Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das (1932/2014).

„Er reist wie andere Opium rauchen oder Kokain schnupfen. Das war sein Laster. Er war abhängig von Schlafwagen und Passagierdampfern. Und nach jahrelangen unnötigen Fahrten durch die ganze Welt war er sich ganz sicher, daß weder ein noch so verführerischer Blick einer intelligenten Frau noch die Verlockung eines Geldschranks für ihn den teuflischen Charakter einer einfachen, rechteckigen, kleinen Zugfahrkarte hatten.“

Albert Londres, „Ein Reporter und nichts als das“, Die Andere Bibliothek.

londresLiest man Albert Londres` Reportagen, dann drängt sich der Vergleich zum Gonzo-Journalismus förmlich auf. Hier die Wikipedia-Definition:

„Der Gonzo-Journalismus wurde von dem US-amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Hunter S. Thompson Anfang der 1970er Jahre begründet. Charakterisiert wird diese Form des New Journalism durch das Wegfallen einer objektiven Schreibweise. Es wird aus der subjektiven Sicht des Autors berichtet, der sich selbst in Beziehung zu den Ereignissen setzt. So vermischen sich reale, autobiographische und oft auch fiktive Erlebnisse. Sarkasmus, Schimpfwörter, Polemik, Humor und Zitate werden als Stilelemente verwendet. Nach journalistischen Kriterien handelt es sich beim „Gonzo-Journalismus“ nicht um Journalismus, sondern um Literatur. Die Arbeitsweise entspricht nicht den Anforderungen an Journalisten, die zum Beispiel der deutsche Pressekodex vorgibt.“

Eigentlich müsste man sagen: Albert Londres (1884-1932) ist der geistige Vater eines Hunter S. Thompsons oder auch P.J. O`Rourke, der Gonzo-Großvater. Der Franzose war ein Reporter-Star seiner Zeit, Zeitgenosse des anderen rasenden Reporters, Egon Erwin Kisch (1885-1948). Während Kisch deutschen Lesern und Journalisten jedoch noch ein Begriff ist, nicht zuletzt durch den von Henri Nannen 1977 eingeführten Preis für aufklärenden, investigativen und sprachlich niveauvollen Journalismus (was man inzwischen doch in den gängigen Tageszeitungen und Magazinen sehr vermisst), wird Londres zwar in seinem Heimatland noch immer gewürdigt. Hier aber ist er weitgehend unbekannt beziehungsweise wieder vergessen.

Tucholsky setzte dem Weltreporter 1925 in der „Weltbühne“ ein Andenken – doch es musste fast 90 Jahre dauern, bis einige seiner Reportagen in deutscher Sprache erschienen. Vor allem „Die Andere Bibliothek“ kann sich einmal mehr dieses Verdienst anheften. „Ein Reporter und nichts als das“ bündelt drei Reportagen des Franzosen, die verdeutlichen, warum er ein Wegbereiter des Gonzo-Journalismus, aber vor allem auch ein Vorbild für jeden ist, der die literarisch gehobene politische Reiseberichterstattung pflegt, beispielsweise Richard Kapuscinski Jahrzehnte später.

„Albert Londres ist eine Nummer für sich. Man stelle sich einen Egon Erwin Kisch vor, der nicht aus Prag stammt – das geht nicht –, also man denke sich einen gebildeten Mann, der von einer großen Reporterleidenschaft wirklich besessen durch die Welt getrieben wird. Londres ist ein Reporter und nichts als das: keine langatmigen Untersuchungen, keine exakten Dokumente, sondern: Wo ist etwas los? Ich will dabei sein! Ihr werdet lesen“, so urteilt Tucholsky alias Peter Panter 1925 in der „Weltbühne“.

Die drei Reportagen – „China aus den Fugen“ (1922), „Ashaver“ (1929/1930) und „Perlenfischer“ (1931) – sind weniger journalistische Kunststücke als literarische Juwelen. Brillant geschrieben, von einer stilistischen Eleganz und formalen Vielfalt geprägt, reißen sie den Leser mitten hinein ins jeweilige Herz der Finsternis, nehmen ihn mit auf die Reise und übertragen diese Mischung aus kontemplativen Flanieren, Schauen und Beobachten und der Atemlosigkeit, wenn die Ereignisse sich überstürzen und der Reporter sich plötzlich mitten im Auge des Sturms befindet.

Unbeteiligt, unvoreingenommen, aber niemals distanziert blickt Londres, der seine Reporterkarriere beim Matin begann, später bei Le Petit Journal und bei Excelsior zu einem der bestbezahlten seiner Zunft wurde, auf die örtlichen Begebenheiten, auf die politischen Unruhen, die Ränke der Machthaber, das alltägliche Leid der Unterdrückten, gemäß seinem Wahlspruch: „Notre rôle n’est pas d’être pour ou contre, il est de porter la plume dans la plaie. - Unsere Rolle besteht weder in einem Dafür noch einem Wider, wir müssen die Feder an die Wunde setzen.”

Dies tut Londres mit etlichen Berichten, die für Aufsehen, politische Diskussionen und Veränderungen sorgen, sei es über die französischen Straflager in Französisch-Guayana, die Zustände in Nervenheilanstalten oder aber auch sein Bericht über die Tour de France, wo er als einer der ersten einen Dopingfall aufdeckt.

Zwar betont er von sich selbst, ein Reporter sei stets unvoreingenommen, kenne keine Linie, außer der einzigen, der Eisenbahnlinie – doch Londres, so mag man wie Marko Martin im Nachwort des Buches vermuten, ist ein „Herzens-Anarchist“. Zuweilen verlässt er die Position des Beobachters und wirbelt gehörig mit, rettet nebenbei eine Kurtisane (China aus den Fugen) oder ermahnt die Perlenketten tragenden Damen angesichts ihres Schmucks (Perlenfischer) nicht zu vergessen, wieviel Blut das Geschmeide die ausgebeuteten Perlentaucher kostet. Auch wenn sich Albert Londres wohl gerne weltläufig und leicht kaltschnäuzig gab – er war nicht „nur“ ein Reporter, sondern mehr als das – spürbar wird dies in der umfangreichsten der drei Reportagen, in „Ashaver ist angekommen“. Obwohl kein Jude, wird die Sympathie des Reporters für das jüdische Volk in diesem Bericht, der ihn rund um die Welt führt, mehr als deutlich. Schon das Unternehmen an sich ist von einem sagenhaften journalistischen Ehrgeiz – Londres reist 1929 über London in die Tschechei, die Karpaten und weiter via Czernowitz, Lemberg und Warschau nach Palästina. Er schildert die bedrückende Situation der Ostjuden, die Armut, die Ausgrenzung, die ewige Flucht, aber auch die Kluft zwischen orthodoxem Judentum und den jungen Zionisten, für die Palästina gleichzeitig Sehnsuchtsort und Heilsversprechen ist.

Auch für Londres ist dies Endpunkt der Reise, dort angekommen, gerät er mitten hinein in das politische Spannungsfeld zwischen Engländern, Arabern und Juden. Die Reportage entstand wenige Jahre vor Londres Tod (er kam 1932 bei einem Schiffsunglück im Golf von Aden ums Leben) und ist sicher eines seiner Meisterstücke. Zudem ist es eine eingehende Abbildung der bedrückenden Lebenssituation der osteuropäischen Juden kurz vor dem Massenmord.

„Polen, Rumänien sind aus Rußland hervorgegangen. Aber Polen und Rumänien haben aus Rußland ihren Vorrat an Antisemitismus erworben. Ein Jude ist dort immer ein Jude. Unter Umständen ist er ein Mensch, aber in jedem Fall ist er weder Pole noch Rumäne. Und wenn er Mensch ist, dann muss man ihn daran hindern, groß zu werden. Von der ganzen Geschichte der Juden hat Osteuropa nur die von Hiob behalten. (…). Das jüdische Problem ist kompliziert, aber ich glaube, daß es sich in einer Frage nach der Luft zusammenfassen läßt. Atmen oder nicht atmen können. Nicht mehr und nicht weniger.“

Londres, Albert, „Ein Reporter und nichts als das“, Aus dem Französischen von Petra Bail und Dirk Hemjeoltmanns (Ahasver ist angekommen), Die andere Bibliothek, Bandnummer: 348, ISBN: 9783847703488.

36 Gedanken zu “Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das (1932/2014).

  1. das will ich SOFORT lesen….. und das konfrontiert mich umgehend zum einen mit meiner Leidenschaft: der Ungeduld — zum anderen mit dem Stapel an Büchern, der vor mir liegt, und dem, der mich Zuhause erwartet… danke für den TIpp :-)

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  2. Liebe Birgit,
    gut geschriebene Reportagen, die munter auf der Grenze zwischen Journalismus und Literatur herumspringen, sind überhaupt das Beste! So anschaulich und lebendig zu einer Zeit, als es ja noch keine Kameras gab, die die fremden Orte so mir nichts dir nichts ins heimische Wohnzimmer schleusten. Und heute wichtig, um den umfassenderen, komplexeren Blick zu wahren, den die Kamera auch nicht immer hat. Und wie schön, wenn selbst die “Reportagen von gestern” noch solche Meisterwerke sind, dass wir sie heute gerne lesen. Vielen Dank für die Buchvorstellung.
    Viele Grüße, Claudia

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    1. Liebe Claudia,
      und einmal mehr ein Dank an Dich für Deinen reflektierten Kommentar. Ja, das macht eben die Qualität dieses Genres aus: Das waren noch Reportagen, die komplex waren, die sich nicht in enge Spalten- oder Zeitformen pressen liessen, die auch die Genres sprengten. Freilich musste ich bei der chinesischen Reportage mich auch kurz in die politischen Umstände einlesen - Londres springt förmlich mitten ins Geschehen. Dann aber ist man beinahe dabei, als sei man selbst dort, mitten im Leben. Liebe Grüße Birgit

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      1. Eine gute Reportage, so sagt es eine schlaue Definition (ich glaube nachzulesen auf der Internetseite der Uni Essen), erzeuge ein “Kino im Kopf”. Und so scheint es LOndres ja perfekt verstanden zu haben, solch ein Kopfkino zu erzeugen. Ich würde zu gerne alle Reportagen selbst nachlesen, die Du vorgstellt hast, aber wie klagte leise jammernd kürzlich eine Leserin auf meinem Blog: Wann soll ich das alles lesen? :-)
        Viele Grüße, Claudia

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      2. Kopfkino - ja das passt gut. Und apropos Kopfkino - in meinem Kopf läuft der Film, dass dies kein leises Klagen, sondern ein lautes Aufheulen Deiner sehr geneigten Leserin war. Aber du hast recht, das Draesner-Buch ist was für mich - ich habs mir vorher geholt. Wie gut, dass ich krankgeschrieben bin - ich hab Zeit, bin zuhaus und sowieso jetzt pleite bei alle den Büchern :-)

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  3. Hallo Birgit, auch bei mir landet das Buch auf meine Wunschliste.
    Interessant finde ich auch das Wort und die Definition vom Gonzo-Journalismus.
    Es ist bestimmt schwer, die Grenze zwischen Journalismus und Literatur zu ziehen. Vielleicht ist es teilweise ja auch beides…
    Einen schönen Tag wünscht dir Susanne

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    1. Liebe Susanne,
      im besten Falle hat Journalismus - also die Reportage - auch eine literarische Qualität (von Nachrichten, Meldungen etc. wird das ja nicht erwartet bzw. soll das nicht sein). Aber leider gibt es doch recht wenige Journalisten - jedenfalls bei uns - die richtig gut schreiben können. Das liegt aber zum Teil einfach an einer anderen Pressetradition und an der früheren Ausbildung, die ich ja auch noch genossen habe :-) Viele Grüße und auch Dir noch einen schönen Abend/Resttag, Birgit

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  4. Liebe Birgit, ich bin ernsthaft vergrätzt. Ich hatte mir ganz fest vorgenommen, eine Zeitlang alle verlockenden Buchvorstellungen zwar zu lesen und mich an ihnen zu erfreuen. Punkt. Die Titel eventuell auf meine Wunschliste zu setzen. Aber mehr nicht. Aber nein, jetzt kommst du daher, schreibst so ansteckend begeistert, dass ich meine Vorsätze glatt vergesse. Ich finde es so großartig, wenn Bücher es schaffen, mich tatsächlich an andere Orte, in andere Kulturen, in eine andere Zeit zu versetzen. Meinen Horizont weiten… Könntest du bitte die nächsten Wochen nur fürchterlich langweilige Titel vorstellen? Oder wenigstens Bücher, die ich schon kenne oder die sowieso schon darauf warten, endlich gelesen zu werden? Nun, im Ernst, ich wünsche dir baldige Genesung, viel Spaß beim Lesen und was das Pleitesein angeht, wenn ich mir hier die Kommentare anschaue, könntest du vielleicht eine gute Provision heraushandeln :-) Leicht resignierte Grüße, Anna

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    1. Liebe Anna,
      einmal herzhaft Lachen am Tag ist gut für die Gesundheit. Danke für Deinen Kommentar, ich fühle mich schon besser :-)
      Keinesfalls will ich riskieren, Dich zu vergrätzen, weil ich Deine Kommentare so mag, selbst die resignierten. Ich kann aber auch kaum Bücher besprechen, die du schon kennst, weil wir da auch eine ziemliche Schnittmenge haben, wie ich Deinem Register entnahm. Und das mit den fürchterlich langweiligen Titeln wäre jetzt wirklich von mir zuviel abverlangt. Ich überlege mir was…vielleicht Kochbücher? :-) Das mit der Provision - der Gedanke kam mir auch schon. Aber ernsthaft: Ich kaufe meine Bücher lieber selber. Da bleibt man frei :-) LG Birgit

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      1. Gut, dass du dich langweilst, will ich ja auch nicht. Da lass ich mit mir reden: Also, Kochbücher wären eine famose Idee. Da bin ich absolut immun. Oder Gartenbücher? Oder Bücher zu alten Handwerkstechniken? Klöppeln, Tiere, Moose und seltene Farne? Wie rede ich mit meiner Katze? DIY-Bücher? Oder Bücher, die noch nicht ins Englische oder Deutsche übersetzt wurden? Extrem kompliziert schreibende Philosophen des Mittelalters? Sport wäre auch ein weites Feld oder: Wie spekuliere ich an der Börse? Also, es gibt doch wirklich genug Auswahl!
        Ja, Lachen ist wichtig: Vielleicht hilft folgendes Video? Völlig sinnfrei :-)

        LG Anna

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  5. Liebe Birgit,
    wirklich verheerend, diese tolle neue Kategorie Reiseliteratur. Diesen Londres kannte ich gar nicht, aber der muss so bald wie möglich gelesen werden, Deine Besprechung ist derart begeisternd, da muss die Lektüreplanung schon wieder umgeschmissen werden…
    Ganz tolle Besprechung, danke und liebe Grüsse, Kai

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      1. Du hast gut lachen - hattest du hingegen nicht mal angekündigt den Socia-Media-Firlefanz an den Nagel zu hängen ;-) Ich vermute, ich muss mal dazu bloggen, damit wir uns in der gebührenden Ausführlichkeit darüber austauschen können, oder?!

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      2. jajajajaja ….mehr sag ich dazu nicht. Aber schreib Du lieber mal über Pizzerias. Statt über SM-Firlefanz. Die sterben nämlich aus. Und sie gehören für mich zur Eisdiele wie Conny Frobess und zwei kleine Italiener.

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