Theodor Storm: Immensee (1849).

- Ein Gastbeitrag von Klaus Krolzig -

An einem regnerischen und nebelverhangenen Tag, wie es in diesem Winter bereits viele gegeben hat, greife ich gerne mal wieder nach einem guten Buch. Und wenn es dann noch ein Klassiker im antiquarischen Gewand ist, fühle ich mich so richtig in meinem Element. Eine über hundertjährige Buchtradition weht mir beim Aufschlagen des bibliophilen Bandes entgegen und alle Sinne sind wie betäubt. Es riecht nach Buchdruckerschwärze, die Fingerkuppen gleiten über ein Relief von Buchstaben, die sich tief in die Seiten geprägt haben. Schon der Einband ist ein Kunstwerk für sich und zeugt von einer vergangenen Buchdruckkunst.

Der erste von acht Bänden aus dem Jahre 1905 enthält Erzählungen von 1849 bis 1854. Er beginnt mit “Immensee”, einer der bekanntesten Novellen von Theodor Storm (1817-1888), die erstmals 1849 publiziert wurde. Sie handelt von einer unglücklichen Jugendliebe und wird eingerahmt von der Schilderung der abendlichen Heimkehr des alten und offenbar alleinstehenden Philologen Reinhard Werner in sein zur Untermiete bewohntes Zimmer. Unser Blick wird auf Bücherschränke und einen schwerfälligen Lehnstuhl gelenkt, der vor einem Tisch mit einigen aufgeschlagenen Büchern den Mittelpunkt des gemütlich eingerichteten Zimmers bildet. Dort nimmt der alte Mann Platz. Sein Blick fällt auf das Bild einer jungen Frau, und mit dem Ausruf “Elisabeth” wird der Leser in alte Kindheits- und Jugenderinnerungen mitgenommen. Die weitere Geschichte, die sich auf nicht einmal 40 Seiten entfaltet, ist schnell erzählt. Reinhard verliebt sich in Elisabeth, die er von früher Kindheit an kennt. Die Umstände aber – Reinhard entstammt ärmlichen Verhältnissen – verhindern eine Freundschaft. Eine spätere, heimliche Begegnung mit der verheirateten Elisabeth endet mit einem schmerzhaften und endgültigen Abschied. Reinhards Liebe zu Elisabeth ist von romantisch-tragischer Art, die ihn sein ganzes Leben nicht mehr loslässt.

Für Reinhard sind es die Bücher, die seinem Leben Halt und Trost geben. Schon in seiner Studienzeit waren ihm Literatur, alte Bücher und Schriften überaus wichtig. Er schreibt Märchen und Gedichte, die er in einem eigenen Buch sammelt und Elisabeth vorliest. Am Ende der Novelle befinden wir uns wieder in der Rahmenerzählung. Es ist dunkel geworden in dem Zimmer, nur eine Kerze erleuchtet schemenhaft den Raum. Die Novelle schließt mit dem nüchternen Satz: “Dann rückte er den Stuhl zum Tische, nahm eines der aufgeschlagenen Bücher und vertiefte sich in Studien, an denen er einst die Kraft seiner Jugend geübt hatte.” Reinhard hat sein inneres Gleichgewicht wiedergefunden und es gelingt ihm, seine Enttäuschungen mit der Lektüre alter Schriften zu kompensieren.

Sollte ich mich jemals in einer ähnlichen Situation wiederfinden müssen (Gott bewahre), ich wüsste ebenfalls, wo ich meinen Trost suchen und finden würde. Zum Beispiel in so einer Augenweide und so einem eleganten Handschmeichler wie dieser Storm-Ausgabe.

Ergänzungen:
Hier findet sich der Novellentext im Projekt Gutenberg:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/immensee-3486/1

Eine Interpretation von Immensee:
http://www.literaturwissenschaft-online.uni-kiel.de/veranstaltungen/vorlesungen/Novellistisches%20Erz%C3%A4hlen/08_Protokoll.pdf

Siegfried Lenz: Schweigeminute (2008).

Bild: Iris Jahnke

„Bevor sie ausstieg, küsste sie mich noch einmal, und vor der Haustür winkte sie mir zu, nicht flüchtig, nicht beiläufig, sondern langsam und so, als sollte ich mich abfinden mit dieser Trennung. Vielleicht wollte sie mich auch trösten. Damals dachte ich zum ersten Mal daran, mit Stella zu leben. Es war ein jäher, ein tollkühner Gedanke, und heute weiß ich, es war ein in mancher Hinsicht unangemessener Gedanke, der nur entstehen konnte aus der Befürchtung, dass das, was mich mit Stella verband, ein Ende haben könnte. Wie selbstverständlich diese Sehnsucht nach Dauer aufkommt.“

Siegfried Lenz (1926-2014), „Schweigeminute“, 2008, Hoffmann und Campe Verlag.

„Wie selbstverständlich diese Sehnsucht nach Dauer aufkommt“: Es sind solche beinahe lakonischen Sätze, die wie hingeworfenen wirken, die Siegfried Lenz zu einem ganz großen Erzähler machten. Es ist diese Kunst des ökonomischen Einsatzes von Sprache, die nicht nur „Schweigeminute“, sondern das ganze umfangreiche Erzählwerk, das dieser Schriftsteller hinterließ, prägt. In einem Satz die ganze Sehnsucht Liebender eingefangen, in einem Absatz die ganze Erzählung gebündelt: Von der Unmöglichkeit einer Liebe, vom Verlassenwerden, vom Überwindenwollen dessen, was trennt. Anfang und vorgezeichnetes Ende einer Liebe und die in ihr liegenden Schwierigkeiten so nebenbei und unaufdringlich in einem Absatz eingefangen – das ist die leise Erzählkunst von Siegfried Lenz gewesen.

„Wie selbstverständlich diese Sehnsucht nach Dauer aufkommt“: Vielleicht auch ein Schlüsselsatz für die Entstehungsgeschichte dieser Erzählung, die, knapp 130 Seiten lang, ganz ruhig und unaufgeregt in Lenzscher Manier daherkommt und dennoch eine Wucht entfaltet wie die Brandung im Sturm. „Schweigeminute“ erschien 2008, zwei Jahre nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Liselotte. Als Liselotte nach 57 Ehejahren starb, stürzt Siegfried Lenz in eine Lebens- und Schreibkrise. Ulrich Greiner erzählte er in der „Zeit“ (Interview vom 14. Mai 2008):

„Meine Frau hat noch die ersten dreißig, vierzig Seiten der Schweigeminute gehört. Wir haben es immer so gehalten, dass ich ihr vorgelesen habe. Sie war sehr einverstanden damit. Dann starb sie. Ich habe später zweimal versucht, die Geschichte wiederaufzunehmen. Ich hatte den Eindruck, dass es katastrophal missglückte. Es ging so weit, dass ich glaubte, die Imagination habe mich verlassen. Aber dann, mit der Zeit, hat es sich wieder geregelt. Eine Freundin hat mir unendlich viel geholfen. So ist es doch geglückt. Ich möchte sagen, dieses Buch war meine Selbstrettung. Und jetzt höre ich von einem Pädagogen, dass er schon im nächsten Jahr dieses Buch als Abiturprüfungsbuch verwenden möchte.“

Gewidmet ist das Buch jener Freundin und Nachbarin, Ulla, die Lenz aus der Krise half und die er 2010 heiratete. So markierte „Schweigeminute“ im Leben des Schriftstellers ein Abschiednehmen und einen Neubeginn zugleich. Und einen Höhepunkt im literarischen Schaffen: 80 Jahre alt wurde Lenz, bis er erstmals eine reine Liebesgeschichte schrieb – eine Erzählung, über die sich Marcel Reich-Ranicki in der FAZ 2008 so äußerte:

„Stella, die Ältere, die über mehr Erfahrungen verfügt, sieht alles skeptischer. Um aber Christian ihr Einverständnis zu erkennen zu geben, sagt sie ihm: „Du musst dir nun überlegen, was besser ist für uns … Es kann nicht so sein wie früher.“ Was immer sie im Sinne haben – sie sind zart zueinander, so zart, wie der Autor dieser Liebesgeschichte zu seinen Geschöpfen ist. Wir haben meinem Freund Siegfried Lenz für ein poetisches Buch zu danken. Vielleicht ist es sein schönstes.“

Ein poetisches Buch, wie wahr: Da ist Christian, der 18jährige, der sich in seine nur wenige Jahre ältere Englischlehrerin Stella verliebt. Sie tanzen nur einen Sommer lang – eine Liebe, die unmöglich scheint, an den gesellschaftlichen Konventionen zu scheitern drohte, wäre ihr nicht ein ganz anderes Ende vorgegeben. Stella verunglückt tödlich auf einem Schiff, „Polarstern“ ausgerechnet dessen Name. Denn in gewisser Weise ist die Ältere für Christian ein Leitstern, ein Fixpunkt. Viel ist von englischer Literatur die Rede, verknüpft mit Politik, gelesen wird Orwells „Farm der Tiere“. So erzählt Lenz im hohen Alter nicht nur von der ersten Liebe, die meist so prägend ist, sondern insgesamt von der Entwicklung der Persönlichkeit eines jungen Mannes. Dazu nochmals aus dem Zeit-Interview:

„Die Wahl fiel deshalb auf den jungen Mann – auch in anderen Büchern, der Deutschstunde zum Beispiel –, weil das Erzählen für mich gleichbedeutend damit ist, leben zu lernen. Mir klar zu werden über dieses unglaubliche Dickicht des Lebens. Erzählen ist eine Selbstbefreiung. Erzähl es, damit du es besser verstehst! Darum delegiere ich den Impuls des Erzählens an einen jungen Menschen, der im Prozess des Erzählens zu sich selbst kommt und zu leben lernt.“

Christian, der bei der Trauerfeier für die Schüler sprechen soll, verweigert sich dem: Zu nahe stand ihm die Verunglückte, zu tiefe Wunden riss ihr Tod. Doch er lernt danach, schreibend das Schweigen zu brechen, mit dem Verlust umzugehen – so wie für Lenz die „Schweigeminute“ eben selbst auch eine Unterbrechung des Erzählens geworden war, ein Weg von der Stille der Trauer zur Wiederaufnahme des Lebens, des Schreibens. Ein Buch, ein Mann, der Hesses „Stufen“ geradezu verkörpert. Dem jeden Anfang liegt ein Zauber inne.

Unweigerlich frägt man sich, wie diese Liebe hätte weitergehen können, ob die Liebe ein genügend starker Damm gegen die Wellen der Empörung gewesen wäre, wie sie miteinander hätten leben, lieben, lachen können. Ob das Ungleichgewicht – Stella vor allem, selbst überrascht von ihrer Zuneigung zu dem Schüler, ringt um ihre Autorität als Lehrerin, gibt sich in der Schule distanziert -, die Differenz der Jahre hätten überwunden werden können. Man wird es nicht erfahren. Und doch verflucht man beim Lesen die Urgewalten des Meeres, betrauert man den Tod – so sehr wünschte man sich auch, dass Christian und sein Stern, seine Meerjungfrau von der Vogelinsel beieinander hätten bleiben können. Die Liebe, sie endet dennoch nie.

So schmal das Buch, so dicht gewebt die Motive. Heinrich Detering in der FAZ am 21. Juni 2008:

Nicht um Wildnis und Zivilisation geht es hier, sondern bloß um Hafen und Vogelinsel, um das Steinriff in der Wassertiefe, um Windstille und Sturmböen am Badestrand; nicht um die Liebe als Feuersbrunst, sondern bloß um den kleinen Brandfleck auf dem Bettlaken. Der einfache Umstand, dass der Vater des Erzählers als „Steinfischer“ Felsbrocken aus den Fahrrinnen heraufholt und Molen aufschüttet, macht auf die lässigste Weise so Hemingwaysche Sätze möglich wie die Erläuterung gegenüber einem schottischen Besucher: „We are only fishing for stones.“

Die Kuhle im Kopfkissen – das ist das äußerste, was Lenz an den körperlichen Spielformen der Liebe beschreibt. Das mag, wo nichts mehr als unbeschreibbar erscheint, wo Seelen- und Körperstriptease zum täglichen medialen Programm gehört, mit dem wir konfrontiert werden, altmodisch erscheinen. Und dennoch liegt in dieser Kuhle gerade die tiefste Zärtlichkeit, die ein Schriftsteller seinen Figuren widmen kann. Es ist, als rieche man noch den Duft der Liebenden im Kissen.

Noch einmal Heinrich Detering zur Erzählkunst des Siegfried Lenz:

„Die Romane, die Siegfried Lenz seit der „Deutschstunde“ veröffentlichte, haben ihrem Autor bis heute eine zweischneidige Popularität eingebracht. Der Rückzug in zeitferne Gegenwelten und eine Neigung zum Bedächtigen, wenn nicht Betulichen, die manche Leser entzückten, haben die Literaturkritik oft auf skeptische Distanz gehen lassen; eher höflichen Respekt als Neigung hat sie diesem Schriftsteller seither weithin entgegengebracht. Gegen diese wohlwollende Unterschätzung ist beharrlich daran zu erinnern, dass Lenz in seinen kurzen Erzählungen die amerikanische short story so stilsicher adaptiert und mit einer genuin deutschen Novellentradition zusammengeführt hat wie kein zweiter Autor seiner Generation, vom Frühwerk bis in Erzählungen wie „Ein Kriegsende“ von 1984.

Wer immer schon der Ansicht war, dass Lenz’ eigentliche Stärke in diesen Erzählungen kurzen und mittleren Umfangs liege, kann sich durch diese Novelle bestätigt finden. Meisterhaft ist sie in einem ganz handwerklichen Sinne. Und ebendeshalb erreicht sie so sicher jenen Punkt, an dem die stupende Präzision der pièce bien faite umschlagen kann in die Magie des Geschichtenerzählens. Altmodisch? Modern? Die alten Streitvokabeln der Lenz-Liebhaber und -Kritiker verblassen vor dieser souveränen Lakonie. Darin liegt das eigentlich Wunderbare dieses Buches: Es ist eine einfache Geschichte.“

Siegfried Lenz, der am 7. Oktober verstorben ist, hinterließ mit „Schweigeminute“ nicht nur eine wunderbar einfache Geschichte, sondern tatsächlich, wie Marcel Reich-Ranicki schrieb, sein poetischstes Werk. Man darf dankbar sein, dass er letzten Endes nach so langem Schweigen auch von der Liebe erzählt hat.

Reto Hänny: Blooms Schatten (2014).

Alleswahr (3)„danach – war`s anders zu erwarten – der natürlich noch wach Liegenden (einladend vor ihm geöffnet, halb auf der Seite jetzt, der linken, die linke Hand unter dem Kopf, das rechte Bein gestreckt auf dem angewinkelten linken ruhend, erfüllt, entspannt, von Samen strotzend voll), beim Rapport ihr den Ritus des Onan und andere ihm unangenehme Vorkommnisse geflissentlich unterschlagend, vom Frühstück am Morgen über die Beerdigung bis zu seinem jetzigen Bei-ihr-Liegen in großen Zügen fein säuberlich den verflossenen Tag rekapituliert,“

Reto Hänny, „Blooms Schatten“, 2014, Matthes & Seitz Berlin

1 Buchseite nimmt dieser Absatz im Literaturexperiment des Schweizer Schriftsteller Reto Hänny ein – allein der Akt des Zu-Bettgehens eines gewissen Leopold Bloom erstreckt sich in der berühmten Vorlage über zahlreiche Absätze, eingeleitet durch Fragen, die jeden Gedanken des Bloom, insbesondere über den Liebhaber seiner Molly, festzuhalten versuchen.
Man schlage selber den „Ulysses“ nach, um zu lesen, wie sich bei James Joyce der Bloom im Bett erstreckt. Hier einige Beispiele, stark reduziert:

„Was für Gedanken hegte er bezüglich des letzten Gliedes dieser Reihe und kürzlichen Inhaber des Bettes? (…)
Warum gesellte sich für den Beobachter Erregbarkeit zu Kraft, Körperproportion und kaufmännischer Fähigkeit? (…)
Mit welchen widerstreitenden Gefühlen waren seine nachfolgenden Überlegungen besetzt? Mit Neid, Eifersucht, Entsagung, Gleichmut.
Neid? (…)
Eifersucht? (…)“

Mit welchen Modifikationen replizierte der Erzähler dieser Interrogation?
Negativ: er unterließ die Erwähnung der heimlichen Korrespondenz zwischen Martha Clifford und Henry Flower, der öffentlichen Kontroverse in, vor und bei dem lizensierten Schanklokal von Bernard Kiernon & Co., G.m.b.H., 8, 9 und 10 Little Britain Street, der erotischen Provokation sowie Reaktion darauf, verursacht durch den Exhibitionismus von Gertrude (Gerty), Nachname unbekannt.“
James Joyce, „Ulysses“, in der Wollschläger-Übersetzung

Verdichtet, eingedampft, eingekreist, nacherzählt, der Versuch, die Essenz eines Mammutwerkes in einem, einzigen langen Satz zu fassen – dieses, man mag schon beinahe „Wahnsinns-Experiment“ sagen, ist Reto Hänny mit „Blooms Schatten“ eingegangen. Er nimmt die Nacherzählung eines Tages mit dem berühmten Kalypso-Kapitel auf, beginnt diese Reduktion oder besser diesen Fassungsversuch mit einem Satz (der dann über die folgenden 139 Seiten nimmer mehr unterbrochen wird, ganz in der Tradition des Gedankenstroms) so:
„Die Odysee eines Annoncenakquisiteurs weder ohne Furcht noch ohne Tadel der, teils wie unter Schock, von morgens um acht all die Stunden bis weit über Mitternacht hinaus, das nimmer Neue mit immer neuer Hoffnung zu betrachten, einen hektisch anstrengenden Tag lang (einen, wenn man es bedenkt, völlig gewöhnlichen Frühsommertag, einen ausgesprochenen durstigen zwar, an welchen die Trockenheit nach Wochen eitel Sonne aber ihren Höhepunkt erreichen und abrupt zu Ende gehen sollte) durch das Labyrinth einer Stadt weit oben auf der nördlichen Halbkugel irrt, wo die vielen Kneipen den größten Teil der reichlich bemessenen freien Zeit und des leider der freien Zeit nicht ganz gemäßen Geldes beanspruchen…“
Somit ist das wer-wo-was umrissen – wer, das ist Leopold Bloom, wo, das ist Dublin, was, das ist ein Tag im Leben dieses Blooms, das ist auch dieser Roman, das Jahrhundertbuch, in dem Joyce den Gedanken eines Mannes einen Tag lang auf der Spur blieb, ein 24-Stunden-Gedankenstrom-Experiment – mehr als 90 Jahre später wiederum von einem Schweizer in einem weiteren Experiment zu einem einzigen Satz geformt.
Reto Hänny las den Ulysses erstmals mit 15 Jahren, wie er in seinem Nachwort schreibt, tauchte ein in eine Wunderwelt der Sprache, eine Begegnung, die ihn von seiner Legasthenie kurierte.
„Der Ulysees hat mich seither nicht mehr losgelassen, auch die letzten Jahre nicht, in denen ich mich vorwiegend mit Musik beschäftigte, und da bei mir seit je eins aus dem andern wächst, sind mir diese Musikstudien bei der Neuformung der alten Geschichte, die ich erst jetzt schreiben könnte, wie sie mir vorschwebte, zugute gekommen.“

Wie Roland Barthes einst postulierte, wird Literatur aus dem Leben gemacht – und auch, wenn Hänny sich an die Devise hält, „Literatur entstehe aus der Literatur“, liegt darin kein Widerspruch. „Blooms Schatten“ ist das Projekt eines Literaturbesessenen, eines Ulysses-Jüngers, einer, der sich sein Leben lang mit auf dieser Joyce-Odyssee befand, um nun endlich wieder anzukommen – in einem kleinen, schmalen Buch, eigentlich wohl auch ein Lebenswerk, in dem sich die Liebe zur Literatur und Musik verdichtet. Eingeflossen sind in dieses Ein-Satz-Buch noch weitere „Spuren und Ablagerungen der täglichen Lektüre“, es lohnt also, das Buch – das durchaus in einem Durchgang gelesen werden kann – mehrfach aufmerksam aufzunehmen, nach Shakespeare, Flaubert, Claude Simon und anderen zu forschen. Über allem aber ohne Zweifel Joyce.
Gesteckt ist damit jedoch dennoch auch der Rahmen, die Grundlage für Leser: „Blooms Schatten“ kann freilich auch ohne explizite „Ulysses“-Kenntnis als kleine Miniatur genossen werden, als eigenständiges Werkstück mit einer ausgesprochenen musikalischen Sprache, die sich beim Laut- oder auch Vorlesen voll entfaltet. Doch zum eigentlichen Genuss kommt man freilich nur dann, wenn man die berühmte Vorlage kennt – als Reduktion oder Zusammenfassung für jene, die Joyce-Kenntnisse vortäuschen wollen, eignet sich „Blooms Schatten“ nicht. Es ist also letztendlich doch ein Werk für eine kleine Lesergemeinde – umso rühmenswerter, dass der Verlag sich dessen angenommen hat. „Literatur in größtmöglichen Abstand zum Mainstream“ – dieses Zitat von Urs Widmer ist auf dem Umschlag zu lesen. Jawohl!

Buchvorstellung beim Verlag:
http://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/blooms-schatten.html

Joseph Roth: April. Die Geschichte einer Liebe (1925).

„Manchmal wusste ich, dass Anna zärtlich sein könnte. Ich liebte die Frauen, deren Güte wie ein verschütteter Quell, unsichtbar fruchtlos, aber unermüdlich, jedesmal gegen die Oberfläche anströmt und, weil ein Ausweg nicht möglich, nach der Tiefe gedrängt, verborgene Schächte gräbt und gräbt bis zum Versiegen. Ich liebte Anna. Ich konnte ihren Reichtum nicht lassen. Sie wusste nicht, wieviel ihr verlorenging, wenn sie so daherschritt, rückwärts lebend, jede andere Sehnsucht ausschaltete und nur die nach Vergangenem trug und pflegte.“

Die erste der Erzählungen Joseph Roths, die herausragt aus den frühen Vorversuchen, ist für mich „April. Die Geschichte einer Liebe“, veröffentlicht 1925. Schon zuvor hatte Roth über Frauen geschrieben – einsame Frauen, alleinstehende Frauen, verlassene Frauen, Geliebte, Witwen, Mütter. Doch „April“, dieser einerseits zarten, poetischen Erzählung, andererseits aber auch desillusionierenden Liebesgeschichte, ist das Bild auf „die Frau“, aber auch auf die Zeitläufte erstmals befreit von jugendlicher Rührseligkeit. Roth spielt in dieser Erzählung stilistisch auf einer Klaviatur poetischer Bilder, neusachlicher Flapsigkeit und expressionistischem Ausdruck – geprägt zwar auch von den literarischen Stilen seiner Zeit, ließ er sich dennoch nicht festlegen, zeigt vielmehr an dieser Erzählung, wie groß die Bandbreite seines Talentes ist.

Fast schon müßig zu betonen, dass die Liebe – beziehungsweise die Lieben - unglücklich verläuft in diesem „Intermezzo“.

Der Erzähler kommt in eine kleine Stadt, verliebt sich zunächst in Anna, Mutter eines unehelichen Kindes und dann in eine unbekannte Schöne, die am Fenster sitzt. Anna erzählt ihm, die Unbekannte sei todkrank. Der Erzähler beschließt, wieder abzureisen – am Bahnhof sieht er ein letztes Mal die scheinbar kranke Schöne, sie, das blühende Leben ist offensichtlich mit einem Mann verlobt, den er verabscheut. So oder so – die Liebe zu beiden Frauen wird durchlebt im rasenden Tempo, wird stark empfunden, bleibt aber doch nur ein Spiel auf Zeit.

Dies ist der äußere Rahmen, den Roth jedoch auch nutzt, um eine ganze kleine Stadt, eine kleine Welt lebendig werden zu lassen. Mit wenigen Strichen zeichnet er Miniaturen, lässt Typen und Charaktere auferstehen: Den windigen Kellner Ignaz, der lieber Politiker wäre, den würdigen Postdirektor, den vom Ehrgeiz zerfressenen Eisenbahnassistenten, der auch bei der Liebe (die er nicht empfinden kann) die rote Eisenbahnassistentenmütze im Blick behält. Der Erzähler ist ein assoziierender Flaneur:

„Ich pflanze meine Erlebnisse wie wildes Weinlaub und sehe zu, wie sie wachsen.“

Vor allem ist „April“ jedoch auch die Geschichte einer Liebe zu einer mystifizierten Unbekannten: In Gegensatz zu der Kleinstadt, in der sich der Erzähler nur auf Durchreise befindet, steht das glitzernde, schillernde New York.

„Manchmal träumte ich von einer großen Stadt, es war vielleicht New York. Ich atmete das Rasseltempo ihres Lebens, ihre Straßen rannten groß, breit, unaufhaltsam, mit Menschen, Fahrzeugen, Pflastersteinen, Laternenpfählen, Litfaßsäulen, ich weiß nicht, wohin und wozu. Die Stadt stand nicht, sondern lief. Nichts stand. Große Fabriken qualmten aus riesigen Schornsteinen den Himmel an. In sekundenkurzen Pausen hielt ich die Augen geschlossen, um die Melodien dieses Lebens zu hören. Es war eine greuliche Musik; sie klang so wie die Melodie eines verrückt gewordenen, ungeheuren Leierkastens, dessen Walzen durcheinandergeraten waren. Diese Musik aber reizte auf. Es war nur häßlicher, nicht falscher Rhythmus.“

Der Erzähler fühlt sich am Ende von diesem Rhythmus mitgezogen – er steigt in den Zug, lässt alles hinter sich, denn:

„Das Leben ist sehr wichtig!“ lachte ich. „Sehr wichtig!“ und fuhr nach New York.

Joseph Roth, oftmals als Mystiker und Mythomane bezeichnet, greift hier den Mythos der Großstadt, der vor allem durch die expressionistische Literatur geisterte, auf. Anklänge von Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Dos Passos „Manhattan Transfer“, das wie „April“ 1925 erschien, sind zu spüren in dieser Erzählung. Synkopisch im Duktus, eine „Sinfonie der Großstadt“.

Für Roth, den in Galizien geborenen Juden, hat New York jedoch noch eine weitere Bedeutung, die über den Mythos der großstädtischen Moderne hinausgeht. Die Vereinigten Staaten waren vor allem für die verarmte jüdische Landbevölkerung aus Südosteuropa ein Fluchtpunkt, ein gelobtes Land, die Auswanderungswelle war enorm. Joseph Roth greift dieses Thema in seiner journalistischen Arbeit auf, unter anderem in seinem Essay „Juden auf Wanderschaft“.

Dieser 1927 veröffentlichte Aufsatz erschien 2012 in einer illustrierten Buchausgabe – siehe hier die Besprechung bei „Glanz&Elend“.

Eine ähnliche journalistische Arbeit findet sich auch im Werk der französischen Reporterlegende Albert Londres.

Ein weiteres Buch zum Thema: Ulla Kriebernegg, Gerald Lamprecht, Roberta Maierhofer, Andrea Strutz (Hrsg.): “Nach Amerika nämlich! Jüdische Migrationen in die Amerikas im 19. und 20. Jahrhundert”, Wallstein Verlag.

„April. Die Geschichte einer Liebe“ kann beim Projekt Gutenberg gelesen werden.

Julio Cortázar: Der Verfolger (1958).

„Ich verstehe, dass ihn der Gedanke Amorous könnte vor die Öffentlichkeit gebracht werden, in Harnisch bringt, denn jeder merkt die Fehler, das deutlich hörbare Blasen am Ende einiger Phrasen, und vor allem diesen wilden Sturz am Schluß, diesen dumpfen, kurzen Ton, der mir vorkam wie ein brechendes Herz, wie ein Messer, das in ein Brot eindringt (er sprach vor einigen Tagen von dem Brot). Dagegen würde Johnny entgehen, was wir schrecklich schön finden, die Beklemmung, der Stau, der in dieser Improvisation einen Ausweg sucht, voller Ausbrüche in alle Richtungen, voller Fragen, voller verzweifelter Gestik. Johnny kann nicht verstehen (denn das, was er für mißlungen hält, scheint uns ein Weg zu sein, wenigstens die Andeutung eines Weges), dass Amorous einer der größten Augenblicke in der Geschichte des Jazz bleiben wird.“

Julio Cortázar, „Der Verfolger“

Was Charlie Parker in der Musik für den Jazz tat, das gelang dem Argentinier Julio Cortázar in der Literatur. Er schrieb Musik, Jazzmusik, er revolutionierte mit seinen Werken auch das Schreiben und die südamerikanische Literatur, griff den Stil des anderen surrealistischen Erzählers seines Heimatlandes, Borges, auf, interpretierte weiter, ging darüber hinaus. Und dies nicht nur in der Erzählung „Der Verfolger“, die 1958 in der Anthologie „Die geheimen Waffen“ erschien und die Geschichte des Jazzmusikers Charlie Parker erzählt.

Für Cortázar (1914 bis 1984) war der Tango die Musik für das Leben, der Jazz die Musik für die Literatur, auf einen etwas verkürzten Nenner gebracht. Der Jazzkenner, Autor und Journalist Hans-Jürgen Schaal bringt die musikalisch-literarische Welt Cortázars so auf den Punkt:

“In den Texten von Julio Cortázar ist der Jazz ein notwendiges (fantastisches, absurdes) Korrektiv der Realität. Es ist der Jazz, der vorübergehend die bestehende Ordnung der Dinge aufzuheben vermag. Der ein Thema “bekämpft und verwandelt und schillern lässt”. Der die Menschen daran erinnert, “dass es vielleicht andere Wege gibt und dass derjenige, den sie eingeschlagen haben, nicht der einzige und nicht der beste ist.” Jazz: eine Rettung ins Offene. Eine Einübung in die Freiheit.

Das 17. Kapitel in Cortázars 600-Seiten-Schmöker “Rayuela”, einem der erfolgreichsten Romane Lateinamerikas, enthält die vielleicht schönste Eloge, die dem Jazz je gewidmet wurde. Sie feiert ihn als eine universelle Botschaft, die “die Menschen besser und schneller einander näher brachte als Esperanto, die UNESCO oder die Fluglinien”, eine menschliche Musik, die Antlitz und Bewusstsein besitzt, die Stile und Haltungen, Dogmen und Schismen schuf, die ein Teil und ein Spiegel ist der humanen Geistesgeschichte. “Rayuela” – der spanische Name für das Himmel-und-Hölle-Spiel – ist ein verspäteter Beat-Roman, gefärbt von Pariser Existenzialismus, argentinischer Bildungswut und Cortázars Lust am Absurden.”

Anders als „Rayuela“, das 1963 erschien, erscheint „Der Verfolger“ im Erzählstil noch konventionell. Die Novelle schildert die Geschichte von Johnny Carter (ganz offensichtlich der Saxophonist Charlie Parker) aus der Perspektive seines Biographen. Deutlich wird: Die Person, der Mensch, der hinter diesem außerordentlichen Talent steckt, ist ein zerrissener, von Begierden getriebener, wankelmütiger, wenig sympathischer Charakter. Und doch bringt er ganz große Kunst hervor. Zu beobachten ist für den Biographen der Niedergang im Sumpf des Rausches und der Drogen – wobei die Rauschhaftigkeit des Lebens die Bedingung zu sein scheint, um solche Töne zustande zu bringen. Und beinah distanziert wird die Frage aufgeworfen, was mehr zählt: Der Mensch oder die absolute Kunst, die Kunstfertigkeit in der Musik.

„Ich beschloß, in der zweiten Auflage des Buches nichts zu ändern und Johnny weiterhin so zu präsentieren, wie ich ihn dargestellt hatte und wie er im Grunde war: ein armer Teufel von kaum durchschnittlicher Intelligenz, der wie so viele Musiker, Schachspieler und Dichter die Gabe besitzt, große Dinge zu schaffen, ohne sich der Größe seines Werks im geringsten bewußt zu sein (höchstens besitzt er den Stolz eines Boxers, der sich stark weiß).“

Roger Willemsen spendete der Erzählung in einer Kritik in der Süddeutschen Zeitung Applaus: Sie sei ein leidenschaftliches, mitreißendes, virtuoses “Solo für einen Besessenen”. So ist es – wer vor der Lektüre noch keine Musik von „Birdie“ gehört hat, wird spätestens dann das Verlangen haben, Bebop zu hören, jene Stilrichtung, die Parker prägte.

„Der Verfolger“ ist in Worte gefasste Musik, ist Jazz auf dem Papier.

Charlie „Bird“ Parker (1920-1955) gilt als einer der wichtigsten Jazzmusiker, gleichrangig neben Louis Armstrong und Miles Davis. Seit seiner Jugend heroinabhängig, starb er, nach einem von vielen Abstürzen und persönlichen Dramen geprägten Leben, an den Folgen seiner Sucht.

Julio Cortázar, (1914-1984), in Brüssel geboren, verbringt seine Jugend in Argentinien, lässt sich aber 1951 aus Protest gegen das Perón-Regime, unter dem er auch kurzfristig verhaftet worden war, in Paris nieder, wo er 1984 stirbt. „Rayuela“ ein surreales, kreatives Romanexperiment, ist trotz seines hohen Anspruchs eines der meistverkauften (und hoffentlich auch meistgelesenen) Bücher Südamerikas.

TRIO 6: Literarisches Menü mit Truman Capote, Herman Koch und Birgit Vanderbeke

“Expressing a human need, I always wanted to write a book that ended with the word Mayonnaise.”
Richard Brautigan

Beginnen wir mit einem leichten Gang, einem Appetithäppchen:

Rusty Trawler kam mit einem Martini; er gab ihn mir, ohne mich anzusehen. „Ich habe Hunger“, verkündete er, und seine Stimme, zurückgeblieben wie alles Übrige an ihm, klang wie das nervtötende Greinen eines kleinen Bengels, der Holly Vorwürfe machte. „Es ist halb acht, und ich habe Hunger. Du weißt, was der Arzt gesagt hat.“

“Frühstück bei Tiffany” von Truman Capote. Eine wunderbar federleichte, amüsante Erzählung, gewürzt mit einer Prise Melancholie und Traurigkeit – man weiß, die Geschichte von Holly Golightly und ihrem namenlosen Kater ist eine bittersüße, auch was die filmische Umsetzung des 1958 erschienen Buches anbelangt. Zwar hat man bei der leichtfüßigen und (nur scheinbar) leichtlebigen Dame stets die bezaubernde Audrey Hepburn vor Augen, doch in der Verfilmung wurden wesentliche Elemente ausgespart beziehungsweise nur angedeutet. So die Homosexualität des Schriftstellers, der die Geschichte der Holly aus der Retrospektive erzählt, so die zeitweilige Prostitution, der Holly nachgeht und die Kinderehe, die letztlich der Schlüssel für ihr Unabhängigkeitsstreben, ihren Freiheitsdrang, aber auch für die Beziehungsunfähigkeit ist. Im Buch, mit dem Capote berühmt wurde, steckt also weitaus mehr Gehaltvolleres, als der Film, von dem sich der Schriftsteller distanzierte, verspricht. Lesens- und sehenswert ist beides.

„Es muss sein wie bei Tiffany“, sagte sie. „Nicht, dass ich mir was aus Schmuck mache. Aus Diamanten schon. Aber es ist geschmacklos, Diamanten zu tragen, bevor man vierzig ist; und selbst dann ist es gewagt. Sie sehen erst bei sehr alten Frauen richtig gut aus. Maria Ouspenskaya. Knochen und Falten, weiße Haare und Diamanten. Ich kann`s gar nicht erwarten. Aber deshalb bin ich nicht verrückt nach Tiffany. Weißt du, kennst du die Tage, wo du das rote Elend hast?“

„Genau wie das graue Elend?“

„Nein“, sagte sie langsam. „Nein, das graue Elend ist, weil man zu dick wird oder es zu lange regnet. Man ist traurig, das ist alles. Aber das fiese rote ist schrecklich. Man fürchtet sich, und man schwitzt wie ein Schwein, aber man weiß nicht, wovor man sich fürchtet. Bloß, dass etwas Schlimmes passieren wird, aber man weiß nicht was. Hast du das Gefühl schon mal gehabt?“

„Ziemlich oft. Manche nennen es Angst.“

Truman Capote, „Frühstück bei Tiffany“, 2006 im Rahmen der „Zürcher Ausgabe“ in einer Neuübersetzung beim Verlag Kein & Aber erschienen.

Hauptgang - ein heißes Dinner tischt uns Klaus Krolzig
mit seinem Gastbeitrag auf:

angerichtet“Angerichtet” ist das erste Buch von Herman Koch, das aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt wurde, nachdem er bereits fünf Romane in den Niederlanden veröffentlicht hatte. Nach Harry Mulisch mit “Die Entdeckung des Himmels” ist es außer Herman Koch keinem Autor mehr gelungen, länger als ein halbes Jahr auf dem ersten Platz der niederländischen Bestsellerliste zu stehen. 2009 wurde “Angerichtet” mit dem Preis “Bestes Buch des Jahres” ausgezeichnet.

Koch tischt uns ein Abendessen auf, dessen sieben Gänge diese Tragikomödie strukturieren. Er bringt vier Personen an die Tafel: den berühmten niederländischen Politiker Serge Lohmann und seine Gattin Babette sowie seinen Bruder Paul (Erzähler des Romans) mit seiner Frau Claire.

Paul hat an allem etwas auszusetzen. Er rechnet gnadenlos ab mit dem verlogenen Verhaltenskodex der besseren Gesellschaft und der Scheinheiligkeit seines Bruders als Politiker. Nichts entgeht seiner beißenden Polemik, wobei dem Leser das Schmunzeln manchmal im Halse stecken bleibt. Die vier Protagonisten sitzen in einem Edel-Restaurant der gehobenen Klasse, um über ihre Kinder zu sprechen, die eine grausame Tat auf ihrem Gewissen haben. Dabei handelt es sich nicht um irgendeine Bagatelle, sondern um einen schwerwiegenden Fall von Jugendkriminalität. Das grausige Verbrechen gerät immer wieder nach Abschweifungen in Pauls und Serges zwielichtige Vergangenheit in den Blickpunkt der Gespräche und wird uns häppchenweise serviert. Die Eltern wissen bereits mehr als die Polizei und beraten darüber, wie man ihre Kinder vor einer polizeilichen Verfolgung schützen kann. Dabei erscheint keine Handlung und keine Aussage ohne Bedeutung für den weiteren Verlauf zu sein. Es geht um die Zukunft ihrer Söhne und da ist den Eltern jedes Argument recht, die Gewalttat ihrer Kinder zu verharmlosen. Unablässig spitzt sich die Handlung zu und mündet in einen Showdown, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Das Setting des Romans erinnert mich an den Film “Bennys Video” von Michael Haneke, worin Vati und Mutti die Leichenteile eines Mädchens verschwinden lassen, um eine Tat zu verschleiern, die ihr pubertierender Sohn begangen hat. Daran droht die ganze Familie zu zerbrechen.

Bei aller Leichtigkeit drängt sich bei der Lektüre dieses Buches immer wieder die Frage auf, welchen Einfluss Eltern, die in ihrer Vorbildfunktion versagen und selbst nicht vor Gewaltexzessen zurückschrecken, auf die emotionale Teilnahmslosigkeit und Verrohung ihrer Kinder haben. Herman Koch versteht es, bei einem so ernsten Thema wie der Jugendkriminalität den Leser sowohl zu unterhalten, immer mit einem Schuss Sarkasmus, aber gleichzeitig auch nachdenklich zurückzulassen.

Der Maître d’hôtel deutete mit dem kleinen Finger auf etwas auf unserem Tisch. Ob er das Teelicht meinte, überlegte ich zunächst – auf allen Tischen stand statt einer Kerze oder Kerzen ein Teelicht. Nein, der kleine Finger zeigte auf ein Schälchen mit Oliven, das er dort offenbar gerade hingestellt hatte.

“Das hier sind griechische Oliven von der Peloponnes, zart beträufelt mit einem Olivenöl erster Ernte extra vergine aus Nordsardinien und bekrönt mit Rosmarin aus…”

Normalerweise konnte mir eine solche Information zwar gestohlen bleiben, von mir aus kam der Rosmarin aus dem Ruhrgebiet oder aus den Ardennen, aber ich fand das Geschwafel wegen einer Schale Oliven doch ziemlich übertrieben, und ich hatte keine Lust, ihn einfach so davonkommen zu lassen.

“Bekrönt? “ staunte ich.

“Ja, bekrönt mit Rosmarin. Bekrönt heißt, dass…”

“Ich weiß, was bekrönt heißt”, zischte ich scharf und vielleicht auch etwas zu laut, denn am Nachbartisch unterbrachen ein Mann und eine Frau kurz ihr Gespräch und sahen in unsere Richtung.

“Bekrönt”, fuhr ich etwas leiser fort. “Mir ist durchaus klar, dass die Oliven nicht alle ein Krönchen tragen und mich wie die Könige anglotzen.”

Herman Koch, “Angerichtet”, Taschenbuch, 320 Seiten, KiWi-Paperback

Schwere Kost, gehaltvoller Abschluss – der letzte Gang bleibt stehen:

Muschelessen„Ich habe gefragt, hört ihr denn nichts, hört doch mal. Das sind die Muscheln, hat meine Mutter gesagt, und ich weiß noch, daß ich gesagt habe, ist das nicht furchtbar, dabei wußte ich ja, daß sie noch leben, ich hatte mir nur nicht vorgestellt, daß sie das Schalenklappergeräusch machen würden, ich hatte mir gar nichts vorgestellt, als daß man sie kocht und ißt und fertig.“

„Das Muschelessen“ von Birgit Vanderbeke ist eine schmale Erzählung, doch wiegt sie schwer. Fast ohne Atempause, ohne Punkt und Komma, wird von der etwa 18jährigen Erzählerin von den Vorbereitungen auf ein Familienessen berichtet. Die Muscheln, ein Wunsch des abwesenden Vaters, sind angerichtet – doch der sonst so pünktliche Patriarch erscheint nicht. Während die Muscheln erkalten, reden sich Ehegattin, Tochter und Sohn langsam in Hitze – das Essen ist angerichtet, das Familienoberhaupt wird verbal hingerichtet. Sympathisch wirkt keine der Figuren, nicht nachvollziehbar erscheint es zunächst, warum die Rebellion gegen sein innerfamiliäres Diktat nur in seiner Abwesenheit stattfinden kann. Der Vater kommt nicht, dafür ein Telefonanruf, die Muscheln wandern kalt in den Müll - ein offenes Ende mit Symbolgehalt. Die Erzählung, 1990 veröffentlicht und mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet, kann jedoch auch als Parabel auf die ehemalige DDR verstanden werden, die familiären Strukturen – Bespitzelung und Unterordnung – als bissige und bitterböse Beschreibung politischer Verhältnisse.

Birgit Vanderbeke, „Das Muschelessen“, Taschenbuch, 128 Seiten, Piper Taschenbuch.