Karim Miské: Arab Jazz (2012). Fundamentalisten in Paris.

Wer etwas über die innere Befindlichkeit einer Gesellschaft erfahren möchte, ist mit Kriminalliteratur nicht schlecht bedient. Wenn sie denn auch noch so hervorragend flüssig geschrieben ist wie das Romandebüt des Journalisten und Filmemachers Karim Miské. Bereits ab 2006 arbeitete der Pariser, Sohn eines Mauretaniers und einer Französisin, an “Arab Jazz” (was den deutschen Verlag dazu verleitete, diesen eingängigen Titel, der bei den meisten Übersetzungen beibehalten wurde, durch “Entfliehen kannst du nie” zu ersetzen, das weiß der Himmel).
Jedenfalls ist Miské, wie vor wenigen Tagen in der Süddeutschen zu lesen war, nun ein begehrter Interviewpartner: Hat er doch mit dem 2012 veröffentlichten, inzwischen mehrfach mit Preisen ausgezeichneten Krimi, quasi die Pariser Geschehnisse der vergangenen Wochen vorweggenommen. So schreibt Axel Hücke im SZ-Feuilleton (20.2.2015/”Hättet ihr uns mal gefragt”):

“Es spielt unter islamistischen Muslimen, ultraorthodoxen Juden, rechtsradikalen Polizisten und Zeugen Jehovas. Und es spielt im 19. Arrondissement von Paris und damit zufälligerweise in genau den Straßen, in denen Saïd und Chérif Kouachi aufgewachsen sind. In denen sie 1992 ihre tote Mutter in der gemeinsamen Wohnung entdeckten; sie hatte sich umgebracht, als sie zum sechsten Mal schwanger geworden war. Die Straßen, in denen ultraorthodoxe  Juden und radikale Islamisten Tür an Tür wohnen. Die Straßen, durch die die Kouachis nach dem Anschlag auf das Satire-Magazin Charlie Hebdo flohen. Auch der Hassprediger Farid Benyettou, der die Brüder 2005 vom Dschihad überzeugte, kommt unter anderem Namen in „Arab Jazz“ vor. Bei unserem Treffen wird Miské sagen, der Prozess gegen die Brüder und ihren „Mentor“ 2008 habe das Buch stark geprägt, ihn habe beeindruckt, wie es diesem Benyettou gelungen ist, seinen blanken Hass religiös zu verkleiden.”

Ein Einwanderer mit psychischen Problemen, die bestialisch ermordete Tochter strenger Zeugen Jehovas, Jungs, die Salafisten in die Hände geraten, junge Frauen, die auf jüdisch-orthodoxe Weise an Fremde verheiratet werden sollen, korrupte, rassistische Polizisten sowie ein originelles, intellektuelles Ermittlerpaar: Diese Gemengelage nutzt Miské nicht nur für eine rasant daherkommende Handlung mit überraschenden Wendungen, sondern auch, um einen glasklaren Blick auf den Zustand des modernen Frankreichs zu zeigen. Hass, Brutalität, Orientierungslosigkeit - da trifft die Verführungskunst orthodoxer Prediger auf offene Gemüter. Denn eine ganze Generation wird ausgeschlossen und vernachlässigt, steht außerhalb. Das wird allerdings nicht mit erhobenem Zeigefinger erzählt, sondern in einen raffinierten Plot verkleidet, stilistisch sind deutliche Anklänge bei Ellroy  zu erkennen (der Titel “Arab Jazz” ist eine Hommage an den US-Amerikaner und dessen Roman “White Jazz”, was von Weißen verursachter Trubel bedeutet). Aktueller können die Bezüge kaum sein - so wenn die Kommissarin, Tochter weißrussischer Einwanderer, auf den älteren Kollegen, “eingeborener” Franzose trifft, dann ist sie “charlie”:

“Ekelhaft. Der Kerl ist einfach nur ekelhaft. Allein sein Anblick weckt in ihr das Bedürfnis nach einer Dusche. Er ist einer von den ewig Gestrigen - fett, aber muskulös, ein verbitterter Rassist, überzeugter Macho und verbissener Schwulenhasser. Und natürlich Antisemit, vor allem wohl deshalb, weil man ihn mit seinem elsässischen Nachnamen oft für einen Juden hält. Wenn sie ihm gegenübersteht, lässt Rachel unwillkürlich die engelsgleiche Antirassistin heraushängen, oder sie gibt sich als Wachhündin und Abonnentin der Satirezeitschrift Charlie Hebdo.”

Miské zeigt, wie Jugendliche aus Einwandererfamilien - egal ob zuhause der Islam gepredigt oder die Thora gelesen wird - zunächst eben durchaus wie in einem “melting pot” zusammenleben, bis die Ereignisse Fronten schaffen und einige in die Radikalität, andere in die Kriminalität treiben. A lost generation. Das alles, wenn auch etwas brutal, rasant, temporeich und äußerst unterhaltsam geschrieben von einem, der die Lebensumstände dieser Generation kennt: Miské arbeitete an einer Langzeit-Filmdokumentation über die Fundamentalistenströmungen in Frankreich, als er mit dem Buch begann.

Die Bilder zeigen das französische Cover und das der englischen Ausgabe, die nun erst erschien. Auch das deutsche Coverbild ist irgendwie…naja.

Beitrag: CM

#VerschämteLektüren (17): Eine Spannungsautorin mit Hang zu ulkigen Weihnachtsmännern

“Wieder rammten sich Rasierklingen durch seine Trommelfelle. Eine Türklingel, schrill und fordernd. Jemand klopfte mit der Faust. Rüttelte an einer Tür. Rief Tareks Namen – er solle endlich aufmachen!“

Das ist ein Zitat aus dem Schlusskapitel in „Für Immer Mein“ von Ellen Dunne. Es ist ihr zweiter Roman nach „Wie Du Mir“, einem Krimi, der in Nordirland spielt. Man sieht – Ellen macht es spannend. Umso erstaunlicher sind ihre vergnüglichen und jahreszeit-angemessenen #VerschämteLektüren, die uns die Schriftstellerin hier beichtet…

ellen4Auf ihrem Blog http://www.ellen-dunne.com/ finden sich auch interessante und amüsante Geschichten über ihre Wahlheimat Irland, Texte und Rezensionen und dieses Selbstportrait:

„Geboren wurde ich 1977 in der Nähe von Salzburg. Mit 12 begann ich auch abseits der Schulbank Notizhefte mit Geschichten zu füllen. Für Irland und seine Geschichte interessiere ich mich seit den frühen 90ern. Seit 1996 arbeite ich in der Werbung als Texterin und Teamleiterin für die klassische und online-Werbebranche.

Seit 2004 lebe ich in Irland, nur 2010/2011 habe ich zwei Jahre Pause eingelegt für Aufenthalte in Berlin und München. Danach bin ich wieder südlich von Dublin gelandet, bin selbstständige Texterin/Kreativ-Übersetzerin – und schreibe Romane über normale Menschen in außergewöhnlichen Situationen. Übrigens noch immer in Notizhefte. Da bin ich ganz 12 geblieben.“

Ein außergewöhnlicher Mensch in einer normalen Situation – das ist jedoch die Ausgangslage zu Ellens #VerschämteLektüren:

Raymond Briggs und sein grantiger Weihnachtsmann

Es gibt zwei Bücher aus meiner Kindheit, die lese ich wie ein Uhrwerk jedes Jahr zu Weihnachten mindestens einmal durch, a) weil sie eigentlich Comics sind und trotz der Vorweihnachtshektik immer drin sind und b) weil ihr Humor so richtig schön britisch und zeitlos ist:

ellen1O je, du fröhliche

Im Grunde erinnert mich Raymond Briggs’ Weihnachtsmann an einen älteren, etwas einsamen und brummeligen Herren, der in seiner arbeitsreichsten Nacht mit Wind, Wetter, schmutzigen Kaminen und seiner zunehmenden Abneigung gegen die Kälte kämpft. Nach getaner Arbeit zieht er sich dann zu seiner privaten Feier zurück, nur um von den Verwandten mit gar schröcklichen Socken, Krawatten und ähnlichen Standardgeschenken abgespeist zu werden. Die warmen Illustrationen machen mir jetzt noch ein ganz heimeliges Gefühl.

Was macht der Weihnachtsmann im Juli?

Doch eine besonders liebenswerte Idee ist die des Weihnachtsmannes, der wie wir alle mal Urlaub braucht und sich mit seinem umgebauten Schlitten um die Welt macht. Auf der Suche nach der perfekten Erholung kämpft er mit kulturellen Unterschieden, Reisedurchfall und den Nachteilen seiner internationalen Bekanntheit … Und was soll ich sagen? Die Idee klingt so einfach und ist doch so gut und lustig umgesetzt, ich kichere jetzt noch jedesmal, wenn ich ihn da am Pool liegen sehe und Cocktails schlürfen.

ellendrei So macht mir Raymond Briggs jede Adventszeit wieder den Weihnachtsmann zu meinem heimlichen Wunschopa und mich zum Kind. Aber wer will schon erwachsen werden, solange es so gute Kinderbücher gibt?

Frohe Weihnachten Euch allen!

Und hier geht es zum Blog von Ellen Dunne:
http://www.ellen-dunne.com/

#Portrait. Georges Simenon: Kleine Leute, große Täter

„Es gab nirgendwo mehr etwas zu erledigen. Man hatte ihn nicht verstanden, oder er hatte die andern nicht verstanden, und dieses Missverständnis würde nun wohl nie mehr geklärt werden. Einen Augenblick überkam ihn die Anwandlung, sich in einem Brief zu erklären; aber das war nur eine letzte Eitelkeit, deren er sich schämte und auf die er verzichtete.”

Georges Simenon, Der Buchhändler von Archangelsk, 1956.

Ein Bekannter von mir sagte einmal: „Das Gute an einem Simenon-Roman ist: Wenn man mit einem zu Ende ist, dann kann man sich gleich auf den nächsten freuen – die gehen einem eigentlich nie aus“.

Mit Georges Simenon ist es wie mit Rosenkohl oder E-Books: Entweder man ist Enthusiast oder lehnt ihn absolut ab. Die Crux des Belgiers in den Augen der Literaturkritik: Er schrieb eindeutig zu viel. Und er schrieb eingängig, flüssig. Ja, das geht doch gar nicht! Zumindest nicht, wenn man als Autor in den Augen der „großen“ Literatur ernst genommen werden will. Und dann auch noch kommerzieller Erfolg!

Georges Joseph Christian Simenon, der ein langes, erfülltes Leben hatte (1903-1989), schrieb praktisch wöchentlich einen Roman: Insgesamt 75 über seinen sympathisch-muffeligen Kommissar Maigret, zudem 100 „Non-Maigrets“, sowie Erzählungen, Kurzgeschichten und unter verschiedenen Pseudonymen auch noch etliche Groschenromane.
Der schriftstellerische Durchbruch kam mit Maigret – ab den 1930er Jahren erschrieb sich Simenon so den Rang eines der meistgelesenen und kommerziell erfolgreichsten Schriftsteller unserer Tage. Und seither wird auch darüber gestritten – fast so, als handele es sich um Glaubensfragen – ob Simenon nun ein „ernstzunehmender“ Schriftsteller sei oder nicht. Er trug durch lakonische Bemerkungen selbst zu diesem „Image“ des literarischen Leichtgewichts bei – sein Spiel mit der Öffentlichkeit:

„Alles, was man für einen Krimi braucht, ist ein guter Anfang und ein Telefonbuch, damit die Namen stimmen.“

Der Wortschatz zu gering, die Sätze zu kühl, der Stil zu einfach – was von Einigen bemängelt wird, scheint von einer Vielzahl von Lesern goutiert zu werden.

Was die Kritik ihm versagte, gaben ihm die Leser – und auch von Kollegen erhielt er Anerkennung: „Georges Simenon ist der wichtigste Schriftsteller unseres Jahrhunderts”, sagte Gabriel García Márquez und André Gide äußerte sich ähnlich: „Georges Simenon ist heute unser größter Schriftsteller, und zu dieser Überzeugung werden außer mir auch schon noch andere kommen.”
Wer Simenon nicht kennt, sollte sich einfach einmal dieser Selbsterfahrung unterziehen – entweder man holt sich sofort die nächsten Bücher, oder man legt ihn ein für alle mal weg. Einsteigern empfehle ich den oben zitierten Buchhändler, die Glocken von Bicetre, die Phantome des Hutmachers, und, und, und…
Es ist eine klare Sprache, eine einfache Sprache, es geht um einfache Menschen, die durch einfache Zufälle und kleine Handlungen in großes Unglück geraten. Und dann keinen einfachen Ausweg mehr finden. Oder wie Simenon selbst sagt:

„Der Mensch ist derart schlecht für das Leben ausgerüstet, dass man fast einen Übermenschen aus ihm machen würde, wenn man in ihm einen Schuldigen - statt ein Opfer - sähe.“

Empfehlenswert auch seine persönlichen Schriften - beispielsweise ausgewählte Briefe in “Als ich alt war”.
“Wer im 20. Jahrhundert erfahren will, wie im 20. Jahrhundert tatsächlich gefühlt worden ist, muß Simenon lesen. Andere Autoren mögen mehr wissen über die Gesellschaft. Über den einzelnen Menschen weiß keiner so viel wie er.”
Georg Hensel

Die Bücher von Georges Simenon erschienen in einer Neuauflage und in revidierten Übersetzungen beim Diogenes Verlag.

 

Flutschbuch: Donna Leon. Einer ihrer Krimis. Irgendeiner davon.

Inhalt: Commissario Brunetti frühstückt italienisch. Also nur Espresso. Dann geht er ins Büro. Da ist ein Fall. Ansonsten Ärger in der Questura mit dumpfen Vorgesetzten und dumpfen Kollegen. In der Bar zweiter Kaffee und erstes Sandwich. Weiter am Fall arbeiten. Supersekretärinsignora Elettra hat schon Wesentliches recherchiert. Üppiges Mittagessen zuhause. Wieder am Fall arbeiten. Noch üppigeres Abendessen zuhause. Tochter Chiara anhimmeln, Sohn Raffi bremsen, Ehefrau Paolo friedlich halten. Dann müde, Bett, nächster Morgen, italienisches Frühstück.

Bewertung: Als 1993 „Venezianisches Finale“ beim Diogenes Verlag erschien, war ich ganz angetan. Eine spannende Story um den Tod eines egomanischen Künstlers, ein sympathischer Kommissar mit Familie (DIE LESEN SOGAR!). Und, ach ja, dieses Italienflair! Aber: Venedig kann sehr kalt sein. Dass wusste schon Patricia Highsmith, in deren Fußstapfen ich mir anfangs Donna Leon erhoffte. Aber inzwischen sind die Amerikanerin, die seit 1981 in der Lagunenstadt lebt, und ich keine Bücherfreundinnen mehr. Jetzt, über 20 Fälle später, lasse ich die Brunetti-Krimis tutto completto an mir vorbeiflutschen - selbst dann, wenn sie kurz nach Erscheinen bereits mit dem ME-Stempel im Wühlkorb meiner Buchhandlung liegen. Highsmith wusste, wann sie mit Ripley aufhören musste. Donna Leon dagegen hat den Absprung verpasst - oder will die Gelddruckmaschine nicht stoppen. Denn Käufer, Leser, Zuseher (ein zusätzlicher Todesstoß waren für mich die unschaubaren Adaptionen des „ersten“ deutschen Fernsehens) gibt es immer noch. Vielleicht alle getrieben von der Hoffnung, dass sich irgendwann doch irgendetwas ändert in dem so vorhersehbaren Leben der Brunettis. Eine Scheidung wäre erfreulich. Beispielsweise. Oder wenigstens ein Brunetti-Elettra-Seitensprung. Irgendwas, was Leben in die Bude bringt. Ich weiß, da war noch was - eine Kriminalhandlung? Ja, richtig? Meist überkonstruiert und dann plattgewalzt.

Irgendwie hat es sich ausgeflutscht - die Fälle wenig spannend, das Geschehen vorhersehbar, die Figuren ohne Entwicklung. Und für mich ein beinah persönliches Ärgernis: Soviel futtern und trotz zunehmender Jahre kein Gramm mehr auf der Waage - wie Mustergattin Paola das alles verdaut, das verursacht mir literarische Verstopfung. Doch ganz gleich, was und wieviel die Familie köchelt und tafelt - alle bleiben sie  eindimensional, die bella figuras der Donna Leon. Da greife ich denn doch lieber zu einem anderen Serientäter: Schlicht und einfach und doch nie langweilig: Maigret, Non-Maigret, das ist keine Frage - Hauptsache, ein Simenon.

Fazit: Wenn eine Krimireihe sich totläuft, dann ist der Fall schnell gelöst - der Mörder ist immer der Autor. Was dagegen bleibt, auch wenn die Stadt selbst sinkt: Schöne literarische Venedig-Impressionen. Und Rezeptideen. Lass die Kriminalfälle weg, liebe Donna Leon, und schreib einfach noch ein venezianisches Kochbuch.

TRIO 18: Jetzt ist aber Schluss!

Ich nehme meine Leserinnen und Leser ernst. Auch ihre Klagen. Ja, es gab Klagen. Häufiger in letzter Zeit: Hier werden zuviele Bücher besprochen, empfohlen, appetitanregend serviert - würde man den Empfehlungen nachkommen, müsste man sich aus der Welt abmelden. Was tun dagegen?
Ich erzähle einfach mal vom Lesen interruptus. Eine Übung, die ich mir mühsam angeeignet habe. Früher stand ich unter dem Zwang, jedes Buch auslesen zu müssen.
Man wird weiser. Auch ohne Weisheitszähne. Inzwischen kann ich Auslesen treffen: Auch mal abrupt, mittendrin. Bücher, die ich aus meiner Sicht NICHT empfehlen kann.
Oder nur bedingt. Oder wenn, dann mit Warnung.
Wer trotzdem liest, dem sei gesagt: Bücher können ihre Lebenszeit reduzieren.
Und, liebe Beschwerdeführerinnen: Ich habe mich bemüht, Euch entgegenzukommen. Ich will jetzt keine Klagen mehr hören!!!

Und nun zu den drei Abbrüchen:

„Es ist ein Kunstwerk“, sagte sie.
„Das weiß ich nicht“, entgegnete Oriol zurückhaltend. „Aber es kam aus meinem Inneren.“
Ein heftiger Stromschlag riß ihn aus seiner Betäubung, denn sie hatte ihm die Hand auf die  Schulter gelegt und ließ sie dort liegen.
Jaume Cabré, “Die Stimmen des Flusses”, 2004

Gut. An dieser Stelle (Seite 119 von 667 in der Taschenbuch-Ausgabe) habe ich abgebrochen. Sieben Jahre soll der katalanische Schriftsteller an diesem Roman gearbeitet haben. Ich bedauere es aufrichtig, dass ich allenfalls sieben Stunden darin gelesen habe. Aber ich gestehe es ein: Die verschachtelte Erzählstruktur, der sprunghafte Wechsel von einem Erzählstrang zum nächsten, die Montagetechnik - das war mir etwas zuviel philologische Spielerei. Nicht, dass ich grundsätzlich vor komplexeren Plots zurückschrecken würde - aber hier hat mich dieses Spiel einfach nicht gepackt. Trotz einer gewissen Affinität zum Thema  – aufgerollt wird aus der Gegenwart heraus die Geschichte eines Dorfes in den Pyrenäen, in dem die von den Falangisten gelegte Blutspur bis in die Moderne hineinreicht. Was von einem wohlmeinenden Rezensenten als „raffiniert verschachtelte Erzählstruktur“ interpretiert wurde, empfand ich als holperig und ungelenk. Ein Vor und Zurück zwischen Generationen, Epochen, Figuren. Das alleine könnte kunstvoll sein, wenn es auch Geduld beim Lesen erfordert. Aber - dies wohl auch eine Frage der Übersetzung - ich fühlte mich zudem gestört durch etliche klischeehafte Sätze und durch den Versuch, in ein Buch “alles” zu packen: Liebe, Sex, Lust, Ehebruch, Mord und Totschlag, Politik, Macht, Moral, Religion, selbst der Papst muss herhalten.
Richtig schön ist am Buch ist jedoch die tolle Verlagsvorschau.

“Nach vielem Hin und Her überzog Ellen hemmungslos ihr Konto und ging einkaufen. Das Resultat waren violette Highheels und ein dazu passendes Hemdblusenkleid aus reiner Seide, außerdem ein sehr teures Parfüm.
Amalia hatte zwar auf Wunsch der Großmutter ihr Zimmer aufgeräumt und sogar geputzt, aber endgültig beschlossen, am bewussten Wochenende ihre Schwester in Köln zu besuchen, und zwar mit Uwe im Schlepptau.”
Ingrid Noll, “Über Bord”, 2012

Schon vor der Apothekerin war ich nicht besonders begeistert von dieser Kriminalautorin. Mir gefällt Nolls Schreibstil einfach nicht. Das so ein wenig behäbige Voranschreiten der Geschichten. Die manchmal überzeichneten Figuren. Das Frauenbild - Frusteinkäufe! FrustmitMännern! FrustimJob! Violette Highheels und Hemdblusenkleider. Ironie kann ich da nicht entdecken. Nun gut, was aber soll man machen, wenn eine längere Bahnfahrt bevorsteht, in der übersichtlichen Auswahl des Bahnhofskioskes alles an Literatur jedoch offensichtlich schon über Bord gegangen ist? Zwischen gefühlten hundertzwanzig pseudohistorischen Mittelalterkrimis nur ein Diogenes-Buch in vertrauter Optik hervorblitzt? Man kauft dieses und hofft, dass die Bahn einmal, nur einmal, pünktlich sein möge. Die Auflösung dieser Frage empfand ich letztendlicher als spannender als die Story - ich bin noch nicht mal bis zum Mord gekommen. Böse Sache.

Apropos Zugfahren:
“Wir nahmen den Nachtzug nach Rom. Lea hatte stets staunend vor Zügen mit Schlafwagen gestanden. Dass es Züge mit Betten gab, in die man sich legte, um ganz woanders aufzuwachen - das erschien ihr wie Zauberei.”
Pascal Mercier, “Lea”, 2007

Pascal Mercier mag offensichtlich Nachtzüge, ob nach Lissabon, Rom oder anderswo. Während ich den “Nachtzug nach Lissabon”, diesen internationalen Bestseller, durchaus als gehobene, gut lesbare Unterhaltung empfand, liess dieser Roman um eine enge, symbiotische Vater-Tochter-Beziehung mich seltsam kalt. So quälend wie die Verbindung zwischen dem Witwer, der seiner Tochter eine Karriere als Geigerin ermöglichen will und dann, als das Wunderkind sich entpuppt und außer Haus flattert, unter der Entfremdung leidet, so quälend empfand ich streckenweise auch die Lektüre.
Das Buch nennt sich “Novelle” - doch der Spannungsbogen fehlt, die Verknappung, der Autor verplaudert sich, wird kleinteilig und redundant. Und die Story wirkt an sämtlichen Haaren herbeigezogen, die man morgens so im Schlafwagenabteil entdeckt. Aus diesem Nachtzug bin ich leicht ermüdet nach mehreren Kapiteln ausgestiegen.

William S. Burroughs und Jack Kerouac: Und die Nilpferde kochten in ihren Becken (2010).

Ich nenne dieses Bild: Burroughs im Bücherregal mit schulischem Curriculum und Nilpferd.

Der Plan war, diese Buchbesprechung (“Und die Nilpferde kochten in ihren Becken”) aus den Anfangsgründen des Blogs zum 5.2. aufzupolieren&zu ergänzen.

Muss nicht sein. Ich verweise stattdessen auf zwei Blogbeiträge, die William S. Burroughs, am 5.2. 1914 geboren, ausreichend würdigen:

http://www.neukölln.org/ und  http://literaturundfeuilleton.wordpress.com/2014/02/04/hey-billy-whats-your-cure-for-pain/

Die kochenden Nilpferde nochmals aufgefrischt:

Burroughs_Nilpferde_def.indd„Der Barkeeper hatte das Radio an. Ein Nachrichtensprecher brachte eine Meldung über einen Brand in einem Zirkus und sagte: „Und die Nilpferde kochten in ihren Becken zu Tode.“ Er brachte diese Details mit dem für Nachrichtensprecher typischen salbungsvollen Genuss.“

William S. Burroughs/ Jack Kerouac, „Und die Nilpferde kochten in ihren Becken“, Verlag Nagel & Kimche, 2010

Zwar nur zu einem kurzen Auftritt, aber immerhin bis zur Titelzeile bringen es die Hippos in diesem Romanexperiment. 1944, rund zehn Jahre bevor sie mit ihren Werken als Vertreter der „Beat Generation“ berühmt  wurden, saßen William S. Burroughs, damals 30 Jahre alt, und Jack Kerouac (22) in einer Bar in New York. Im Radio wurde eine Nachricht gebracht: Ein grauenhafter Brand in einem Zirkuszelt, Menschen verloren ihr Leben, Hunderte wurden verletzt und, so der Sprecher, „die Nilpferde kochten in ihren Becken“. Der Titel war gefunden. Für ein Buch, dessen Entstehungsgeschichte so abenteuerlich ist wie sein Plot. Nilpferde spielen in diesem Krimi, der mit seiner „monochromen, urbanen Atmosphäre sexuell gewagt und stilistisch hardboiled“ ist (so Douglas Kennedy 2008 in der Times), übrigens dann keine weitere Rolle.

Kerouac und Burroughs verarbeiteten einen Totschlag, der in ihrem weitgespannten Bekanntenkreis tatsächlich geschah, in einen Krimi à la Chandler und Hammett. Abwechselnd schrieb jeder ein Kapitel, der gegenseitige Vorantrieb ist festzustellen.

Das Manuskript blieb jedoch lange unveröffentlicht – erst mangels Verlag, dann aus Rücksicht auf die Hauptperson: Lucien Carr. Er ist im Roman der junge Mann, der seinen langjährigen Freund, Mäzen und Geliebten aus Überdruss und in einer Überreaktion ersticht. Carr machte später als Journalist Karriere, brachte es bis zum Nachrichtenchef der United Press. Er starb 2005. Der Nachlassverwalter von Burroughs, James W. Grauerholz, hatte ihm zugesichert, das Buch erst nach seinem Tod erscheinen zu lassen.

“Und die Nilpferde kochten in ihren Becken” vereint von beiden Autoren bereits das, was sie später auszeichnen sollte: Atemlosigkeit des Stils, trotzdem Nüchternheit in der Beschreibung selbst absurdester Szenen, der Mut zu Bildern, die bis dato in der amerikanischen Literatur noch nicht häufig zu finden waren. Immer in Fahrt und auf der Suche nach dem nächsten Kick die beiden Hauptfiguren. Auch ein Buch über Freundschaft (Männerfreundschaft), Zusammenhalt und Lebenslust.

Die Koordinaten, so Julia Encke in der FAZ: “Radio und Kino, die Hafenbars, ihre Wohnungen - und die Straßen von New York in den vierziger Jahren. Burroughs und Kerouac erzählen die Tage vor der Tat; wie Will Dennison, Barmann mit Verbindungen in die Unterwelt, und der Seemann Mike Ryko mit ihren Freunden ihre Zeit verbringen: Da sieht Phillips Freundin Barbara ein wenig aus wie die österreichische Schauspielerin Hedy Lamarr; ein Kommilitone sondert ständig „Noël-Coward-Dialoge“ ab; das spanische Restaurant an der Eigth Avenue ist „ein Laden, der ,mañana’ ist“, und im „Automatenrestaurant“ an der 57th Street gibt es Bohnen mit Bacon. In der Union Hall am Hafen stehen Bücherstände, an denen Werke wie Woody Guthries „Bound for Glory“ und Roi Ottleys „New World A-Coming“ zu kaufen sind; durchgeknallte Journalisten führen sich im „George’s“ furchtbar auf, glauben, sie wären wer, weil sie für den „Saturday Evening“ schreiben.”