Harald Roth: Was hat der Holocaust mit mir zu tun? (2014).

„Nach meiner Auffassung stoße ich, wenn ich mich mit der traumatischen Wirkung von Auschwitz auseinandersetze, auf die Grundfragen der Lebensfähigkeit und kreativen Kraft des heutigen Menschen: das heißt, über Auschwitz nachdenkend, denke ich paradoxerweise vielleicht eher über die Zukunft nach als über die Vergangenheit.“

Imre Kertész, Rede zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur, 2002
Vorangestellt dem Buch „Was hat der Holocaust mit mir zu tun?“, Herausgeber Harald Roth

1998:
Friedenspreisrede von Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche. Ein Zitat:
„Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen die Dauerpräsentation unserer Schande wehrt.“

Weiter sträubt es sich in mir, aus dieser Rede zu zitieren – Walser verdreht gar die Formulierung von Hannah Arendt um in eine „Banalität des Guten“, diskreditiert damit sowohl den Ansatz Hannah Arendts als auch die Anstrengungen vieler, einen Teil zur  Erinnerungsarbeit beitragen zu wollen, die eine Wiederholung verhütet. Vor allem aber predigt er einer „politikfreien“ (moralfreien?) Literatur das Wort.

(Ein kluges Essay zur Walser-Rede findet sich hier: Erinnern oder Vergessen? http://www.hagalil.com/antisemitismus/deutschland/walser-1.htm)

Doch der Dichter sprach dem Volk wohl aus der Seele:
„Ferner stimmen 61 Prozent (1998: 63 Prozent) der Auffassung zu, dass 58 Jahre nach Kriegsende nicht mehr so viel über die Judenverfolgung geredet, sondern endlich ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen worden sollte.“
(Forsa-Studie)

2003:
„Jeder fünfte Deutsche ist latent antisemitisch. Dies war das erschreckende Ergebnis einer Forsa-Studie im Auftrag des stern im November 2003. Befragt wurden 1.301 Bundesbürger. Bereits 1998 wurde die Studie mit den gleichen Fragestellungen schon einmal durchgeführt, so dass sich Veränderungen über die Einstellung der Deutschen zu den Juden ablesen lassen. Demnach ist der Anteil der Deutschen mit “latent antisemitischen” Einstellungen von 20 auf 23 Prozent gestiegen. Die Befragten konnten bei ihren Antworten aus einer siebenstufigen Skala auswählen von “trifft überhaupt nicht zu” (Skalenwert 1) bis “trifft voll zu” (Skalenwert 7). Wer Skalenwerte von 5 bis 7 angekreuzt hat, wird als “latent antisemitisch” eingestuft. Auf die bewusst provokant gestellte Frage, ob viele Juden versuchten, aus der Vergangenheit des Nationalsozialismus ihren Vorteil zu ziehen und die Deutschen dafür zahlen zu lassen, antworteten sogar 36 Prozent der Befragten insgesamt mit ja (1998: 41 Prozent), 89 Prozent der Befragten mit antisemitischen Einstellungen waren dieser Meinung. Und 28 Prozent insgesamt glauben, dass Juden auf der Welt zu viel Einfluss haben (1998: 21 Prozent), 81 Prozent der Gruppe mit einer ausgeprägten antisemitischen Haltung stimmten dem zu. 1998 war der Anteil derer, die eine positive Entwicklung bei den Einstellungen gegenüber den Juden zu sehen glaubten, mit 49 Prozent deutlich größer als 2003 (36 Prozent). Heute glauben 30 Prozent, die Einstellung zu den Juden sei negativer geworden (1998: 15 Prozent) Wie aus der Studie weiter hervorgeht, meinen 16 Prozent aller Bundesbürger, die Juden hätten in der Vergangenheit nicht mehr durchgemacht als andere auch.
Quelle: http://www.lpb-bw.de/auschwitz.html

2013:
In der ARD läuft – natürlich zu später Stunde – zum 75. Gedenktag anlässlich der „Reichspogromnacht“ ein Beitrag, der die Frage stellt: „Antisemitismus heute – wie judenfeindlich ist Deutschland?“.

Zwei Seiten – Verdrängung und Wiederholung. Die Haltung, >man könne es nicht mehr hören<, und steigender Antisemitismus gehen Hand in Hand.

Es ist also nach wie vor notwendig, vielleicht sogar notwendiger denn je, die Frage zu stellen: „Was hat der Holocaust mit mir zu tun?“. Herausgeber Harald Roth hat dies seinem Sammelband als Titel vorangestellt und 37 Antworten (oder besser: Versuche von Antworten und Annäherungen an diese Frage) zusammengefasst.  Es schreiben Holocaust-Überlebende, Schriftsteller, Politiker, Historiker, Journalisten.

Auch Roth geht in seinem Vorwort auf die Walser-Rede ein. Und stellt sie dorthin, wo sie hingehört, weist sie zurück. „Empirisch wäre zu überprüfen, ob man überhaupt von einer >Dauerpräsentation unserer Schande< sprechen kann. Walser kann man zudem entgegenhalten, dass es in einer freien Gesellschaft eine mediale Selbstbestimmung gibt: Keiner muss sich das Buch kaufen, keiner muss sich die Sendung anschauen.“

Aber: „Die Kritiker, die über ein mediales Überangebot räsonieren, übersehen meist einen simplen Sachverhalt: Für die junge Generation ist es immer eine Erstbegegnung. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über Auschwitz, zum ersten Mal sehen sie einen Film über die >Weiße Rose<, zum ersten Mal besuchen sie eine KZ-Gedenkstätte.“

Am 27. Januar ist, in Erinnerung an die Befreiung von Ausschwitz durch die Rote Armee, der Gedenktag zur Erinnerung an die Opfer des Holocaust: In der Bundesrepublik erst (!) 1996 eingeführt, seit 2005 ebenfalls von den Vereinten Nationen. Roth weißt zurecht darauf hin, dass die Geste des Erinnerns emotional und moralisch gefüttert sein muss. Allerdings: „Die authentischen Stimmen der Zeitzeugen“ werden in absehbarer Zeit verstummen – sie jedoch „bilden für die Nachgeborenen eine emotionale Brücke zwischen dem Gestern und Heute.“

Und so sind die Stimmen der Zeitzeugen auch mit die eindrucksvollsten Berichte in diesem Buch:

Otto Dov Kulka, der von seiner späten Wiederkehr an den Ort berichtet, den er „Landschaften der Metropole des Todes“ nennt – dieses Buch ist hier besprochen: http://saetzeundschaetze.com/2013/11/10/otto-dov-kulka-aharon-appelfeld-ringen-um-die-sprache-ringen-um-die-erinnerung/

Inge Deutschkron, die von der „Schuld der Überlebenden“ spricht und der „Pflicht, die mir meine Schuld auferlegte: Ich musste es niederschreiben Die Wahrheit, die lückenlose Wahrheit, präzise und emotionslos, so wie ich es mit eigenen Augen gesehen hatte. (…) Ich aber war wie besessen von der Idee, dass Vergleichbares nie wieder geschehen dürfe.“

Max Mannheimer, der die Lager überlebt hat, der sich niederließ im Land der Täter und auch im hohen Alter noch über das Studienzentrum in Dachau den Kontakt zu jungen Menschen sucht, um aufzuklären. Er schreibt: „Trotz der bitteren Erkenntnis, wozu Menschen fähig sind, wollte ich nicht, dass der Holocaust mich davon abhielt, an das Gute zu glauben, an die Hoffnung, an das Leben.“  Er appelliert an die Jugend: „Vergesst nicht, was geschehen ist, und entwickelt daraus Maßstäbe für euer eigenes Handeln.“

Edward Kossoy, der als Anwalt das unwürdige Feilschen um die Wiedergutmachungsleistungen erlebte: „Immer blieb es bei 150 Mark.“

Aber auch die Stimmen aus anderen Generationen (das merkwürdige Kanzlerwort von der „Gnade der späten Geburt“) kommen zu Wort – Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die eindringlich nahebringt, was es heißt, auf der Flucht und im Exil zu sein. Lena Gorelik, deren Fragen darum kreisen, warum das Jüdischsein in Deutschland keine Selbstverständlichkeit ist, sondern immer und stets mit Klärungsbedarf (Erklärungsnot?) verbunden ist. Martina Salzmann erzählt von ihrer „Muttersprache Mameloschn“.

Viele Beiträge kreisen um die Fragen, wie es möglich war, einen Massenmord in Gang zu setzen, wie es möglich war, mitzumachen und wegzusehen, warum die Ausgrenzung und systematische Ermordung einiger Bevölkerungsgruppen in einer scheinbar zivilisierten Gesellschaft stattfinden konnte. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Seibel: „Was Hannah Arendt am Beispiel Adolf Eichmanns deutlich zu machen versuchte, war dies: Gerade dadurch, dass man kein Monster sein musste, um an der Judenverfolgung mitzuwirken, konnte sich, was als Stigmatisierung und Diskriminierung begann, in ein monströses Massenverbrechen steigern. (…) Wenn man sich an den Gedanken gewöhnt, dass sich Massenverbrechen nicht als solche ankündigen, sondern erst durch die Mitwirkung normaler Menschen mit banalen Motiven zu Massenverbrechen werden, versteht man besser, wie sie entfesselt werden und was ihre Vernichtungsdynamik tatsächlich ausmacht.“

Mit diesem Rückgriff auf die „Banalität des Bösen“ beantwortet sich auch die Frage: „Was hat der Holocaust mit mir zu tun?“. Harald Roth will mit seinem Buch junge Menschen erreichen – die Beiträge, die von Augenzeugenberichten über Portraits bis hin zu Fachbeiträgen über einzelne Aspekte (Euthanasie, Wiedergutmachung, Umgang mit Erinnerungsorten, Friedensarbeit) reichen, eignen sich gut als Einstieg und Diskussionsgrundlage. Zu hoffen ist, dass es auch jene erreicht, die die Haltung übernommen haben, „es sei jetzt genug“.

Denn:
„Das Höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen, was sich daraus – für heute – ergibt.“
Hannah Arendt

Zum Herausgeber: Harald Roth, geboren 1950 in Böblingen, unterrichtete bis 2012 an einer Realschule Deutsch, Geschichte und Politische Bildung. Er veröffentlichte Anthologien und didaktische Materialien zur NS-Zeit u.a. eine Auswahl für junge Leser aus Victor Klemperers Tagebuch 1933-45. Roth ist Mitinitiator der KZ-Gedenkstätte Hailfingen/Tailfingen und lebt in Herrenberg.

Zum  Buch: http://www.randomhouse.de/Paperback/Was-hat-der-Holocaust-mit-mir-zu-tun-37-Antworten/Harald-Roth/e419453.rhd?mid=1

Robert Domes: Nebel im August (2008).

„Er schließt die Augen und versucht, sein aufgeregtes Herz zu beruhigen. Die Stimme seiner Mutter klingt aus einer fernen Zeit zu ihm her. Nach Sonnenuntergang beginnt die Stunde der Engel, hat sie immer gesagt. Er stellt sich vor, ein Engel geht durch die Station, vorbei an den Krüppeln und Idioten, an den Gelähmten und Blinden, an den Schreienden, die man ans Bett gebunden hat, und den Stillen, die nur vor sich hin sabbern. Der Engel geht vorbei und alle werden ganz friedlich. Am Ende kommt er auch zu Ernst, berührt ihn mit seinem Flügel an der Schulter und zwinkert ihm zu.“

Robert Domes, „Nebel im August“. Die Lebensgeschichte von Ernst Lossa. Verlag cbt, ab 13 Jahren, Taschenbuch, 352 Seiten, ISBN: 978-3-570-30475-4

lossaIm Januar 1934, vor 80 Jahren, trat das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft. Damit gaben sich die Nationalsozialisten den scheinbar gesetzlichen Rahmen für alle Maßnahmen im Rahmen der Euthanasie-Aktionen. Letztendlich verstand sich darunter nichts anderes als der Massenmord an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen, die massenhafte Zwangsterilisation und die Beseitigung von Menschen, die nicht in das System passten. Menschen, deren Dasein als „lebensunwertes Leben“ bezeichnet wurde - ein Begriff, der bereits 1920 geprägt worden war. Die kursierenden und zum Teil absurden pseudowissenschaftlichen Thesen zur Volksgesundheit, der Begriff von einem gesunden „Volkskörper“ – der gedankliche Boden war bereits schon bereitet, damit Ärzte und Pfleger ohne moralische Bedenken von Heilern zu Mördern werden konnten. Im Nationalsozialismus wurde, was bereits gedacht war, getan und auf eine perverse Spitze getrieben.

Ein schwieriges Thema für ein Jugendbuch – doch der Autor Robert Domes hat daraus ein sehr berührendes Buch gemacht, in dem er behutsam und mit viel Einfühlungsvermögen den Schicksalsweg eines Jugendlichen nachzeichnet, der der Euthanasie zum Opfer fiel. Es ist ein Buch, das jungen Leuten die Augen öffnen kann – darüber, was es heißt, andere auszugrenzen, Vorurteile zu hegen, aber auch darüber, dass jeder Zivilcourage zeigen kann: So wie es Ernst Lossa tat.

Domes zeigt in seinem berührenden Jugendbuch „Nebel im August“ an einem wahren Schicksal die Geschehnisse in einer Heil- und Pflegeanstalt auf. Nicht ohne Grund wurde das Buch ausgezeichnet mit dem “Marion-Samuel-Preis” der Stiftung Erinnern, mit dem “Bronzenen Lufti”, dem Literaturpreis der Jugendbuch-Jury der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft und mit der Verdienstmedaille des Jenischen Bundes.

Ernst Lossa stammt aus einer Landfahrerfamilie, sie sind Jenische, ziehen mit ihren Waren durch ganz Süddeutschland. Im Nationalsozialismus sieht sich die Familie immer häufiger Übergriffen und Verfolgung ausgesetzt. Als die Mutter stirbt und der Vater in ein Konzentrationslager deportiert wird, kommt Ernst in ein Waisenhaus. Als „Zigeuner“ abgestempelt, flüchtet sich der Junge in der Strenge der Institution in eine Traumwelt, lernt zu lügen und zu stehlen. 1940 wird der Zehnjährige in ein NS-Erziehungsheim überstellt, auch dort fällt er auf, statt Hilfe und Verständnis erhält das Kind die Diagnose „angeborene Stehlsucht“. Damit ist der Weg in den Untergang vorgezeichnet: Als diagnostizierter “asozialer Psychopath“ gilt er als nicht heilbar, ist „lebensunwert“.

Zitat von der Internetseite des Autors:

„Am 20. April 1942 – ausgerechnet am “Führergeburtstag” – wird Ernst in eine Heilanstalt eingewiesen. Der Junge, der weder behindert noch geisteskrank ist, findet unter den Verrückten, Gelähmten und Anfallskranken das, was er lange vermisst hat: Eine Familie. Ernst erlebt Geborgenheit, Freundschaft und verliebt sich über beide Ohren in eine Mitpatientin. Doch bald entdeckt Ernst, dass hinter der Fassade der Heilanstalt unheimliche Dinge geschehen. Patienten werden fortgebracht, ausgehungert oder sterben aus mysteriösen Gründen. Ernst versucht, das unmenschliche System zu unterwandern, schlitzohrig, mutig und mit großem Herzen. Und weiterhin träumt er von der Freiheit und dem Leben im Planwagen. Dabei ahnt der 14-Jährige nicht, wie sehr er selbst in Lebensgefahr schwebt. Im Sommer 1944, als den Deutschen dämmert, dass der Krieg verloren ist, bekommen die Todespfleger die Weisung: Ernst Lossa muss beseitigt werden.“

Robert Domes hat mit „Nebel im August“ Ernst Lossa, dessen Kindergesicht uns von der Titelseite her so ernst anblickt, dem Vergessen entrissen. Dafür hat der Autor akribisch in den Unterlagen und Akten der Allgäuer Anstalt, in der Ernst Lossa die letzte Zeit seines Lebens verbrachte, recherchiert. Die anrührende Lebensgeschichte dieses Jungen, dessen einziger „Fehler“ (in den Augen der Mörder) es war, unangepasst zu sein, eignet sich gut als Lektüre mit Jugendlichen in diesem Alter. Zum Buch gibt es Unterrichtsmaterial für Lehrer und Schüler.

Wer in das Thema „Euthanasie im Nationalsozialismus“ einsteigen möchte, findet dazu einen lesenswerten Aufsatz von Gerrit Hohendorf, Psychiater und Medizinhistoriker, in dem eben erst erschienen Taschenbuch, „Was hat der Holocaust mit mir zu tun? 37 Antworten“, Herausgeber Harald Roth, Pantheon Verlag, 304 Seiten, ISBN: 978-3570552032. Der Sammelband, für den Überlebende des Holocaust, Politiker, Schriftsteller und Fachleute verschiedener Gebiete Essays geschrieben haben, wendet sich an Jugendliche und Erwachsene, will bewusst einladen, das Thema und die im Buch aufgeworfenen Fragen zum Nationalsozialismus zu diskutieren.

Zitat aus dem Aufsatz von Gerrit Hohendorf:

„Doch die beunruhigende Frage bleibt: Warum haben Ärzte, die doch heilen sollen, beim Töten von kranken Menschen und Menschen mit Behinderungen mitgemacht? Weder Gesetz noch Befehl oder Terror haben sie dazu gezwungen. Viele waren überzeugt, an einem großen „Erlösungswerk“ mitzuwirken. (…) Die grausame Realität der Krankenmorde im Nationalsozialismus lässt uns ratlos zurück. Doch bleiben zwei Gedanken, die zur Vorsicht mahnen.
Wenn Ärzte und Bürokraten des Gesundheitswesens meinen, über den Wert menschlichen Lebens entscheiden zu können, so maßen sie sich ein Urteil an, das unheilvolle Konsequenzen nach sich ziehen kann. (…)
Und: Es gibt kein gutes ärztliches Töten – auch dann nicht, wenn man meint, aus Mitleid oder aus dem Gedanken der Erlösung heraus zu handeln.“

Link zur Internetseite des Autoren Robert Domes:
http://www.robertdomes.com/nebel-im-august.html

Link zur Verlagsseite „Nebel im August“:
http://www.randomhouse.de/Taschenbuch/Nebel-im-August-Die-Lebensgeschichte-des-Ernst-Lossa/Robert-Domes/e261951.rhd?edi=261951

Link zur Verlagsseite „Was hat der Holocaust mit mir zu tun?“:
http://www.randomhouse.de/Paperback/Was-hat-der-Holocaust-mit-mir-zu-tun-37-Antworten/Harald-Roth/e419453.rhd?mid=1

Judith Schalansky: Taschenatlas der abgelegenen Inseln (2011).

19012-Schalansky-Taschenatlas Inseln.indd“Dieser Atlas ist somit vor allem ein poetisches Projekt. Wenn der Globus rundherum bereisbar ist, besteht die eigentliche Herausforderung darin, zu Hause zu bleiben, und die Welt von dort aus zu entdecken.”

Judith Schalansky im Vorwort zum “Taschenatlas der Abgelegenen Inseln”. Das Buch gibt es inzwischen auch als Taschenbuchausgabe -  ein schönes Weihnachtsgeschenk für von Fernweh Geplagte…
Judith Schalansky, “Taschenatlas der Abgelegenen Inseln”, S. Fischer Verlag, Preis € (D) 14,99 | € (A) 15,50 | SFR 21,90, ISBN: 978-3-596-19012-6

Wie schön, dass uns Judith Schalansky an ihren Entdeckungsreisen - seien es zu Inseln rund um den Globus oder auch zur heimischen Flora und Fauna - immer wieder teilhaben lässt. Vor der Fahrt zu den abgelegenen Inseln muss man jedoch gewappnet sein. Es erwartet uns kein Tripp auf die Malediven mit Vollpension, weißem Muschelstrand, dezenter Musik und immer während blauem Himmel. “Das Paradies ist eine Insel. Die Hölle auch.”

Und auf den meisten Inseln, die Judith Schalansky vorstellt, geht es eben mehr oder weniger höllisch, selten jedoch himmlisch zu: Kaum auszuhalten auf dem Eiland “Einsamkeit” im Nordpolarmeer, Iwojima, gezeichnet von den Spuren des Krieges und bekannt aus Clint Eastwoods gleichnamigen Film. Oder St. Helena - muss man nicht mehr viel zu sagen. Napoleon war es dort furchtbar öde.

Verschwundene Seefahrer, abgestürzte Pilotinnen, abgesetzte Diktatoren: Inselgeschichten wimmeln vor Tragik. Judith Schalansky hat zu jedem Eiland ein wunderbares Portrait geschrieben: Kurz, knapp, präzise, pointiert. So schön lesbar und unterhaltsam, dass man eigentlich gottfroh ist, diese Inselgeschichten in aller Sicherheit zuhause lesen zu können, ohne auf große Abenteuerfahrt zu müssen. Jahrelang hat die Autorin dafür in Bibliotheken und Archiven recherchiert, Karten und Begleitmaterial studiert - dafür gebührt ihr eigentlich auch Dank von jedem Reiseveranstalter: Ein Atlas an Orte, an die man niemand leichtfertig hinsenden sollte.

Trotzdem ruft der Begriff “Insel” bei vielen Menschen zunächst Sehnsüchte wach, ruft Bilder von Blumenkränzen und Hulahoop-Reifen hervor. Bestes Beispiel: Meine Buchhändlerin. Beim Abkassieren verlor sie mit dem Blick auf das Buch minutenlang jede Aufmerksamkeit. Raffinierterweise ist die Taschenbuchausgabe auch aufgemacht wie ein kleiner Langenscheidt. “Ach, Inseln, Urlaub! Wo steht das Buch?” - “Ja, hier bei Ihnen - hinten in der Ecke für besondere Bücher!” - “Ich muss mal wieder weg, das hole ich mir.” - “Ähmm, das ist kein Reisebuch…”. War ihr nicht zu vermitteln, dass das zwar ein tolles Buch ist, aber die Reiseziele nicht zu empfehlen sind - das Wort Insel überdeckte alles.

Jedenfalls - der Taschenatlas ist ein schöner Leseausflug. So oder so. Und das muss man auch mal schaffen: Mit zwei Büchern in enger Zeitfolge von der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet zu werden. Judith Schalansky ist es gelungen - mit ihrem Atlas der abgelegenen Inseln, zunächst erschienen bei mare. Das Buch gibt es nun auch als Taschenatlas beim Fischer Verlag. Und natürlich mit “Hals der Giraffe” (Link zur Besprechung) bei Suhrkamp. Beides wunderschöne Bücher, habtisch, optisch, inhaltlich - Judtih Schalansky schreibt einen blendenden Stil, hat einen Sinn für das Skurrile und viel trockenen Humor. Schalansky, die Kunstgeschichte studiert hat, widmete sich zunächst dem Buchdesign - was ein Glück, möchte man sagen, dass sie auch selber schreibt. Eine, die beides kann - eine Wortbildkünstlerin.

Und weil es jahreszeitlich so gut passt, hier ein kurzer Ausflug zur Weihnachtsinsel:
“Die Regenzeit lockt sie aus ihren Höhlen. Jedes Jahr im November machen sich 120 Millionen geschlechtsreife Krabben auf den Weg zur See. Ein roter Teppich breitet sich über die Insel aus. Mit Tausenden von Schritten krabbeln sie über Asphalt und Türschwellen, klettern über Mauern und Felswände, schieben ihre feurigen Panzer auf zwei starken Scheren und acht dünnen Beinen seitwärts zur See und werfen kurz vor Neumond ihre schwarzen Eier in die Brandung. Nicht alle kommen ans Ziel. Ihr Feind lauert überall: Woher er kommt, weiß niemand genau. Irgendwann war die Gelbe Spinnerameise da, von Besuchern eingeschleppt. Die Invasoren sind nur vier Millimeter groß, aber ihre Armee ist vernichtend. (…) Auf der Weihnachtsinsel herrscht Krieg.

Nigel Barley: Traumatische Tropen (1985).

„In den Zeiten, als man noch fraglos von der Überlegenheit der westlichen Kultur überzeugt war, war es für jedermann unmittelbar klar, dass Afrikaner die meisten Dinge falsch sahen und überhaupt nicht sonderlich helle waren. (…) Der Primitive wird heute von Leuten im Westen ganz genauso wie vormals von Rousseau oder Montaigne benutzt, um die eigene Gesellschaft zu kritisieren und bestimme Aspekte in ihr anzuprangern, die das Missfallen der Kritiker erregen.“
Nigel Barley, „Traumatische Tropen – Notizen aus meiner Lehmhütte“, dtv Verlag.

Der britische Ethnologie Nigel Barley räumt in diesem äußert amüsant zu lesenden Taschenbuch gründlich auf: Er zieht gegen die Ethnologen und deren Vorstellungen und Annährungen an „das Fremde“ ebenso ins Feld wie gegen die üblichen Vorstellungen von Feldforschungen und anderen Klischees.

Barley, der am British Museum arbeitet, ist ein Meister des ironischen Wortes und der Selbstironie: „Ethnologen hingegen haben hinduistischen Heiligen zu Füßen gesessen, haben fremdartige Götter geschaut und schweinischen Ritualen beigewohnt, sind an Orten gewesen, wo noch nie jemand vor ihnen war. Sie sind vom Ruch der Heiligkeit und himmlischen Nutzlosigkeit umwittert. Sie sind Heilige des britischen Kults um einer ihrer selbst willen gepflegten Exzentrizität. Die Chance, mich ihnen beizugesellen, war nichts, was ich leichten Herzens ausschlagen konnte.“ Und: „Nicht an Daten fehlt es der Ethnologie, sondern an der Fähigkeit, etwas Sinnvolles mit den Daten anzufangen.“

Selbstverständlich, dass der junge Brite dies nach seinem ersten eigenen Feldforschungs-Aufenthalt gründlich ändern wird. Selbstverständlich, dass er die Zunft, geprägt von Bronislaw Malinowski und Claude Lévi-Strauss, mit seinen Erkenntnissen revolutionieren wird. Meint er, bevor er zunächst in die Mühlen gerät - die des Klinkenputzens, um Forschungsgelder zu gewinnen, und dann der Bürokratie, um Anfang der 80er Jahre eine Aufenthaltsgenehmigung für den Kamerun zu erhalten.

Letztendlich ist es aber die Begegnung mit dem Volk der Dowayo, das Barley zu erforschen gedenkt, die den Wissenschaftler selbst verändern. In Zentralafrika kommt er auf den Boden der Praxis. Krankheiten, Versorgungsnotstände, Unbequemlichkeiten, Unfälle – das sind die Alltagsbegleiter des wackeren Forschers. Und die Rollen tauschen sich – nicht er untersucht das Fremde, er wird zum Fremden. Amüsant zu lesen ist es, wie die Dowayos mit leicht amüsiertem Kopfschütteln die Fragerei des Weißen zur Kenntnis nehmen. Fragt sie Barley etwa hinsichtlich einer mythischen Handlung, warum sie das tun, antworten sie: “Weil es gut ist.” Ein weiteres “Warum?” wird ebenso überzeugt beantwortet: “Weil unsere Väter es uns gesagt haben.” Es braucht nur noch eine weitere Nachfrage, um den Kreis zu schließen: “Warum taten es eure Väter?” “Weil es gut ist.”

„Traumatische Tropen“ ist zugleich informativ, humorvoll und äußerst leicht lesbar – ein Brückenschlag, wie er in einem Sachbuch selten gelingt. Barley schreibt ganz im Sinne von Nietzsches „fröhlicher Wissenschaft“.

Kurzinfo:
Nigel Barley studierte moderne Sprachen und Ethnologie in Cambridge und Oxford und betrieb zwei Jahre lang Feldforschung in Kamerun. Seit 1981 arbeitet er als Kustos am British Museum in London. Weitere Bücher: ›Die Raupenplage‹ (1989, dtv 12518), ›Traurige Insulaner‹ (1993, dtv 12664), ›Hallo Mister Puttymann‹ (1994, dtv 12580), ›Der Löwe aus Singapur‹ (1996) und ›Tanz ums Grab‹ (1998).

1996 veröffentlichte die Zeit dieses Portrait vom „Ethnologen in der Großstadt“:
http://www.zeit.de/1996/35/barley.txt.19960823.xml