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Ruth Klüger: Zerreißproben (2013).

Aus dem Archiv - aus aktuellem Anlass:

Heute, 27. Januar, dem Tag der Befreiung von Auschwitz, hält Ruth Klüger im Deutschen Bundestag die Gedenkrede zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus.

 

Jom Kippur (Auszug)

Und jedes Jahr wie jedes Jahr
zehrt und zerrt der Hunger der Toten
an dem Fleisch der Lebendigen. Löset die Knoten!
Seid wie ein Kamm im verfilzten Haar.

„Auch hinter einem älteren Bruder, der die Naziherrschaft nicht überlebt hat, bin ich hergelaufen. Yom Kippur heißt der jüdische Fasten- und Versöhnungstag. In meiner Vorstellung sind die Toten aber nicht versöhnlich, weil sie uns nicht verzeihen, dass wir sie überlebt haben.“

Ruth Klüger, „Zerreißproben“, kommentierte Gedichte, erschienen beim Paul Zsolnay Verlag 2013

Das als Schuld empfundene Überleben – Ruth Klüger trägt diese Last ihr Leben lang mit sich mit. Wie andere Brandmale, Verletzungen und Ab-Stempelungen, seelisch und körperlich. Nicht nur durch die Nummer am Handgelenk bleiben die Opfer auch Jahrzehnte nach dem Holocaust gebrandmarkt und gepeinigt: „Denn die Folter verläßt den Gefolterten nicht, niemals, das ganze Leben lang nicht“, schreibt Ruth Klüger im ersten Teil ihrer Autobiographie, „weiter leben“ (deutsche Erstausgabe: 1992, Wallstein Verlag Göttingen). Erst in ihren 60igern entschließt sich Ruth Klüger dazu, „dieses Stück Mahnmal“ entfernen zu lassen.

„Da habe ich sie dann endlich auswendig gewußt, denn vorher hatte ich immer Mühe gehabt, sie mir zu merken: A-3537. Sie war immer nur eine Hundemarke in dem Sinne, daß die eigentliche Zahlenfolge bedeutungslos war und ich sie nie als eine Einheit empfunden habe, nicht einmal wie eine Haus- und Telefonnummer, warum sollte ich sie mir dann merken? Die Ziffern waren nur auf der Haut, nicht im Kopf. Nur als Tatsache, als Phänomen, als Zeichen waren sie wichtig, aber dann so sehr, daß man sie für die Toten anbehielt. Anbehielt? Wie ein Kleidungsstück?
Für die Buchhaltung in Auschwitz, wenn man diese makabren Genauigkeiten so nennen kann, war sie unnötig, denn ob markiert oder nicht, die Juden wurden vernichtet.“
(„unterwegs verloren“, Paul Zsolnay Verlag, 2008).

Ruth Klüger verfügt über einen klaren, analytischen Verstand, der vor keiner „Zerreißprobe“ zurückschreckt, der Innerstes offen legt, auch dieses in den familiären und freundschaftlichen Bindungen. Und ihr Verstand ist nicht korrumpierbar, nicht durch Sentiment manipulierbar: Davon zeigt auch das Ende ihrer jahrzehntelangen Freundschaft zu Martin Walser, dem sie in „Tod eines Kritikers“, Walsers Marcel Reich-Ranicki Aufarbeitungsroman, „geradezu klassische Muster der Diskriminierung“ vorwirft.

„Lieber Martin, seit wir uns vor 55 Jahren kennenlernten, ist viel Wasser in den Bodensee geflossen, und nicht nur heilig-nüchternes, für Hölderlins Schwäne zum Tunken geeignetes. Damals war die große Mordwelle gerade vorbei, und Deutschland stand am Anfang der großen Gleichgültigkeitswelle. Darauf folgte die Welle des triefenden Philosemitismus. Jetzt sieht es hierzulande nach einem Rückfall aus in das, was wir Juden in der Nazizeit ironisch-wehmütig >den guten, alten Riches von 1910< nannten, nämlich die gemäßigte Judenverachtung weiter Bevölkerungsschichten aller Klassen, mit der sich (scheinbar) leben ließ. In Deiner Friedenspreisrede hast Du über eine Moralkeule gejammert, mit der Ungenannte Dich und andere Deutsche bedrohen. Jetzt spielst Du >Sieger und Besiegte<, und dabei ist Dir selber unversehens die von Dir heraufbeschworene Keule in die Hände gerutscht, aber wo, bitte, steckt denn hier die Moral?” („unterwegs verloren“ – auch für diese Freundschaft gilt der Buchtitel, auch dies ein weiterer Verlust, denn: „Denn das Judesein ist kein Klub, aus dem man austreten kann.“).

Zeit wird es an dieser Stelle, die biographischen Fakten aufzureihen: Ruth Klüger wird 1931 in Wien geboren, die Eltern, „junge Menschen aus Arthur Schnitzlers Welt“, die Kindheit beinahe behütet – denn an viel kann sich Ruth Klüger später nicht erinnern aus dieser Stadt, in der sie die ersten elf Jahre verbrachte: Mit dem Judenstern an der Kleidung macht man keine Spaziergänge, schreibt sie trocken. Wien ist kalt, kinderfeindlich, „bis ins Mark judenfeindlich“. 1997 kehrt sie für einige Zeit nach Wien zurück, vor der Statue des heiligen Nepomuk kommen ihr einige Zeilen:

Am Bauernmarkt (Auszug)

Lieber Scheinheiler, mach was Fein`s:
nimm dich der jüdischen Kundschaft an,
damit ich nicht ertrinken tu am Bauernmarkt eins.

(In „Zerreißproben).

Denn die Rückkehr nach Österreich und Deutschland – Jahrzehnte später – bleibt, trotz mancher freundschaftlicher Verbindungen immer auch von „unsichtbaren Gefahren“ geprägt.

Im Alter von elf Jahren wird Ruth Klüger mit ihrer Mutter zunächst nach Theresienstadt, dann Auschwitz und Christianstadt deportiert. Der bewunderte Vater, der ältere Halbbruder – sie überleben nicht.

Mit einem Jahreszeitlicht für den Vater (Auszug)

Meine Kerze will dein Augenlid berühren,
wenn dein Aug´ sie auch nicht sehen kann.
Blinde Väter barfuß durch die Welt zu führen
steht sich leider nur für Königstöchter an.
Wind weht vom Stillen Ozean.

„Ich habe dieses Gedicht jahrelang mit mir herumgetragen und daran herumgebastelt. Ich habe es mir im Stehen und Gehen aufgesagt und es verändert. Jede Änderung war wie ein neues Hinterherlaufen (>mit kurzen Kinderschritten<). Es ist die Suche nach einem Vater – wenn man ein solches Hinterherlaufen eine Suche nennen kann -, den ich nicht gefunden habe. Wie sollte ich auch? Ich habe ihn als Achtjährige zuletzt gesehen und weiß nichts Wissenswertes über ihn. Eines habe ich allerdings im Laufe dieser Bemühungen wiederentdeckt und wiedergewonnen, nämlich die Muttersprache, mein österreichisch gefärbtes Deutsch.“ (Zerreißproben“)

Mit ihrer Mutter gelangt Ruth Klüger 1947 in die USA. Sie erkämpft sich, gegen mancherlei Widerstände, auch gegen materielle Not, gegen eine beklemmende Ehe ein Studium und macht ihren Weg als Germanistin, unter anderem lehrt sie an den Universitäten von Virginia, Princeton und in Irvine/Kalifornien. 1988 nimmt sie eine Gastprofessur in Göttingen wahr. Eine Annährung mit dem Land der Täter wird schrittweise wieder möglich. Mit ihren beiden autobiographischen Büchern „weiter leben“, das von der Kindheit in Wien und der Wirklichkeit in den Konzentrationslagern erzählt, sowie „unterwegs verloren“, das die amerikanischen Jahre und die deutsche Annährung schildert, wird Ruth Klüger auch im deutschsprachigen Raum als Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin bekannt. In den beiden Büchern finden sich auch bereits Hinweise auf die Gedichte – erste schrieb sie bereits 1944 im KZ – die sie ihr Leben lang verfasste.

2013 erschienen einige Gedichte eines Lebens beim Paul Zsolnay Verlag, von der Autorin selbst kommentiert – unter dem programmatischen Titel „Zerreißproben“.

„Ich möchte Gedichte vorstellen, die etwas mit meinem Leben zu tun hatten, und sagen, was es war. Oft war es etwas, was ich verdrängen wollte und das sich nicht verdrängen ließ.“

So handelt diese Lyrik von Verlusten und Ängsten, von den Erinnerungen an das Geschehen am Heldenplatz, die Kindheit in Wien, das Geschehen in den Lagern, aber auch von den späteren Jahren, dem „Scheidungsblues“, den Gefühlen für die eigenen Kinder – Ruth Klüger hat zwei Söhne – und natürlich auch von ihrem Beruf, der ungebrochenen Liebe zur deutschen Dichtung.

Deutsche Sprache (Auszug)

In diesen Lauten, die ich zu verlernen
versuchte, weil die spitzen Konsonanten
das wunde Fleisch der Kinderjahre kannten (…)

In diesen Lauten löst sich nun die schmale,
die Kinderstimme (…)

und zeigt mir (…) den Trost der klaren, offenen Vokale.

8 Comments »

  1. Liebe Birgit, wenn ich Dich nicht hätte, wäre mein Bücherregal um einige Schätze ärmer. Wieder einmal hast Du mir eine Autorin vorgestellt, die ich bislang nicht kannte. Das werde ich nun baldmöglichst nachholen. Frühherbstliche Grüße aus Greenwich, Peggy

    Gefällt mir

    • Liebe Peggy,
      die Beschäftigung mit Ruth Klüger lohnt sich in mehrfacher Hinsicht - sie ist nicht nur eine bewunderswerte, starke Frau - das zeigen ihre autobiographischen Bücher -, sondern auch eine hervorragende Literaturwissenschaftlerin. Und die Gedichte, die ja jetzt erst veröffentlicht wurden, haben mich auch sehr beeindruckt.
      Herzliche Grüße aus dem wieder hochsommerlichen Augsburg :-) Birgit

      Gefällt 2 Leuten

  2. Liebe Birgit,
    und wie immer, wenn ich die Gelegenheit habe, bei Dir zu lesen, wird mir vor Augen geführt, was es für mich noch alles zu entdecken gibt! Und gleichzeitig kann ich auch nur immer wieder betonen, deine Besprechungen sind so einfühlsam und interessant geschrieben, dass ich manchmal, so blöd wie das klingt, das Gefühl habe, so viel kennengelernt zu haben, was sonst eigentlich in der Kürze des Artikels gar nicht möglich ist.
    Herzliche Thüringengrüße an Dich von
    Birgit

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