest.“

Ein Tagebuch oder andere biographische Zeugnisse konnte Lili Grün, wie ihre Herausgeberin schreibt, wohl nicht mehr hinterlassen, sind nicht mehr aufzufinden. Aber zumindest können ihre Bücher nun wieder gelesen werden.

Mädchenhimmel! von Lili Grün,
AvivA Verlag, 18,00 EUR,192 Seiten, ISBN 978-3-932338-58-8,
erschienen im Februar 2014

Bereits erschienene Beiträge über jüdische Lyrikerinnen:
Mascha Kaléko – ein Herbstleben
Hedwig Lachmann – die stille, unangepasste Dichterin
Selma Meerbaum-Eisinger – Blütenlese
Ilana Shmueli – die Stimme aus dem Exil
Rose Ausländer - die ungebrochene Rose
Ruth Klüger - die Unbestechliche

Noch einmal Österreich. Ernst Jandl wettert.

Ernst Jandl auf der LP “him hanflang war das wort”.

Kräftige Worte fand Jandl auch zu dem Geschehen in Österreich anno 1938.

1. Strophe aus “wien : heldenplatz”

der glanze heldenplatz zirka
versaggerte in maschenhaftem männchenmeere
drunter auch frauen die ans maskelknie
zu heften heftig sich versuchten, hoffensdick
und brüllzten wesentlich…

Ernst Jandl (1925-2000).

Der „Trafikant“ (siehe Besprechung) spielt zu Zeiten des „Anschlusses“, als deutsche Wehrmacht, SS und Polizei kurzerhand in das Nachbarland einmarschieren und Österreich annektiert wird. Am 15. März 1938 hielt Adolf Hitler seine berühmt-berüchtigte „Anschluss”-Rede auf einem Balkon am Wiener Heldenplatz, unter dem sich heute der Haupteingang zur Österreichischen Nationalbibliothek befindet. 250.000 Menschen hörten ihm zu, wie er „den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich” verkündete.
Unmittelbar damit beginnt die Verfolgung von Intellektuellen, Politikern, Schriftstellern und Künstlern. Und die Ausschreitungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung.
Ernst Jandl war selbst Ohrenzeuge dieses fanatischen Auftritts auf dem Heldenplatz. Die Hysterie, die der Anstreicher unter den Menschen entfachte – er fängt sie in seinem Gedicht ein. Eine zweite literarische Auseinandersetzung ist Thomas Bernhards Drama „Heldenplatz”. Die Uraufführung 1988 im Wiener Burgtheater konnte nur unter Polizeischutz aufgeführt werden. Dem Schriftsteller wurde Nestbeschmutzung vorgeworfen. Eine eingehende Berichterstattung zu dem größten österreichischen Theaterskandal findet sich hier: http://www.thomasbernhard.at/index.php?id=190

 

Robert Seethaler: Der Trafikant (2012).

Bild

„Franz` sexuelle Erlösung bedeutete nicht gleichzeitig eine Besserung seines Gesamtzustandes. Das Feuer, das jetzt zwischen seinen Schenkeln entzündet war, brannte lichterloh und würde nie mehr zu löschen sein, so viel war ihm klar. Dabei – und auch das war ihm auf schmerzhafte Weise bewusst geworden – gab es noch so viel zu lernen. Zu kurz war diese eine Nacht gewesen, selbst ein komplettes Leben schien nicht auszureichen, um das Mysterium Frau in seiner ganzen schrecklichen Schönheit begreifen zu können. An den Klippen zum Weiblichen zerschellen selbst die Besten von uns, hatte der Professor gesagt. Das wird schon so sein, dachte Franz, aber dann ist es halt so.“

Robert Seethaler, „Der Trafikant”,  Kein & Aber Verlag.

Auch wenn hiermit schon das melancholische Ende verraten wird – ja, der Franz, er zerschellt, jedoch nicht nur an den Klippen des Weiblichen. Vielmehr wird er im Strom der Zeit weggerissen, zermalmt – aber nicht ohne vorher noch ein paar ganz bemerkenswerte Schritte zu tun, Entwicklungsschritte für sich, seine Männlichkeit, aber auch für die Menschheit im Allgemeinen und die Wiener im Besonderen.
Der Franz – er ist mein heimlicher, kleiner literarischer Held der letzten Lesemonate. Anfangs möchte man den Buben aus der österreichischen Provinz am liebsten adoptieren und bemuttern – wenn er denn nicht schon eine ganz patente Mutter hätte. Der Tod des mütterlichen Liebhabers zwingt den 17jährigen von der heimischen Schürze und dem Salzkammergut hinaus in die große Stadt. Wien kurz vor dem Anschluss – die Gemütlichkeit geht langsam flöten, man meint den preußischen Stechschritt der lederbestiefelten Nazis schon auf den Straßen zu hören.

Da steht der Franz anno 1937 in Wien - ein bisschen tapsig, ein bisschen neben der Spur, aber gut aufgehoben bei einem anarchistisch angehauchten, einbeinigen Trafikanten. Die Trafik: Neben dem Kaffeehaus geistige Heimat belesener und rauchender Wiener. Der Trafikant: Ratgeber in politischen Fragen, Philosoph und kleiner Geschäftsmann.

„Das Problem, meinte Otto Trsnjek mit einem traurigen Blick auf das bis unter die Decke dicht mit Zigarrenkisten vollgeräumte Wandregal, das große Problem für das Zigarrengeschäft sei – so wie für vieles andere übrigens auch – die Politik. Die Politik verhunze nämlich grundsätzlich alles und jedes, und da sei  es ziemlich egal, wer da gerade mit seinem breitgesessenen Hintern die Regierung bilde, ob der Kaiser selig, der Zwerg Dollfuß, sein Lehrling Schuschnigg oder drüben der größenwahnsinnige Hitler: Von der Politik werde alles und jedes verhunzt, verpatzt, versaut, verdummt und überhaupt zugrunde gerichtet.“

Ähnlich wenig Optimistisches äußert Trafikant Trsnjek auch zu Liebesabenteuern – dafür findet Franz einen zweiten großväterlichen Freund und Ratgeber in der Nachbarschaft: Den jüdischen „Deppendoktor“ Sigmund.

„Also gut“, sagte Freud. „Ich schlage vor, dass wir jetzt erst einmal die Begrifflichkeiten klären. Ich vermute, wenn wir von deiner Liebe sprechen, meinen wir in Wahrheit deine Libido.“

„Meine was?“

„Deine Libido. Das ist die Kraft, die Menschen ab einem gewissen Alter antreibt. Sie schafft ebenso viel Freude wie Leid und hat, etwas vereinfacht gesprochen, bei Männern ihren Sitz in der Hose.“

„Auch bei Ihnen?“

„Meine Libido ist längst überwunden“, seufzte der Professor.

Dumm nur, dass Franzens Libido ihn zu einem beehmischen Meedel der berechnenderen Sorte treibt – die mag den Jungen zwar, aber muss eben auch schauen, wo sie in diesen unsicheren Zeiten bleibt. Und als Tänzerin in einem Varieté ist die richtige Auswahl aus überlebenstaktischen Gründen leicht zu treffen.Franz ist es jedenfalls nicht. Geplagt also von Liebeskummer und Libido erlebt der zunächst politisch unbeleckte Landbub mit, wie rund um ihn alles zusammenbricht: Menschen, auch der einbeinige kriegsversehrte Otto, verschwinden und sterben in den Kellern der Gestapo, Juden und politisch Andersdenkende werden verfolgt und ermordet und der hochbetagte Freud muss sich in das Exil retten.

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands. Juden müssen in Wien-Erdberg Gehsteig reiben. vermutlich in der Hagenmüllergasse. Aufgenommen im März 1938. aus “Hans Petschar; Anschluss - Eine Bildchronologie” © Christian Brandstätter Verlagsgesellschaft m.b.H.

„Herr Professor, ich glaube, ich bin ein riesengroßer Depp“, sagte Franz nach ein paar Augenblicken angestrengt nachdenklichen Schweigens. „Ein von hinten bis vorne verblödeter oberösterreichischer Schafsschädel.“

„Gratuliere, die Einsicht ist die Hebamme der Besserung!“

„Ich habe mich nämlich gerade gefragt, was meine kleinen, dummen Sorgen überhaupt für eine Berechtigung haben neben diesen ganzen verrückten Weltgeschehnissen.“

„Ich glaube, da kann ich dich beruhigen. Erstens sind Sorgen in Bezug auf Frauen zwar meistens dumm, aber selten klein. Und zweitens könnte man die Frage auch andersrum stellen: Was hat dieses ganze verrückte Weltgeschehen überhaupt für eine Berechtigung neben deinen Sorgen?“

Sorge dich nicht, lebe – vielleicht will Freud dies seinem jungen Freund mitteilen, denn er selbst sieht den ganzen Irrsinn klar heranziehen: ein Weltgeschehen wie „ein Tumor, ein Geschwür, eine schwärende, stinkende Pestbeule, die bald platzen und ihren ekeligen Inhalt über die gesamte westliche Zivilisation entleeren wird.“

Gerade humorig sind sie nicht gestimmt, die Herrschaften in Robert Seethalers Roman. Die Geschichte ist traurig. Und die Zeiten sind schwer. Und trotzdem durchhaucht dieses Buch eine wundersame Leichtigkeit des Stils, die angesichts der sich zuspitzenden Dramatik keine Schwere, sondern allenfalls eine bittersüße Melancholie hervorruft.

Seethaler – Jahrgang 1966! – schreibt, als sei er selbst als junger Zuhörer neben Stefan Zweig, Arthur Schnitzler oder auch Joseph Roth bei einem großen Braunen oder einer Melange im Kaffeehaus gesessen und habe deren Sprache erlauscht. Mit leisen Tönen wird eine traurige Geschichte von schweren Zeiten erzählt.
Seethaler verfügt über eine Sprache, die mich wiederum verführt hat, so ungewöhnlich viele Zitate in diese Besprechung einzustreuen. Eine Inhaltsangabe gäbe diesen besonderen „Sound“, diese Sprachmelodie nicht nur nicht wieder, sondern würde sogar in die Irre führen: Denn das Stück endet tragisch, der Weg dorthin ist es aber nicht. Man meint, dem Buch zuweilen anzuhören, zwischen welchen Polen es pendelt – ein bisschen Walzertakt, ein wenig Wienerwald, Marschmusik, gemütliches Wienerisch und im Hintergrund das Radio, aus dem plärrend die hysterische Stimme des Anstreichers dringt. Der Roman hat den Sound der Wiener Heldenplatz-Zeit.

Franz jedenfalls wird vom Weltgeschehen aufgerüttelt und zu einer ganz eigenen Rebellion gegen die nationalsozialistischen Verbrecher motiviert. Die Rebellion gestaltet sich explizit freudianisch und endet mit einem großen Fanal. Im engeren Sinne ist es ein Entwicklungsroman: Ein junger Mensch, der nach Orientierung sucht. Der erfährt, dass das Leben mit den Jahren nicht unbedingt leichter, sondern komplizierter wird. Der aber auch von Haus aus so viel Substanz und Anstand mitbringt, dass er den Anfechtungen widersteht. Und sich für das Richtige entscheidet. Ein kleiner Held in schlimmen Jahren.

Die Geschichte von Franzens` Nacht-Träumen ist ein ganz herrlicher Einfall von Robert Seethaler: Ein Mensch nutzt seine wirren unbewussten Traumgesichter zu einer  versponnen, kleinen Geste des Widerstands. Wunderbar. Ich kann nur empfehlen: Selber lesen! Und träumen!

Florian Illies: 1913 - Der Sommer des Jahrhunderts (2012).

Bild

November

„Adolf Loos sagt, dass das Ornament ein Verbrechen sei, und baut Häuser und Schneidersalons voll Klarheit. Alles ist aus zwischen Else Lasker-Schüler und Dr. Gottfried Benn – sie ist verzweifelt, woraufhin ihr Dr. Alfred Döblin, der gerade Ernst Ludwig Kirchner Modell sitzt, Morphium spritzt. Prousts „In Swanns Welt“, der erste Band von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, erscheint, den Rilke sofort liest. Kafka geht ins Kino und weint. Prada eröffnet in Mailand seine erste Boutique. Ernst Jünger, 18 Jahre alt, packt seine Sachen und geht zur Fremdenlegion nach Afrika. Das Wetter in Deutschland ist ungemütlich, aber Bertolt Brecht findet: Schnupfen kann jeder haben.“

Florian Illies, „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“, S. Fischer Verlag.

Das Jahr 2013 neigt sich bald seinem Ende zu. Und ich habe noch rechtzeitig die Kurve zu „1913“  genommen. Glücklicherweise. Denn selten hat mich ein Sachbuch (oder wie auch immer man dieses Buch einordnen mag – ein langes Essay über ein Jahr? Ein literarisches Biopic? Ein „gewaltiger Teaser“, wie Gustav Seibt es in der Süddeutschen Zeitung nannte?)…jedenfalls hat mich selten ein „Sachbuch“ so oft laut auflachen lassen.

Der Kunsthistoriker und Journalist Florian Illies lässt dieses eine, dieses besondere Jahr Revue passieren – ein Jahr schwankend zwischen Hypernervosität und Lethargie. Ein wenig erinnert dies an die Jahresrückblicke, mit denen die Nation jeweils in den ersten Januartagen von sämtlichen Fernsehsendern beglück wird. ALLERDINGS: Weitaus klüger und amüsanter verfasst.

Monat für Monat rollt Illies das auf, was vor 100 Jahren vor allem die Intellektuellen, die Künstler und die Bohème umtrieb: Ein Reigen (ja, Schnitzler kommt auch vor), gegen den das öffentliche Beziehungstreiben unserer Stars und Sternchen heute geradezu verblasst. Das Buch spricht durchaus auch etwas Voyeuristisches im Leser an – wer mit wem und warum nicht mehr, das liest sich unterhaltsam und streckenweise auch verwirrend, weil, vor allem wenn Rilke ins Spiel kommt, eigentlich alle mit allen…

Es griffe natürlich zu kurz, würde man die knapp 320 Seiten nun als eine Art feuilletonistischen Tratsches interpretieren – andererseits ist „1913“ aber auch keine geschichtswissenschaftliche Analyse. Kluge Unterhaltung bietet es – und das sehr gut gemacht. Warum 1913? Alles scheint da auf dem Siedepunk in der Kultur: Brücke, Blauer Reiter, Secession, Expressionismus, Kubismus – das Neue löst das Alte ab, die Richtungen konkurrieren. Marcel Duchamp hat die Nase voll vom Malen und erfindet nebenbei das erste Ready Made. Auch in der Literatur werden die Väter abgemurkst, die Romantik begraben. Freud wird von Jung geschnitten, nicht das einzige Trauma und Beziehungsdrama, das in diesem Jahr über die Bühne geht. Die „Alten“ (Schnitzler, Hofmannsthal) und Mittelalten (Kraus, T. Mann) hadern mit privaten Angelegenheiten oder sind irgendwie beleidigt und geplagt von Zipperlein und Allüren, die Jungen (Brecht, Jünger, Tucholsky) scharren mit den Füßen.

Alles spitzt sich in der Kunst in hektischer Hypernervosität zusammen, als ob in komprimiertester Zeit  das Rad neu erfunden werden müsste. Wie es Duchamp dann ja auch tut. Demgegenüber erstarren Machthaber und Politiker in seltsamer Lethargie, selbst angesichts der Unruhen auf dem Balkan. Kaiser Wilhelm schießt zunächst lieber täglich auf Tausende von Fasanen, kann aber nur einen abends speisen. Eines dieser kleinen, feinen Beispiele für die Dekadenz einer untergehenden Klasse, die Illies bringt. Er muss nicht mit dickem Pinsel streichen – feine Striche genügen ihm, um das Bild dieses Jahres zu zeichnen.

Bild

Ein Meisterstück, forderte die Mahler, und sie würde ganz die Seine. Oskar Kokoschka malte die Windsbraut und bekam die Alma trotzdem nicht. Das war 1913.

Das ist die Stärke dieses Buches: Die ungeheure Menge an Daten & Fakten sind so fein ausgesucht, gesponnen und verknüpft, dass sich allein aus dem geschickten Mosaik das Bild einer untergehenden Gesellschaft herausschält. Und doch ist alles so lebendig erzählt, dass man beim Lesen das eigene Wissen davon, dass es ja ein böses Ende nehmen wird, zunächst hintanstellt. Man begibt sich mitten hinein in diesen Tanz auf den Vulkan – man weiß zwar inzwischen, dass der Kokoschka seine Windsbraut für die Mahler vergeblich malte, aber währenddessen hat der vor Eifersucht Wahnsinnige unser ganzes Mitgefühl. Zwei ausgesprochene „Lieblinge“ begleitet Illies mit feiner Ironie über das ganze Jahr hinweg: Den ewig zaudernden Kafka bei den Versuchen eines Heiratsantrages sowie den ewig kränkelnden Rilke, der dennoch Briefe schreibend eine Anzahl von Frauen, mit der er locker eine Fußballnationalmannschaft stellen könnte, vorzugsweise platonisch, aber auch leibhaftig lenkt.

Die heran dräuende Katastrophe wird in diesem Treiben bewusst kaum wahrgenommen. Wie geisterhafte Schatten huschen jedoch schon die Vorboten der zweiten, noch grausameren Katastrophen durch die Seiten – der Postkartenmaler Hitler und Stalin auf der Flucht in Frauenkleidern. Doch noch herrscht auf der Achse Wien-Berlin-Paris das Leben.

In manchen Feuilletons wurden Bezüge dieses Panoramas zum Jahr 2013 gestellt, Parallelen gezogen, Botschaften und Ermahnungen destilliert. Ich meine, damit wäre dieses Buch überfrachtet und überinterpretiert. Es zeigt das Bild eines besonderen Jahres – klug geschrieben, unterhaltsam zu lesen, fein gemacht. Das allein ist auch einmal ausreichend.

Karl Kraus - Man frage nicht

Bild

Man frage nicht

Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.

Karl Kraus (1874-1936)

„Man frage nicht“ erschien im Oktober 1933 in der 888. Ausgabe der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel. Der Text ist eine Reaktion auf die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten in Deutschland. Das Gedicht rief Konfrontationen hervor - einerseits kam Kraus auf die Liste derer, die “schädliches und unerwünschtes Schrifttum” verbreiteten, andererseits wurde ihm das Verstummen, unter anderem von Brecht, zum Vorwurf gemacht.

Kraus hatte die Zeitschrift Die Fackel 1899 gegründet. Er war von Beginn an Herausgeber und Autor – eigentlich war die Zeitung Ausdruck seines Schaffens, seiner Überzeugungen und Ansichten. Die Ausgabe im Oktober 1933 war die dünnste Fackel, die er jemals herausgab: Gerade vier Seiten, darunter dieses Gedicht. Die letzte Nummer der Fackel erschien 1936, vier Monate vor seinem Tod, die Ausgabe endet mit dem Wort: Trottel.

Bild: Portrait von Karl Kraus, gemalt von Oskar Kokoschka 1925