Edith Wharton: Dämmerschlaf (1923).

2015-04-19 10.45.44

„Dexter war in die Kanzlei aufgebrochen, ohne noch einmal nach ihr zu sehen; so wie am Abend zuvor die Fahrt hin zu den Toys und zurück verlaufen war, hatte sie fast damit gerechnet. Wenn er einen seiner Anfälle verkniffenen Schweigens hatte – und die wurden immer häufiger, wie sie bemerken musste -, war es zwecklos, sich einzumischen. Nachklänge aus Freuds Lehren, vielleicht etwas verworren ausgelegt, hatten ihren Glauben an die Heilsamkeit eines klärenden Gesprächs gefestigt, und sie hätte Dexter diese Medizin gerne aufs Dringendste empfohlen, aber beim letzten Mal hatte er sie mit der verletzenden Antwort abgefertigt, ein Abführmittel sei ihm lieber.“

Nun, Pauline Manford hat Mittel (auch in finanzieller Hinsicht) und Wege genug, um dieses Problem der fehlenden kommunikativen Achtsamkeit zu lösen. Mit etwas Lektüre von Dale Carnegie und Dr. Joseph Murphy schöpft sie ihr Unterbewusstsein als die wahre Quelle ihres Reichtums aus, ein Seminar in positivem Denken führt zu mentalem Positivismus, dazu eine Prise neurolinguistisches Programmieren, sowie einige Gespräche mit dem Trainer für Selbstoptimierung und für den programmatischen Überbau etwas Philosophie light mit Richard David Precht: Schon ist man wieder gerüstet für das nächste Society-Event, den nächsten Wohltätigkeitsball.

Uuups…da bin ich ein paar Jahrzehnte verrutscht. Um zu zeigen, wie modern Edith Whartons einziger satirischer Roman „Dämmerschlaf“ auch heute noch ist. Die Erzählung einer Familie der New Yorker „Oberen Zehntausend“ liest sich so frisch, als spielte er in der Jetztzeit. Also nicht, dass ich persönlich mich in diesen Kreisen bewegen würde – was aber in den „Goldenen Zwanzigern“ wohl ein Wohlstandsphänomen war, ist heute ein Massenphänomen in einer für viele gesättigten, ziellosen, orientierungslosen Zeit: Das Fieber der Selbstoptimierung. Die Suche nach dem mentalen Führer. Wo keine anderen Sorgen mehr spürbar sind, widmet man sich der eigenen „Achtsamkeit“ (mein Pfui-Wort des Jahres – aus Erfahrung sind dies meist die egozentrischsten, unachtsamsten Menschen), wo Wohlstandslangeweile vorherrscht, feilt man an seinem kleinen Ego.

„Dämmerschlaf ist eine Satire auf die besseren Kreise New Yorks. Schmerzfrei durchs Leben zu kommen, dabei stetig nach vorn zu schauen und an der Optimierung der eigenen Person, vor allem des eigenen Körpers zu arbeiten, damit weder große Gefühle noch Krankheit und Tod einem die Laune verderben – das sind die Themen dieses Romans. Nehmen wir die anderen Topoi dazu (…), dann schauen wir auf eine Gesellschaft, die uns bekannt vorkommt“, schreibt Verena Lueken in ihrem Nachwort zu diesem Roman, der 1927 erschien und nun vom Manesse Verlag in neuer Übersetzung (hervorragend: Verena Ott) herausgegeben wurde.

Das Buch war für die durchaus erfolgsverwöhnte Schriftstellerin Edith Wharton kein verkaufsträchtiger Meilenstein – wie Verena Lueken meint, lag dies wohl daran, dass Wharton zuvor ihre scharfe Zunge vor allem nur an Vergangenem gerieben hatte – dass sie in „Dämmerschlaf“ ein Milieu der Gegenwart erheiternd und bitterböse beschrieb nahm dieses Milieu, das die Autorin nur zu gut kannte, ihr übel. Aber wer möchte denn schon bei der Befragung des Spiegels nach der/dem Schönsten, Reichsten, Besten, Schnellsten im ganzen Lande das eigentliche Spiegelbild vorgehalten bekommen? Das wäre denn doch das Ende der Selbstoptimierung…

Letztendlich nützt das scheinbar beste Korsett aus Psychogeschwafel, Positivem Denken und einem wohlgefüllten Terminkalender, der zum Nachdenken keine Pause lässt, jedoch nichts, wenn das Leben zuschlägt – dies in Form der kleinen, amoralischen Lita, der „femme fatale“ des Romans, die das Lügengebäude mit zarter Hand zertrümmert.

Das Leben gescheitert, die Liebe gescheitert: Emotional und moralisch sind am Ende alle bankrott so wie zuvor. Und es bleiben nur die letzten, alten Ängste.

„Tiefer als all ihre eklektische Religiosität, tiefer als ihr Stolz auf den Empfang des Kardinals, tiefer als die vielen vordergründigen Widersprüche und Verrenkungen eines schon ganz ausgeleierten Gewissens, saß die nackte, altbekannte puritanische Angst vor dahingleitenden Priestern und Weihrauch und Götzendienerei, und Nona sah mit leichtem Lächeln, wie sie sich an die Oberfläche des Gesichts ihrer Mutter stahl. Vielleicht war diese nackte Angst der einzige ursprüngliche Charakterzug, der ihr noch geblieben war.“

Edith Wharton, „Dämmerschlaf“: Ein lesenswerter, moderner und erfrischend satirischer Roman.
Manesse Verlag, 320 Seiten, 24,95 €, ISBN 978-3-7175-2172-3.

Im Manesse Verlag ist 2011 zudem erschienen „Ein altes Haus am Hudson River“ von Edith Wharton – mit dem streckenweise sehr elegischen Ton dieses Buches tat ich mir hingegen etwas schwer.
Thematisch verwandt und überdies ein ebenso funkelndes Stück Literatur ist zu „Dämmerschlaf“ der Roman „Die Party bei den Jacks“ von Thomas Wolfe („Schau heimwärts, Engel“), 2011, Manesse Verlag.

Verfasst von

Das Literaturblog Sätze&Schätze gibt es seit 2013. Gegründet aus dem Impuls heraus, über Literatur und Bücher zu schreiben und mit anderen zu diskutieren.

10 thoughts on “Edith Wharton: Dämmerschlaf (1923).

  1. „[…] was aber in den „Goldenen Zwanzigern“ wohl ein Wohlstandsphänomen war, ist heute ein Massenphänomen in einer für viele gesättigten, ziellosen, orientierungslosen Zeit: Das Fieber der Selbstoptimierung.“
    Ja, gut beobachtet und gesagt!

    „[…] und Nona sah mit leichtem Lächeln, wie sie sich an die Oberfläche des Gesichts ihrer Mutter stahl. “ - uhhu, mir grauset. Sprachlich großartig, aber diese Lektüre schiebe ich - des Themas wegen - lieber etwas auf.
    Schöne Besprechung, allerdings.

    Gefällt 1 Person

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