#VerschämteLektüren (21): Jutta Reichelt und der verdammt gute Roman

3499624913_2e6e6aa98aVor etwa 25 Jahren wurde ich einmal von einer Muse geküßt. Am nächsten Morgen schrieb ich den ersten Satz meines immer noch unvollendeten Romans. Offenbar war jedoch ein Kuss nicht genug - bei dem einen Satz sollte es fortan bleiben. Wie das so ist mit den Musenküssen. Ob Schreiben-Können auch mit dem Viel-Schreiben kommt, was Übung ist, was Routine, wieviel Talent wiegt und wieviel Zu- und Selbstvertrauen, Handwerk und Übung ausmachen - darüber macht sich die Schriftstellerin Jutta Reichelt auf ihrem Blog “Über das Schreiben von Geschichten” viele Gedanken. Man kann dabei mitlesen, davon lernen und zwischendurch sogar mitspielen - beispielsweise, wenn Christoph einfach verschwindet.
Und das führt zu ihrer “verschämten Lektüre”: Denn selbst Schriftstellerinnen träumen anfangs noch ein wenig vom “Musenkuss”, wenn er in Form eines verkappten Sachbuches daherkommt…

Jutta Reichelt bringt so einen ganz neuen Aspekt in die #VerschämteLektüren. Und wie das so ist mit den verdammt guten Romanen, das kann man dann im Frühjahr 2015 sehen: Da erscheint ihr neuer Roman beim Verlag Klöpfer & Meyer, den ich wegen seines ambitionierten Programms und seiner schön gemachten Bücher sehr schätze. Zur Verlagsvorschau mit Einblick in “Wiederholte Verdächtigungen” geht es hier: http://www.book2look.com/book/HdJvCpFdt2

Jetzt aber Jutta und der Roman vom Musenkuss:

“Ich habe mich entschlossen (nach mehreren schlaflosen Nächten), diese Möglichkeit der #VerschämteLektüren für eine Offenbarung zu nutzen, die geeignet ist, meinen halbwegs guten Ruf als literarische Autorin zu ruinieren.

Ich muss dazu etwas ausholen: Als ich zu schreiben begann, wusste ich nicht, wie ich was schreiben wollte, aber ich wusste, dass die Autorinnen und Autoren, die ich schätzte und die meinen inneren Referenzrahmen bestimmten (hätte ich damals nicht so sagen können) „literarische“ Autoren waren.

Ich wusste nicht, wie und was sich schreibend lernen lässt und ob es dafür Regeln gibt. Ich wusste auch nicht, warum die Texte, die ich schrieb, mir nicht gefielen. Jedenfalls nicht so richtig. Ich versuchte, genauer darauf zu achten, wie „andere“ schrieben – und vergaß diese Frage aber über der Lektüre immer wieder sofort.

Trotzdem schrieb ich weiter. Ich hatte das Gefühl, das sich etwas an meinem Schreiben in die richtige Richtung entwickelte, ohne dass ich hätte sagen können, was es war. Ab und zu gab ich, was ich schrieb, meinem Bruder, der mir mit großer Geduld erzählte, was er in meinen Texten las – und wie sie vielleicht gewinnen könnten. Nannte auch AutorInnen, die mir vielleicht gefallen könnten. So ging viel Zeit dahin.

Schön wäre es gewesen, wenn es einfacher gewesen wäre. Und dann las ich diesen Titel (Trommelwirbel!): „Wie man einen verdammt guten Roman schreibt“ von James N. Frey!

Ich habe das Buch gelesen. Ich habe es sogar verschlungen. Es ist lange her, aber es war so! Ich habe für zwei bis vier Monate gedacht, ich wäre gerettet. Meine Texte wären gerettet. Ich habe gedacht, dass alles viel einfacher ist, als ich je für möglich gehalten hätte. Eine Prämisse! Alles, was mir fehlte, war eine Prämisse! Und: „Konflikt! Konflikt! Konflikt!“

Leider ist es dann alles doch komplizierter und einfacher zugleich und mittlerweile weiß ich, dass Schreibratgeber wie Medizin sind: Sie können wirkungslos sein, hilfreich – oder schädlich. Wir wissen meist, wie ein Text sein sollte, wir wissen nicht, was mit unserem Text nicht stimmt. Wir halten unsere Texte ja für spannend oder komisch oder unglaublich berührend und irren uns nicht über „die Regeln“, sondern über unseren konkreten Text. Das ist das Problem …

Mittlerweile weiß ich auch, dass „Schreibratgeber“ und noch dazu solche mit einem derart marktschreierischen Titel für manche Autorinnen „eigentlich“ in die zweite Reihe gehören – und weil ich immer noch viel zu viele Bücher besitze, sind sie da auch gelandet. In ehrenwerter Gesellschaft …”

Hier geht es zum Blog der Autorin: http://juttareichelt.com/

Und auch beim Literaturhaus Bremen kann man sie finden: http://www.literaturhaus-bremen.de/autor/jutta-reichelt

Dies ist jetzt der vorläfufig letzte Beitrag zu den #VerschämtenLektüren, den ich auf Vorrat habe. Offenbar befinden sich etliche noch ein wenig im Winterschlaf…Allen Leserinnen und Lesern, Bloggerinnen und Bloggern der Hinweis: Wer Lust hat, über die Lieblingsbücher zu plaudern, die man jedoch im Literaturzirkel nicht unbedingt vorschlägt - hier gibt es die Möglichkeit dazu. Wie man mitmachen kann, steht unter anderen in den Spielregeln: http://saetzeundschaetze.com/2014/11/21/verschamte-lekturen-spiel-und-spasregeln/

Mies van Hout: Heute bin ich (2012).

Manchmal versagt die Sprache. Man findet nicht die richtigen Worte. Oder nur die falschen. Ist sprachlos und stumm wie ein Fisch. Jedes Wort ein Tonnengewicht. Dann könnte dieses Buch, hätte man es bei sich, hilfreich sein. Man würde einfach die entsprechende Seite aufschlagen. Nicht viel Worte machen, sondern nur eine seiner Seiten zeigen.

"Heute bin ich": Zufrieden.

Alles klar. Der Fisch ist zufrieden, seine Schweigsamkeit kein bedenkliches Signal. Soll er in Ruhe weiterdümpeln dürfen. Vorsicht ist geboten, wenn diese Seite aufgeschlagen wird:

Besser, man lässt den kleinen Piranha in Ruhe. Soll er vor sich hinbrüten. Oder toben. Es kommen wieder bessere Tage. “Heute bin ich” ist ein Buch der niederländischen Kinderbuchillustratorin Mies van Hout. Ich habe es bei einer Freundin entdeckt, die im therapeutischen Bereich unter anderem mit Kindern arbeitet. Dort kommt es zum Einsatz, wo die kindliche Sprache (noch) nicht benennen und ausdrücken kann, was ist. Jeder Fisch ein akuter Gefühlszustand.

Das Buch ist nicht nur was für Kinder. Wortlosigkeit packt auch Erwachsene, vor allem, wenn es um die großen Themen geht: Liebe, Freundschaft, Sehnsucht, Eifersucht, Sorgen und wer jetzt endlich mal den Abwasch macht. Die Bilder sind charmant - leuchtende, farbenfrohe Fische knallen auf schwarzem Hintergrund so richtig hervor. Ein wenig abgekupfert ist das freilich - aber manchmal ist auch eine gute Imitation schön.

Paul Klee, Der Goldfisch.

Irgendwo habe ich über das Buch gelesen, Mies van Hout habe wahrscheinlich Fische zum Objekt gemacht, weil diese für ihre starre Mimik und somit das Unvermögen, Gefühle auszudrücken, bekannt seien. Eine glatte Fehlinterpretation, meine ich. Mies van Hout wird die Fischgeborenen kennen. Anfällig für jede Gefühligkeit. Es fehlen im Buch eigentlich nur zwei Seiten: Himmelhochjauchzend - zu Tode betrübt.

Die besten Tage sind jedoch, wenn sich diese Fische-Seite zeigt:

“Heute bin ich”: Vergnügt. Wie ein Fisch im Wasser.

Mies van Hout, “Heute bin ich”, aracari Verlag, 2012. Gebunden, 48 Seiten. 13,90€. ISBN 978-3905945300

Anna Mitgutsch: Die Welt, die Rätsel bleibt (2013).

ImageKann man mit Sprache das Unsagbare benennen?”

Anna Mitgutsch ist Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin. Ich kannte bisher nur ihre belletristische Seite – von ihren Romanen hatte ich „Die Züchtigung“ und „Familienfest“ gelesen. Die Züchtigung ist ein Buch, das einen lange nicht loslässt. Siehe hier die aktuelle Besprechung bei den Schreibtischmetamorphosen: Rezension “Die Züchtigung”Familienfest” handelt von einer jüdischen Familie in den USA und das Ringen um ihre Identität. Anna Mitgutsch ist eine Schriftstellerin mit einer klaren, leisen, streckenweise auch sehr lyrischen Sprache.

Ein Stil, den offenbar auch die Wissenschaftlerin pflegt. Das ist einerseits erfreulich: Da ist keine, die dem Leser meint, die Welt erklären zu müssen. Da ist eine, der die Welt ebenso ein Rätsel bleibt, dem sie sich fragend, fast schon zögerlich annähert. Wo andere Statements abgeben, wirft Anna Mitgutsch Fragen auf: Das ist das Kennzeichnende ihres Essaybandes „Die Welt, die Rätsel bleibt“, der 2013 beim Luchterhand Literaturverlag erschienen ist. 17 Essays, in vier Kapitel gegliedert: Schriftstellerportraits, Literatur, Transzendenz, Fremdsein. Schon die letzten beiden Kapiteltitel verdeutlichen: Nichts erschließt sich der Grazerin auf den ersten Blick, die Welt ist kein offenes Buch.

Diese Qualität, die Fähigkeit, Fragen zu stellen, statt Antworten vom Band zu liefern, macht die Wissenschaftlerin aus. Es macht dem Leser das Buch jedoch auch den Zugang mitunter schwer. Gerade dort, wo man eventuell konkrete Informationen erwartet, also bei den Schriftsteller-Portraits, werden so viele Fragen aufgeworfen, dass ab und an das Ziel, die Absicht des Portraits hinter den Fragen verschwindet. So in dem „nachgetragenen“, also fiktiven Brief an Sylvia Plath, der die Abgrenzung zwischen Kunst und Leben zu ergründen versucht. Übrigens ist jedem Beitrag eine Frage als Leitmotiv vorangestellt.

Anna Mitgutsch versucht also nicht, mit Sprache das Unsagbare zu benennen, aber sie unternimmt den Versuch, die Welt der Literatur, der Sprache, der Philosophie etwas zu enträtseln. Besonders stark, informativ und detailreich sind in diesem Essayband die Beiträge über jüdische Literatur und Literaten sowie der Essay „Die Grenzen der Integrität - Überlegungen zur Situation der Künstler und Schriftsteller in totalitären Diktaturen“. Allein ihre Gedanken über den umstrittenen Begriff der „inneren Emigration“ lohnen die Lektüre dieses Buches schon.

Zitat:
“Der Emigrant Hans Sahl nennt die Zeit von 1933 bis 1945, die Zeit von Verfolgung und Flucht, die Zeit der Diktatur und des Zivilisationsbruchs, eine >Geschichte vom Leben und Sterben einer Kultur<. Wer sich mit den Biographien der Vertriebenen beschäftigt hat, mit den gewaltsam abgebrochenen Leben von Walter Benjamin, Kurt Tucholsky, Arthur Koestler, Stefan Zweig, Ernst Toller, Walter Hasenclever, die Flucht und Verzweiflung in den Tod trieben, wer die literarischen Zeugnisse der Entbehrungen, Erniedrigungen und Verluste der Emigranten gelesen hat, die ihre Flucht überlebten, dem erscheint es unangemessen, ja zynisch, das Wort Emigration im Zusammenhang mit jenen zu gebrauchen, die in einer entvölkerten Kulturszene plötzlich ins Zentrum rückten und ungeschoren blieben oder zu Ehren kamen, auch wenn sie beteuerten, es sei gegen ihren Willen geschehen. Es wäre aber auch frivol, alle, die ihre Heimat nicht verlassen konnten oder wollten, gleichwertig nebeneinander zu stellen, denn es gab einen literarischen Widerstand, der tödlich war, dessen Mittel mutiger und weniger verdeckt waren, so daß sie nicht nur späteren Germanisten, sondern auch der Gestapo und der Zensurbehörde auffielen. Die Lyrikerin Alma Johanna Koenig, die Schriftsteller Albrecht Haushofer und Hans Vogl mögen keine berühmten Autoren gewesen sein, aber sie büßten mit dem Leben für ihren Widerstand, der mit ihrem Werk in Einklang stand.”

Aus dem Inhalt: Essays unter anderem über Elias Canetti, Paul Celan, Emily Dickinson, Franz Kafka, Imre Kertesz, Herman Melville, Amos Oz, Sylvia Plath, Rainer Maria Rilke, Marlen Haushofer, Isabella Stewart Gardner, und andere.

Über die Autorin: Anna Mitgutsch wurde in Linz geboren. Sie unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Solothurner Literaturpreis.

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 416 Seiten, Luchterhand Literaturverlag, ISBN: 978-3-630-87418-0, € 19,99

Link zur Leseprobe beim Verlag: http://www.randomhouse.de/Buch/Die-Welt-die-Raetsel-bleibt/Anna-Mitgutsch/e437891.rhd?mid=4&serviceAvailable=true&showpdf=false#tabbox

Bruce Chatwin: Traumpfade (1987).

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Bild: Colleen Wallace Nungari

Sie hatte nie linguistische Studien betrieben. Doch ihre Arbeit an dem Wörterbuch hatte ihr Interesse für den Mythos von Babel geweckt. Warum hatte es zweihundert Sprachen in Australien gegeben, wenn das Leben der Aborigines so gleichförmig gewesen war? Ließ sich das wirklich mit dem Stammessystem oder der Isolation erklären? Bestimmt nicht! Sie begann sich zu fragen, ob die Sprache selbst nicht vielleicht mit der Verbreitung verschiedener Spezies über das Land zusammenhing.
„Manchmal“, sagte sie, „bitte ich Old Alex, eine Pflanze zu benennen, und dann antwortet er: „Kein Name“, was bedeutet: „Die Pflanze wächst nicht in meinem Land.“
Dann suchte sie einen Informanten, der als Kind dort gelebt hatte, wo die Pflanze wuchs – und fand heraus, dass sie doch einen Namen hatte.
Das „trockene Herz“ Australiens, sagte sie, sei ein Puzzle aus Mikroklimata, verschiedenen Bodenmineralien und verschiedenen Pflanzen und Tieren. Ein Mann, der in einem bestimmten Teil der Wüste aufgewachsen war, kannte dessen Flora und Fauna. Er wußte, welche Pflanze das Wild anlockte. Er kannte seine Wasserstellen. Er wußte, wo Knollen unter der Erde waren. Mit anderen Worten: indem er alle Dinge in seinem Territorium benannte, konnte er immer damit rechnen, zu überleben.
„Aber wenn man ihn mit verbundenen Augen in ein anderes Gebiet führt“, sagte sie, „könnte es passieren, dass er sich verirrt und verhungert.“
„Weil er die Orientierung verloren hat?“
„Ja.“
„Sie glauben, dass der Mensch sein Territorium macht, indem er die Dinge darin benennt?“
„Genauso ist es!“ Ihr Gesicht leuchtete auf.
„Die Grundlage für eine universelle Sprache kann es also nie gegeben haben?“
„Genau! Ganz genau!“

Wendy sagte, auch heute noch würde eine Aborigine-Mutter, wenn sie bei ihrem Kind die ersten Sprechversuche bemerke, ihm die Dinge des jeweiligen Landes in die Hand geben: Blätter, Früchte, Insekten und so weiter.
Das Kind an der Brust seiner Mutter wird mit dem Ding spielen, zu ihm sprechen, seine Zähne an ihm erproben, seinen Namen wiederholen – und es schließlich wegschieben.

„Wir geben unseren Kindern Gewehre und Computerspiele“, sagte Wendy. „Sie geben ihren Kindern das Land.“

Bruce Chatwin, „Traumpfade“.

Schon vor einigen Jahren habe ich die „Traumpfade“ von Bruce Chatwin das erste Mal zur Hand genommen. Ich versuchte, die Reise durch das Innere Australiens mit dem Kopf zu nachzuvollziehen. Beim Lesen reisen. Ich wollte die Logik der „songlines“ und „walkabouts“ verstehen.
Ich meinte, den Weg mit meinem Kompass erschließen zu können. Mystik und Spiritualität sind auf diesem Kompass nicht allzu großgeschrieben.

So blieb mir die Erzählung fremd. Die Traumpfade haben sich mir nicht erschlossen.

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Dieser Tage habe ich mich wieder auf die Reise mit Bruce Chatwin gemacht.  Es ist ein anderes Lesen als vor zehn Jahren. Nicht, dass ich die Magie der Lieder jetzt besser verstünde. Ein Buch allein kann nicht der Schlüssel zu einer anderen Kultur sein. Zumal die Kultur der Aborigines Zonen hat, die von anderen nicht einmal betreten werden sollen.

Aber, frei nach Kafka: Ein Buch kann die Axt sein, für andere Dinge, die festgefroren sind in uns. Das gefrorene Meer in mir, meine kleine Eisscholle, das war der Anspruch, Dinge mit meiner Logik, die natürlich geprägt ist von meiner Herkunft, meiner Gesellschaftsform, meinem Kulturkreis, meiner Prägung, usw., erfassen zu müssen und zu können.

Vielleicht ist dies mein Schlüssel, der mir dieses Buch jetzt erst öffnet: Ich akzeptiere, dass ich nicht alles verstehen können muss. Ich verstehe, dass es Zonen der Kultur, des Denkens, des Lebens gibt, die ich nicht betreten kann. Ich nehme das Anderssein der Anderen an. Wenigstens in der Literatur. Und plötzlich kann ich dieses Buch lesen.

Auch wenn das Verstehen nicht gegeben ist, so kann es doch Verständnis und eine Art Verständigung geben. Dies ist es, was ich aus der Reise mit Chatwin schöpfe.

Die Sprache ist eine Sache der Logik. Sie ermöglicht eine Verständigung zwischen zwei verschieden logisch strukturieren Systemen nicht. Die Musik ist eine Sprache der Intuition. Sie macht Verständnis möglich, wo das Sprechen versagt.

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Mit einer songline beschreiben die Aborigines die australische Landkarte. Die Lieder werden an die Nachkommen weitergegeben. Sie umreißen das Land, seine Mythen und heiligen Stätten. Und auch, wenn die Dialekte und Sprachen am anderen Ende des Kontinents für einen anderen Ureinwohner des Kontinents unverständlich sein mögen – dort wo die Worte ihre Grenzen haben, spricht das Lied, die Melodie zu ihnen. Man muss nicht sprechen, um richtig zuhören zu können. Und es gibt eine Sprache, die jeder verstehen kann, wenn die Intuition noch nicht ganz im Zivilisationsmüll verloren ist. Es ist die Sprache der Musik.

Wir können noch so viel sagen, und verstehen einander nicht. Aber die Musik kann manchmal eine Sprache sein, die die Axt ist, die das Eismeer zwischen uns zerschlägt.

Das Leben jedes Menschen hat eine Grundmelodie. Wir haben unsere eigenen songlines. Wir haben auch unsere Traumpfade. Für Bruce Chatwin war die Melodie des Lebens das Reisen. „Traumpfade“, ein Klassiker der modernen Reiseliteratur, ist das Buch, mit dem er weltberühmt wurde und einen „Australien“-Boom auslöste. 1982 landete Chatwin in Sidney und begab sich auf seine persönliche Odyssee. Auch er mit dem Anspruch, zu verstehen, wie eine songline funktioniert. Letztendlich schreibt er jedoch ein Buch, das mehr von der Rastlosigkeit des ewig Reisenden und Suchenden handelt. „Traumpfade“ erschien 1987 unter dem Titel „The Songlines“ in der englischen Originalausgabe. Einer der wenigen Fälle, da es die deutsche Übersetzung besser trifft: Am Anfang ist zwar die Suche nach dem Lied. Aber das Buch handelt vom Traum des nichtsesshaften, nicht an Besitz gebundenen, nicht unterdrückten Menschen. Es handelt auch vom Traum von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.

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Die chronologische, reportagenhafte Erzählung wird unterbrochen von zahlreichen Notizen, Zitaten weiterer Reisender, Anekdoten von anderen Trips Chatwins, Einschüben und Textsprengseln. Es ist ein intuitives Erzählen, das auch das gedankliche Sprunghafte und die Ruhelosigkeit des Autors, des Reisenden, der zahllose Eindrücke aufnimmt, spiegelt. Die Beschreibungen der Weite des Kontinents, der überwältigenden Landschaft, aber auch die Szenen in Bars und in den „Reservaten“, sind großartig. Chatwin zeigt die Arroganz und den Rassenhass der Weißen, die Beschränktheit der Missionare und ihrer modernen Nachfolger, der Sozialarbeiter, beschreibt die Armut und Resignation der Ureinwohner packend, schildert aber auch eindrückliche menschliche Begegnungen. Zuweilen auch amüsant – beispielsweise die Szene, in der eine Ladenbesitzerin geschickt einem naiven amerikanischen Ehepaar „Traumbilder“ verkauft – jene Kunst der Aborigines, ihre Sagen, Mythen und Träume auf Leinwand zu bannen (siehe Bilder).

Chatwin blieb wenig Zeit zu schreiben: Der 1940 in Sheffield geborene Schriftsteller starb bereits 1989. In der kurzen Lebensspanne, die ihm vergönnt war, schrieb er etliche Reiseberichte und Romane über das Reisen – „Traumpfade“ ist letztendlich mehr traumwandlerischer Roman denn Sachbuch. Das Buch blieb später nicht unumstritten (siehe dieser Artikel in der Zeit: http://www.zeit.de/2000/21/200021.chatwin_.xml).

Dem Schriftsteller historische Ungenauigkeit und mangelndes Kulturverständnis, insbesondere bei den Traumpfaden, vorzuwerfen, halte ich für merkwürdig. Ein Roman ist ein Roman ist ein Roman. Und kein Tatsachenbericht. Im Roman sind die Träume frei.

Und was bedeutet mangelndes Kulturverständnis? Wir können uns bemühen, zu verstehen. Wir können uns öffnen. Aber keiner kann wohl seine eigene songline verlassen. Chatwin beschreibt, was er sieht, er beschreibt, was ist, er beschreibt, wie es bei ihm ankommt.

Natürlich bleibt der Vorwurf bestehen, er habe die geheimsten Riten benutzt, veräußert, veröffentlicht. Träume soll man nicht stehlen. Aber teilen sollte man sie dürfen.

Treibt keinen Unfug! Nicht mit der Sprache!

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BILD: ROSE BÖTTCHER

Immer, wenn wir Kinder eine halsbrecherische Aktion durchführten, ermahnte uns die Großmutter „Treibt keinen Unfug!“. Das war mitunter lästig.

Heute vermisse ich die großmütterlichen Ermahnungen. Unfug treiben – das hat trotz des gestrengen Untertones so etwas Warmes, Zärtliches, Zugewandtes. Heute rufen die Mamas am Sandkasten ihren Kevins und Jacquelines zu: „Bau keinen Scheiß, du Göre!“. Kein Vergleich.

Meine Großmutter war eine Kaltmamsell. Mit ihr starb nicht nur dieser Berufsstand, sondern auch so manches Wort. Ein Gabelfrühstück hätte es bei ihr vielleicht noch gegeben, aber niemals einen Brunch. Das waren für sie Fisimatenten.

Als echte Fischbein-Korsettträgerin mit Atombusen war sie gegen jegliches Bratkartoffelverhältnis, wilde Ehen oder ähnlichen Firlefanz. Sie hätte dazu ihren Gesichtserker gerümpft, die Betonfrisur noch weiter geglättet, die Protagonisten indigniert inspiziert und gesagt: „Macht keinen Unfug!“

Wie eine Hetäre und Haubitze wäre sie gegen alles vorgegangen, was sie nur im Geringsten hätte inkommodieren können: Vorehelicher Unfug, Larifari, Humbug, ihre heilige Wort-Trias.

Diese pfundige Matrone sonderte niemals Mumpitz ab. Mit manchem Pomadenkopf und Eintänzer lieferte sie sich wortgewaltige Scharmützel. Und wäre mein Vater kein rechter Schlingel und Schlawiner gewesen, der die Fregatte umschiffte, so hätte meine Mutter als Blaustrumpf ihr Ende gefunden. Und ich hätte diesen Text nie schreiben können, da es mich schlicht und einfach nicht gegeben hätte. Das Sieben-Monat-Kind-der-Schande-Unfug.

Wer jetzt meint, der ganze Text ist der reine Unfug, dem gebe ich gerne recht. Aber man beachte: Er ist mit Wörtern geschrieben, die sterben. Ja, es gibt sie, die vom Aussterben bedrohten Wörter, die auf der Roten Liste stehen. Jahr für Jahr begräbt der Duden weitere (zum Beispiel den Füssilier) und kein Aufschrei geht durchs Land. Auch mit Unfug wird bald Schluss sein.

Wenn da nicht dieser heroische Mann wäre: Bodo Mrozek.

Er sammelt die bedrohten Worte, hegt und pflegt sie und bewahrt sie vor dem Aussterben. Ihr Naturschutzgebiet befindet sich angemessen zwischen Buchdeckeln: „Im Lexikon der bedrohten Wörter“ und im „Lexikon der bedrohten Wörter 2“ (erschienen bei rororo). Man sollte Bodo Mrozek dafür einen Preis geben, mindestens den Bundeswortverdienstorden.

Und jeder von uns kann helfen. Mit einem Wort. Eine Wortpatenschaft übernehmen. Wer Wörter retten will, der melde bedroht erscheinende Worte an Herrn Mrozek: http://www.bedrohte-woerter.de/

Denn man kann zwar mit allem Unfug treiben, mit der Sprache jedoch bitte nicht.

Punkt, Punkt, Komma, Strich, und fertig ist das Mondgesicht…

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Semikolon, Anführungszeichen, Abführungszeichen, Apostroph…es gibt Satzzeichen, über die stolpern auch Schriftsteller. Wie beruhigend!

Avant-propos

Ich kann mein Buch doch nennen, wie ich will
Und orthographisch nach Belieben schreiben!
Wer mich nicht lesen mag, der laß es bleiben.
Ich darf den Sau, das Klops, das Krokodil
Und jeden andern Gegenstand bedichten,
Darf ich doch ungestört daheim
Auch mein Bedürfnis, wie mir’s paßt, verrichten.
Was könnte mich zu Geist und reinem Reim,
Was zu Geschmack und zu Humor verpflichten? –
Bescheidenheit? – captatio – oho!
Und wer mich haßt, – – sie mögen mich nur hassen!
Ich darf mich gründlich an den Hintern fassen
Sowie an den avant-propos.

Joachim Ringelnatz

Apropos Apostroph

„PS: Noch etwas zu „Rudi`s Resterampe“. Einmal schrieb ich in einem Text über Beck`s Bier. Prompt schrieb mir ein Leser, es müsse Becks heißen. Lieber Knabe, entgegnete ich, schau doch mal aufs Etikett. Die Brauereien werden ja wohl noch selber entscheiden dürfen, wie sie ihre Erzeugnisse schreiben. Vor kurzem schrieb ich in einem Artikel über „umkreiste A`s“. Es kam eine hässliche Beschwerde. Liebe Leute: Mich interessiert diese Mode, an Apostrophen zu mosern, überhaupt nicht. Wenn es Autoren gefällt, in den neuen Bundesländern, statt die dortigen Kunstschätze zu besichtigen, falsch geschriebene Imbissbuden zu photographieren und zu diesen Photos kleinkarierte Nörgelartikel mit rassistischer Tendenz zu verfassen, dann ist das deren Problem. Ich stehe fest zu meiner Überzeugung, dass es eine erstrangige charakterliche Widerwärtigkeit ist, sich über anderer Leute Rechtschreibfehler lustig zu machen. Erstaunlich ist, wie verbiestert gerade Leute, die sonst allen möglichen Regelwidrigkeiten oder sogar dem Anarchismus das Wort reden, sich über die paar überflüssigen Strichelchen ereifern. Ich sehe in Apostrophen, an Stellen, wo vorher noch nie Apostrophe waren, zumindest ein ersprießlicheres Erzeugnis von Volkskreativität als in Graffitigeschmiere an historischen Gebäuden. Rechtschreibung ist eine hübsche Sache für Leute, die Spaß an ihr haben. Verstöße gegen ihre Regeln, sofern sie nicht zu inhaltlichen Missverständnissen führen, sind nicht zu kommentieren.“

Max Goldt, „Ich wünschte, man büke mir einen Klöben“

 

Im Reich der Interpunktionen

Im Reich der Interpunktionen
nicht fürder goldner Friede prunkt:

Die Semikolons werden Drohnen
genannt von Beistrich und von Punkt.

Es bildet sich zur selben Stund
ein Antisemikolonbund.

Die einzigen, die stumm entweichen
(wie immer), sind die Fragezeichen.

Die Semikolons, die sehr jammern,
umstellt man mit geschwungnen Klammern

und setzt die so gefangnen Wesen
noch obendrein in Parenthesen.

Das Minuszeichen naht, und – schwapp!
da zieht es sie vom Leben ab.

Kopfschüttelnd blicken auf die Leichen
die heimgekehrten Fragezeichen.

Doch, wehe! neuer Kampf sich schürzt:
Gedankenstrich auf Komma stürzt –

und fährt ihm schneidend durch den Hals,
bis dieser gleich – und ebenfalls

(wie jener mörderisch bezweckt)
als Strichpunkt das Gefild bedeckt! …

Stumm trägt man auf den Totengarten
die Semikolons beider Arten.

Was übrig von Gedankenstrichen,
kommt schwarz und schweigsam nachgeschlichen.

Das Ausrufszeichen hält die Predigt;
das Kolon dient ihm als Adjunkt.

Dann, jeder Kommaform entledigt,
stapft heimwärts man, Strich, Punkt, Strich, Punkt …

 Christian Morgenstern