Novelle

Siegfried Lenz (1926-2014): Schweigeminute

Bild: Iris Jahnke

„Bevor sie ausstieg, küsste sie mich noch einmal, und vor der Haustür winkte sie mir zu, nicht flüchtig, nicht beiläufig, sondern langsam und so, als sollte ich mich abfinden mit dieser Trennung. Vielleicht wollte sie mich auch trösten. Damals dachte ich zum ersten Mal daran, mit Stella zu leben. Es war ein jäher, ein tollkühner Gedanke, und heute weiß ich, es war ein in mancher Hinsicht unangemessener Gedanke, der nur entstehen konnte aus der Befürchtung, dass das, was mich mit Stella verband, ein Ende haben könnte. Wie selbstverständlich diese Sehnsucht nach Dauer aufkommt.“

Siegfried Lenz (1926-2014), „Schweigeminute“, 2008, Hoffmann und Campe Verlag.

„Wie selbstverständlich diese Sehnsucht nach Dauer aufkommt“: Es sind solche beinahe lakonischen Sätze, die wie hingeworfenen wirken, die Siegfried Lenz zu einem ganz großen Erzähler machten. Es ist diese Kunst des ökonomischen Einsatzes von Sprache, die nicht nur „Schweigeminute“, sondern das ganze umfangreiche Erzählwerk, das dieser Schriftsteller hinterließ, prägt. In einem Satz die ganze Sehnsucht Liebender eingefangen, in einem Absatz die ganze Erzählung gebündelt: Von der Unmöglichkeit einer Liebe, vom Verlassenwerden, vom Überwindenwollen dessen, was trennt. Anfang und vorgezeichnetes Ende einer Liebe und die in ihr liegenden Schwierigkeiten so nebenbei und unaufdringlich in einem Absatz eingefangen – das ist die leise Erzählkunst von Siegfried Lenz gewesen.

„Wie selbstverständlich diese Sehnsucht nach Dauer aufkommt“: Vielleicht auch ein Schlüsselsatz für die Entstehungsgeschichte dieser Erzählung, die, knapp 130 Seiten lang, ganz ruhig und unaufgeregt in Lenzscher Manier daherkommt und dennoch eine Wucht entfaltet wie die Brandung im Sturm. „Schweigeminute“ erschien 2008, zwei Jahre nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Liselotte. Als Liselotte nach 57 Ehejahren starb, stürzt Siegfried Lenz in eine Lebens- und Schreibkrise. Ulrich Greiner erzählte er in der „Zeit“ (Interview vom 14. Mai 2008):

„Meine Frau hat noch die ersten dreißig, vierzig Seiten der Schweigeminute gehört. Wir haben es immer so gehalten, dass ich ihr vorgelesen habe. Sie war sehr einverstanden damit. Dann starb sie. Ich habe später zweimal versucht, die Geschichte wiederaufzunehmen. Ich hatte den Eindruck, dass es katastrophal missglückte. Es ging so weit, dass ich glaubte, die Imagination habe mich verlassen. Aber dann, mit der Zeit, hat es sich wieder geregelt. Eine Freundin hat mir unendlich viel geholfen. So ist es doch geglückt. Ich möchte sagen, dieses Buch war meine Selbstrettung. Und jetzt höre ich von einem Pädagogen, dass er schon im nächsten Jahr dieses Buch als Abiturprüfungsbuch verwenden möchte.“

Gewidmet ist das Buch jener Freundin und Nachbarin, Ulla, die Lenz aus der Krise half und die er 2010 heiratete. So markierte „Schweigeminute“ im Leben des Schriftstellers ein Abschiednehmen und einen Neubeginn zugleich. Und einen Höhepunkt im literarischen Schaffen: 80 Jahre alt wurde Lenz, bis er erstmals eine reine Liebesgeschichte schrieb – eine Erzählung, über die sich Marcel Reich-Ranicki in der FAZ 2008 so äußerte:

„Stella, die Ältere, die über mehr Erfahrungen verfügt, sieht alles skeptischer. Um aber Christian ihr Einverständnis zu erkennen zu geben, sagt sie ihm: „Du musst dir nun überlegen, was besser ist für uns … Es kann nicht so sein wie früher.“ Was immer sie im Sinne haben – sie sind zart zueinander, so zart, wie der Autor dieser Liebesgeschichte zu seinen Geschöpfen ist. Wir haben meinem Freund Siegfried Lenz für ein poetisches Buch zu danken. Vielleicht ist es sein schönstes.“

Ein poetisches Buch, wie wahr: Da ist Christian, der 18jährige, der sich in seine nur wenige Jahre ältere Englischlehrerin Stella verliebt. Sie tanzen nur einen Sommer lang – eine Liebe, die unmöglich scheint, an den gesellschaftlichen Konventionen zu scheitern drohte, wäre ihr nicht ein ganz anderes Ende vorgegeben. Stella verunglückt tödlich auf einem Schiff, „Polarstern“ ausgerechnet dessen Name. Denn in gewisser Weise ist die Ältere für Christian ein Leitstern, ein Fixpunkt. Viel ist von englischer Literatur die Rede, verknüpft mit Politik, gelesen wird Orwells „Farm der Tiere“. So erzählt Lenz im hohen Alter nicht nur von der ersten Liebe, die meist so prägend ist, sondern insgesamt von der Entwicklung der Persönlichkeit eines jungen Mannes. Dazu nochmals aus dem Zeit-Interview:

„Die Wahl fiel deshalb auf den jungen Mann – auch in anderen Büchern, der Deutschstunde zum Beispiel –, weil das Erzählen für mich gleichbedeutend damit ist, leben zu lernen. Mir klar zu werden über dieses unglaubliche Dickicht des Lebens. Erzählen ist eine Selbstbefreiung. Erzähl es, damit du es besser verstehst! Darum delegiere ich den Impuls des Erzählens an einen jungen Menschen, der im Prozess des Erzählens zu sich selbst kommt und zu leben lernt.“

Christian, der bei der Trauerfeier für die Schüler sprechen soll, verweigert sich dem: Zu nahe stand ihm die Verunglückte, zu tiefe Wunden riss ihr Tod. Doch er lernt danach, schreibend das Schweigen zu brechen, mit dem Verlust umzugehen – so wie für Lenz die „Schweigeminute“ eben selbst auch eine Unterbrechung des Erzählens geworden war, ein Weg von der Stille der Trauer zur Wiederaufnahme des Lebens, des Schreibens. Ein Buch, ein Mann, der Hesses „Stufen“ geradezu verkörpert. Dem jeden Anfang liegt ein Zauber inne.

Unweigerlich frägt man sich, wie diese Liebe hätte weitergehen können, ob die Liebe ein genügend starker Damm gegen die Wellen der Empörung gewesen wäre, wie sie miteinander hätten leben, lieben, lachen können. Ob das Ungleichgewicht – Stella vor allem, selbst überrascht von ihrer Zuneigung zu dem Schüler, ringt um ihre Autorität als Lehrerin, gibt sich in der Schule distanziert -, die Differenz der Jahre hätten überwunden werden können. Man wird es nicht erfahren. Und doch verflucht man beim Lesen die Urgewalten des Meeres, betrauert man den Tod – so sehr wünschte man sich auch, dass Christian und sein Stern, seine Meerjungfrau von der Vogelinsel beieinander hätten bleiben können. Die Liebe, sie endet dennoch nie.

So schmal das Buch, so dicht gewebt die Motive. Heinrich Detering in der FAZ am 21. Juni 2008:

Nicht um Wildnis und Zivilisation geht es hier, sondern bloß um Hafen und Vogelinsel, um das Steinriff in der Wassertiefe, um Windstille und Sturmböen am Badestrand; nicht um die Liebe als Feuersbrunst, sondern bloß um den kleinen Brandfleck auf dem Bettlaken. Der einfache Umstand, dass der Vater des Erzählers als „Steinfischer“ Felsbrocken aus den Fahrrinnen heraufholt und Molen aufschüttet, macht auf die lässigste Weise so Hemingwaysche Sätze möglich wie die Erläuterung gegenüber einem schottischen Besucher: „We are only fishing for stones.“

Die Kuhle im Kopfkissen – das ist das äußerste, was Lenz an den körperlichen Spielformen der Liebe beschreibt. Das mag, wo nichts mehr als unbeschreibbar erscheint, wo Seelen- und Körperstriptease zum täglichen medialen Programm gehört, mit dem wir konfrontiert werden, altmodisch erscheinen. Und dennoch liegt in dieser Kuhle gerade die tiefste Zärtlichkeit, die ein Schriftsteller seinen Figuren widmen kann. Es ist, als rieche man noch den Duft der Liebenden im Kissen.

Noch einmal Heinrich Detering zur Erzählkunst des Siegfried Lenz:

„Die Romane, die Siegfried Lenz seit der „Deutschstunde“ veröffentlichte, haben ihrem Autor bis heute eine zweischneidige Popularität eingebracht. Der Rückzug in zeitferne Gegenwelten und eine Neigung zum Bedächtigen, wenn nicht Betulichen, die manche Leser entzückten, haben die Literaturkritik oft auf skeptische Distanz gehen lassen; eher höflichen Respekt als Neigung hat sie diesem Schriftsteller seither weithin entgegengebracht. Gegen diese wohlwollende Unterschätzung ist beharrlich daran zu erinnern, dass Lenz in seinen kurzen Erzählungen die amerikanische short story so stilsicher adaptiert und mit einer genuin deutschen Novellentradition zusammengeführt hat wie kein zweiter Autor seiner Generation, vom Frühwerk bis in Erzählungen wie „Ein Kriegsende“ von 1984.

Wer immer schon der Ansicht war, dass Lenz’ eigentliche Stärke in diesen Erzählungen kurzen und mittleren Umfangs liege, kann sich durch diese Novelle bestätigt finden. Meisterhaft ist sie in einem ganz handwerklichen Sinne. Und ebendeshalb erreicht sie so sicher jenen Punkt, an dem die stupende Präzision der pièce bien faite umschlagen kann in die Magie des Geschichtenerzählens. Altmodisch? Modern? Die alten Streitvokabeln der Lenz-Liebhaber und -Kritiker verblassen vor dieser souveränen Lakonie. Darin liegt das eigentlich Wunderbare dieses Buches: Es ist eine einfache Geschichte.“

Siegfried Lenz, der am 7. Oktober verstorben ist, hinterließ mit „Schweigeminute“ nicht nur eine wunderbar einfache Geschichte, sondern tatsächlich, wie Marcel Reich-Ranicki schrieb, sein poetischstes Werk. Man darf dankbar sein, dass er letzten Endes nach so langem Schweigen auch von der Liebe erzählt hat.

Wsewolod Petrow: “Die Manon Lescaut von Turdej”

- Ein Gastbeitrag von Klaus Krolzig -

“Ich setzte mich erneut ans Feuer, aufgewühlt von dem, was passiert war. Im Grunde war nichts passiert. Ich dachte daran, wie leer mein Dasein war, und daran, daß das Leben für sich allein genommen nichts ist, eine glatte gerade Linie, die in den Raum flieht, eine Fahrspur auf einem Schneefeld, ein verschwindendes Nichts. “Etwas” beginnt dort, wo die Linie andere Linien kreuzt, wo das Leben ein fremdes Leben betritt. Jede Existenz ist unbedeutend, wenn sie in niemandem und in nichts gespiegelt wird. Der Mensch existiert nicht, solange er sich nicht im Spiegel gesehen hat.”

Wsewolod Petrow, “Die Manon Lescaut von Turdej”

Ich habe schon lange nicht mehr so eine wunderbar traurige und schöne Liebesgeschichte gelesen, wie sie von dem russischen Schriftsteller Wsewolod Petrow in der so leichten und so virtuosen Novelle “Die Manon Lescaut von Turdej” erzählt wird.

Die Novelle lehnt sich an die Geschichte der echten Manon Lescaut von Abbé Prévost (1731) an. Um aber diese hinreißende und bittere Liebesgeschichte, die vor dem Hintergrund einer bewußt verallgemeinerten, fast bis zur Unkenntlichkeit reduzierten Kriegslandschaft spielt, mit Vergnügen und Mitgefühl zu lesen, braucht man so gut wie keine Vorkenntnisse in der Geschichte der russischen und der Weltliteratur. Es wird die Liebesgeschichte eines jungen Paares erzählt, das mit einem Lazarettzug der Sowietarmee von einem Kriegsschauplatz zum nächsten zieht. Der Name der Manon Lescaut steht für Liebe, Schönheit, Betrug und Unglück. Vordergründig geht es allein darum in dieser nur 100 Seiten langen Erzählung, der Krieg besiegelt schließlich das Schicksal der beiden Protagonisten. In dem klugen Nachwort des Übersetzers erfährt aber der Leser, daß gerade in den Auslassungen eine Kritik an Stalin unüberhörbar ist.

Diese “Kleinod” lag genau sechzig Jahre lang in Petrows Schublade. Erst 2006 wurde sie in einer Moskauer Zeitschrift veröffentlicht. Nun liegt die erste Übersetzung dieser wunderbaren Novelle auch dem deutschen Leser vor. Die “Frankfurter Rundschau” hat die Übersetzung zurecht als “mittelschwere Sensation” bezeichnet und dem Weidle-Verlag kann man nicht genug dafür danken.
Klaus Krolzig

#LawAndLit: Die schwarze Spinne von Jeremias Gotthelf

Das Projekt: #LawAndLit, ein Literaturprojekt von 54books und texteundbilder. Recht und Literatur, Werke, in denen es um Recht und Gerechtigkeit geht – erlesen an einigen Werken der Weltliteratur, von lesenden Juristen und Nichtjuristen. Mehr zum Projekt, der Leseliste und den bereits erschienenen Besprechungen gibt es hier: http://www.buchguerilla.de/lawandlit/

Meine Wahl: „Die schwarze Spinne“ von Jeremias Gotthelf (1797-1854). Mit Fokus auf: Den rechtlichen Ausnahmezustand. Als Nichtjuristin meinte ich, diesen Rechtsbegriff evt. fassen zu können. Als Leserin schien es mir, eine Novelle wäre schnell umrissen. So kann man sich selber ein Bein stellen.

Die Novelle und ihr Autor: Jeremias Gotthelf (1797-1854) ist ein Pseudonym. Tatsächlich als Albert Bitzius geboren, studierte der Sohn eines reformierten Pfarrers ebenfalls Theologie und wurde Seelsorger. Sein erstes Buch veröffentlichte er erst als 40jähriger. In Romanen wie „Uli, der Knecht“ und „Uli, der Pächter“ beschreibt er eindringlich die Situation der Schweizer Bauern, deren Notlage und Knechtung. Sein literarischer Rang wurde von Gottfried Keller, Walter Muschg und Thomas Mann hervorgehoben. Seine (politischen) Folgerungen aus dem Elend der Landbevölkerung stehen jedoch auf einem anderen Blatt: Gotthelf sah seine Bücher als Teil einer Seelsorge, die christlich-karitativ-konservativ war. Sein Ideal war der fleißige, redliche und gottesfürchtige Landmann, dem in aller christlicher Demut geholfen werden musste. Auch fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen sind in Teilen des Werkes dieses dichtenden Priesters spürbar. Sehr deutlich wird diese Grundhaltung an der Rahmennovelle „Die schwarze Spinne“, die 1843 erschien.

Bild1Die Handlung: Zunächst wähnt man sich in der idyllischen, behaglichen Schweiz. Eine Kindstaufe wird gefeiert, die Sonne lacht, alles ist festlich vorbereitet. Nach dem Kirchgang trifft sich die Taufgesellschaft zum Schmaus im schmucken Heim, die Tische biegen sich unter den leckeren Köstlichkeiten, man speist, man trinkt, man lässt es sich gut sein.

In diese wonnige Rahmenhandlung bettet Jeremias Gotthelf eine gruselige Legende ein, die beim Lesen durchaus auch zu packen vermag – die Schauergeschichte  von der schwarzen Spinne. Nachdem der alte Hofherr die Geschichte erzählt hat, will der Taufgesellschaft das Essen nicht mehr munden – so schauerlich ist die Mär:

 „Hell glänzten auf dem Tische, frisch gefüllt, die schönen Weinflaschen, zwei glänzende Schinken prangten, gewaltige Kalbs- und Schafbraten dampften, frische Züpfen lagen dazwischen, Teller mit Tateren, Teller mit dreierlei Küchlene waren dazwischen gezwängt, und auch die Kännchen mit den süßen Tee fehlten nicht. So war ein schönes Schauen, und doch achteten sich alle desselben wenig; aber alle sahen sich um mit ängstlichen Augen, ob nicht die Spinne aus irgendeiner Ecke glitzere oder gar vom prangenden Schinken herab sie anglotze mit giftigen Augen.“

Sechs Jahrhunderte zuvor wurden die Bauern dieses Tals von den Kreuzrittern eines Ordens, der sich dort niedergelassen hatte, zu harten Frondiensten gezwungen. Die Ritter „gingen mit andern Menschen um, als ob kein Gott im Himmel wäre“. Den Bauern selbst fehlt der „Mut zu rechtem Zorn, denn Not und Plage hatte den Mut ihnen ausgelöscht, so daß sie keine Kraft mehr zum Zorne hatten, sondern nur noch zum Jammer.“

In einer besonderen Notlage bietet der Teufel seine Hilfe an – nur dieser „vermaß sich zu schwerer Rache gegen solche Tyrannei“. Was er dafür will: Ein ungetauftes Kind.

Besser verhungern, als mit dem Gehörnten solch ein Geschäft eingehen, meinen die Bauern zunächst – doch als gar nichts mehr geht, nimmt die Sache eine tatkräftige Frau in die Hand. Eine angeheiratete „Lindauerin“, die Verkörperung der Fremden also:

„Ein einzig Weib schrie nicht den andern gleich. Das war ein grausam handlich Weib, eine Lindauerin soll es gewesen sein, und hier auf dem Hofe hat es gewohnt. Es hatte wilde, schwarze Augen und fürchtete sich nicht viel vor Gott und Menschen.“

Sie, die Außenseiterin, ist die Einzige, die sowohl gegen die Grausamkeit der Ritter aufbegehrt als auch meint, den Teufel betrügen zu können – indem man mit ihm zum Schein den Handel eingeht, ihm den Lohn dafür, das ungetaufte Kind, jedoch vorenthält.

Es kommt, wie es kommen muss: Der Teufel lässt mit sich keinen Schabernack treiben. Als ihm ein Neugeborenes verwehrt bleibt, besetzt er die „Lindauerin“ – aus ihrer Wange schlüpft eine scheußliche Spinne, die schließlich umstandslos einen Großteil der Dorfbevölkerung meuchelt. Erst einer jungen Frau gelingt es, die Spinne im Loch eines Holzbalkens einzusperren, das Dorf bekommt Ruhe, erfährt wieder bessere Zeiten.

Die Moral von der Geschichte: Wer, auch in der größten Not, mit dem Teufel paktiert, bekommt eins auf die Mütze. Gotthelf ist es jedoch nicht genug, dies in der Novelle einmal zu betonen – er bettet eine zweite Erzählung ein, der Verlauf ein ähnlicher: Rund 200 Jahre später herrschen auf dem Hof Hoffart, Verschwendung, Faulenzerei, verursacht wieder durch Frauen und fremde Elemente. Die Spinne entkommt, das Grauen beginnt erneut, bis erneut einer den Mut und das Glück hat, das Monster in den Balken zu bannen.

Und dort verharrt das Böse auch zu Zeiten der Rahmenerzählung, die mit diesen Worten endet:
„Bald war es still ums Haus, bald auch still in demselben. Friedlich lag es da, rein und schön glänzte es in des Mondes Schein das Tal entlang; sorglich und freundlich bar es brave Leute in süßem Schlummer, wie die schlummern, welche Gottesfurch und gute Gewissen im Busen tragen, welche nie die schwarze Spinne, sondern nur die freundliche Sonne aus dem Schlummer wecken wird. Denn wo solcher Sinn wohnet, darf sich die Spinne nicht regen, weder bei Tage noch Nacht. Was ihr aber für eine Macht wird, wenn der Sinn ändert, das weiß der, der alles weiß und jedem seine Kräfte zuteilt, den Spinnen wie den Menschen.“

Fazit: Zwei Grundfragen stellten sich mir in dieser Novelle.

Erstens: Gibt es in einer Ausnahmesituation, in der die geknechteten Bauern zu Beginn der Binnenerzählung sich befinden, ein Recht auf Widerstand?

Zweitens: Ist dann jedes Mittel, auch ein betrügerisches Bündnis mit gefährlichen Partnern, recht und rechtens?

Bild3Gotthelf selbst beantwortet die erste Frage nur indirekt, aber negativ:Der Spinne fallen auch die Ritter zum Opfer, da „Gott mit gleicher Kraft über jedem sei, der von ihm abfalle, sei er Bauer oder Ritter.“ Allein Gott also ist es zugebilligt, zu richten – in der christlichen Auffassung Gotthelfs, davon muss man ausgehen, hätten die Bauern ihr Leid klaglos zu ertragen gehabt. Ein Recht auf Widerstand gibt es in diesem Sinne nicht, Gutes erfährt, wer sein Leben führt „in Gottesfurcht und Rechttun“.

Ganz eindeutig beantwortet die Erzählung die Frage nach den Mitteln: Falsch, falsch, falsch. Wer Böses mit Bösem zu bekämpfen versucht, auf den lässt Gotthelf nicht nur die Spinne los, sondern auch Blitz und Donner kommen. In der fürchterlichsten Szene sausen, brausen und tosen die Naturgewalten, „als sollten diese Töne zusammenschmelzen zur letzten Posaune, die der Welten Untergang verkündet.“ Denn: „Wer mit dem Bösen sich einlasse, komme vom Bösen nimmer los und wer ihm den Finger gebe, den behalte er mit Leib und Seele. Aus diesem Elend könne niemand helfen als Gott; wer ihn aber verlasse in der Not, der versinke in der Not.“

Weniger die Frage nach den Rechten zur Gegenwehr und Widerstand, denn die Schuldfrage wird also thematisiert: Dem Dorf wird nicht das Recht zugestanden, gegen das Übel der Unterdrückung vorzugehen. Schon durch das Aufbegehren macht man sich schuldig. Zudem führt eine unrechte Handlung zur nächsten, am Ende sind alle in Schuld verstrickt. Das Kollektiv, zunächst noch hinter der „Lindauerin“ stehend, bricht rasch auseinander, als die ersten Übel geschehen. Die Fremde ist der geeignete Sündenbock, ein Muster, das sich auch in der zweiten Erzählung gewissermaßen wiederholt. Letztendlich liegt die Lösungskompetenz in Gotthelfs Augen allein bei einem – seinem christlichem Gott, dem obersten Richter.

Dass die Novelle in ihrer Zeit zu sehen ist, dass zudem Herkunft und Haltung ihres Verfassers zu berücksichtigen sind – das ist keine Frage. Würde sie man daher nur aus literarischer Sicht betrachten, wäre sie tatsächlich recht bemerkenswert, allein wegen der Sprachgewalt, mit der das Schrecklich-Schaurige über den Leser hereinbricht.

Was ihre inhaltliche Substanz anbelangt: Trotz anfänglicher Lese- und Schreibhemmung bin ich nun denn doch froh, am #LawAndLit – Projekt teilgenommen zu haben.

Die Frage nach dem Recht im Ausnahmezustand habe ich in der Auseinandersetzung mit der engen Auffassung Gotthelfs in die Frage nach dem Recht auf Widerstand umgewandelt. Dieser konservative Kodex, der den Bauern letztendlich keine Gegenwehr gegen die Ausbeutung durch willfährige Gutsherren zugesteht, fügt sich schlecht in die Auffassung von der Gleichheit der Menschen. Das Dorf befindet sich in einem Notstand – wenn Menschen- und Grundrechte jedoch ständig missachtet werden, dann ist auch ein Recht auf Widerstand gegeben.

Mit dem Bewusstsein, was heute in der Ukraine geschieht, was sich seit 2011 in Syrien abspielt, was in Ägypten geschah oder – fast schon wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden – 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens, aber auch zurückdenkend an die Ereignisse, die zum Fall der Mauer führten: Das Recht auf Widerstand gegen unerträgliche Verhältnisse kann und darf, wie der Schweizer es schreibt, nicht nur „gottgegeben“ sein.

Die zweite Frage jedoch, die die Novelle aufwirft, ist meines Erachtens noch schwieriger zu beurteilen: Wenn Widerstand vonnöten ist, welche Mittel sind erlaubt?

Zur Beitragsübersicht im Rahmen von #LawAndLit: http://www.buchguerilla.de/uebersicht/

 

Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren (2013).

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Cover: C. H. Beck Verlag

„Preising war ob seiner eigenen Erzählung ganz betrübt. Alles hing ihm aus dem Gesicht. Die traurige Nase, die trockenen Lippen, die wässrigen Augen. Darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. „Was hast du damit bewiesen?“ fragte ich ihn unerbittlich. Ein verborgenes Wissen und Kümmernis über ebendies schien in seiner Antwort zu liegen. „Du stellst schon wieder die falsche Frage“, sagte Preising.

Jonas Lüscher, „Frühling der Barbaren“, C. H. Beck Verlag, 2013

Die Finanzwelt frisst ihre Kinder – angesichts der Suizidwelle unter Topmanagern in den vergangenen Wochen erscheint das literarische Debüt von Jonas Löscher geradezu von prophetischer Aktualität. Löscher wählte für seine Betrachtung der menschlichen Gier und Grenzenlosigkeit die Form der Novelle. Diese setzt er so meisterlich um, Goethe hätte mit den Ohren geschlackert. Dass einer derart fulminant schreibt, ist schon an sich eine „unerhörte Begebenheit“ - so wie sie die Novellentheorie vorsieht. Darüber hinaus alle Novellen-Regeln beachtet: Eine in sich geschlossene Rahmenhandlung, die die Zukunft der handelnden Personen im Ungewissen belässt, der distanzierte Erzähler, das Ding-Objekt – wie aus dem Lehrbuch. Auch wenn das Feuilleton jubiliert – gerade diese formale Perfektion, dieses gelungene Gesellenstück brachte mich ins Stutzen. Der Zweck erfüllt, aber wo ist die Moral? Dazu später mehr.

Quasselstrippe und Pappfigur

Der Inhalt von „Frühling der Barbaren“ ist kurz erzählt. Die Rahmenhandlung spielt in einer psychiatrischen Klinik. Der auktoriale, allwissende Erzähler erfährt die Geschichte eines wüsten Trips, eines Wüsten-Trips. Sein geschwätziger Gesprächspartner: Ein „Unternehmer“, der nichts unternimmt, der zur Handlung unfähig ist, der Verantwortung ablehnt. Dieser, Preising, steht der ererbten Firma quasi nur noch als repräsentative Pappfigur vor. In dieser Funktion landet er im Hotel der Tochter eines Geschäftspartners in der tunesischen Wüste.

Dieser eigentliche Kern der Handlung wird in einem fast logorrhöischem Monolog fabuliert, unterbrochen nur von kurzen, distanzierenden Anmerkungen des auktorialen Erzählers. Die Zwischenszenen lassen die Geschwätzigkeit des Preising umso deutlicher hervortreten. Man merkt dem Text zwischen den Zeilen an: Selbst der Autor mag seine Hauptfigur nicht so richtig. Ihn habe die Idee gereizt, über einen zu schreiben, der nicht handelt, so Lüscher in einem Interview. Das ist ihm gelungen – und ebenso gelungen ist es, keinen eindeutigen Sympathieträger zu zeichnen, kein Schwarz und Weiß. Alle der auftretenden Figuren sind zweideutig in Haltung und Handlung.

So gibt Preising in seiner Handlungsunfähigkeit, mit seinen Zweifeln und seiner Skepsis, den Gegenpart ab zu „Quicky“, einem rabiaten Bankmanager, der am Ende die scheinbar Zivilisierten als Anführer in die Barbarei treibt. In bester Novellenmanier verfolgt die Erzählung einem klassischen Aufbau: Preising also landet im „Thousand and One Night Resort“. Dort laufen die Vorbereitungen zu einer luxuriösen Hochzeit. Das Brautpaar ist in der Londoner Finanzwelt beheimatet, gefeiert wird mit Glanz, Gloria und 70 aus England importierten Gästen. Preising beobachtet die Gruppe von außen – je gedeckter die Farben der Kleidung, desto gedeckter der Scheck, für amüsante Farbtupfer in der Erzählung sorgen die verunsicherten Verwandten aus dem britischen Arbeitermilieu.

Die Blase platzt

Der in der Novelle vorgesehene Wendepunkt kommt, als England seinen Staatsbankrott erklärt. Der jeunesse dorée wird die geplatzte Blase zum Verhängnis. Zurück bleiben, im wahrsten Sinne des Wortes, nur Schutt und Asche. Alles löst sich in einer grandiosen Barbarei auf, wird in die Luft gejagt. Ein Leitmotiv dabei: das gequälte Kamel, von einigen Rezensenten als Ding-Symbol identifiziert. Kann ein Kamel ein Ding sein? Ich weiß es nicht. Als Symbol ist es in der Novelle vorhanden – als Kreatur, die ständig unter die Räder kommt.  Das Ding-Symbol an sich jedoch ist in dieser Erzählung das allgegenwärtige Handy – die Fußfessel unserer Zeit, der Fluch der ständigen Erreichbarkeit. Der Kündigung kann man „dank“ Blackberry, Smartphone, i-pod auch in der Wüste nicht entkommen – es sprengt die Hochzeitsnacht, es verwandelt per Funksignal zivilisierte Europäer in Barbaren.

Die Wüste, durch Saint-Exupéry und andere, zum Sehnsuchts- und Rückzugsort meditationswilliger Europäer stilisiert, wird zum Schrottplatz und Schlachtfeld. Den Wunsch nach „Wüsteneinsamkeit“: Das haben uns die Schriftsteller in jüngerer Zeit gründlich ausgetrieben. Erst der viel zu früh verstorbene Wolfgang Herrndorf mit seinem Roman „Sand“ (der mir jedoch zu zerfasert, zu versandelt war), jetzt Lüscher mit seiner Novelle.

Actionfilm und Kintopp

Lüscher führt durch dieses wüste Chaos mit in einer geschliffenen Sprache, die einen Sog ausübt, die zieht, die packt. Sprachlich meisterhaft, doch stellenweise zu plakativ, zu sehr Kintopp. Spürbar wird, dass der Autor jahrelang in der Filmindustrie gearbeitet hat. Das Ausweiden eines Kamels, das macht sich sicher gut auf der Leinwand – in der Novelle, die sowieso ständig zwischen Realität und Farce schwankt, ist es ein Ticken zuviel, schwenkt den Fokus zu sehr Richtung Actionfilm.

Ein meisterhaft angerichtetes amuse gueule

Mir ist bewusst, ich stelle – nach Preising – die falsche Frage. Und doch drängt sie sich mir auf: Wo ist die Moral, was ist die Erkenntnis? Bei allem Jubel über die Kunstfertigkeit dieses literarischen Neuankömmlings – ich haderte nun einige Tage mit diesem Buch. Die formale Kunstfertigkeit, der stilistische Esprit überpinseln ein Manko dieses Textes: Auch wenn er wirtschaftspolitisch hochaktuell ist, inhaltlich bietet er nichts Neues. Die Erzählung zeigt: Der Mensch, nimmt man ihm die Grundlagen und seine Rückversicherung, der wird zum Tier. Ob und was Preising, Quicky & Co. gelernt haben, lässt Lüscher offen. Dass der Mensch jedoch des Menschen Wolf ist, müsste ohnehin nicht mehr eigens betont werden – das wird bei dieser Abenteuergeschichte mit zum Teil absurden Elementen großformatig an die Leinwand geworfen. Aber die Erkenntnis, dass Hochmut vor dem Fall kommt, dass der Tanz auf dem Vulkan in der Katastrophe endet - auch das ist eine Erfahrung, von der uns die Geschichte zeigt: Der Mensch als Masse lernt nichts. Die Folgen der Finanzkrise – sie werden bald vergessen sein. Eine Änderung des Systems wird es nicht geben. Nicht bevor die Wüste ausgreift. Die Anti-Zivilisierung der Menschheit – in Umkehrung von Norbert Elias – ist ein genetischer Defekt, der von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Insofern lässt mich dieses Stück Literatur ratlos zurück. Und unbefriedigt. Wie ein wunderbares amuse gueule. Es sättigt nicht. Man hofft auf mehr. Spannend wird es daher sein, noch Weiteres von diesem Autoren zu lesen – vielleicht auch seine Dissertationsarbeit. Ihr Sujet: Inwieweit ist Literatur dazu geeignet, komplexe soziale Probleme zu beschreiben?